Die seltsame Zivilisation

Von Fjordman. (Original: The Curious Civilization, Gates of Vienna 21. März 2011). Übersetzung: Lucifex.

Der angesehene Wissenschaftler Toby E. Huff veröffentliche Ende 2010 sein Buch Intellectual Curiosity and the Scientific Revolution: A Global Perspective, das mich zu diesem Essay inspirierte. Er war auch der Autor des modernen Klassikers The Rise of Early Moden Science: Islam, China and the West.

Als der chinesenfreundliche englische Wissenschaftler Joseph Needham die Geschichte der Wissenschaft unter den Chinesen recherchierte, war er schließlich zur Schlussfolgerung gezwungen, dass man „kaum von einer entwickelten Wissenschaft der Physik“ in China vor dem neuzeitlichen Kontakt mit Europäern sprechen kann. Ihm fehlten die systematischen Denker, auf die man in der Geschichte der Mechanik im mittelalterlichen Europa stößt, wo es eine etablierte Tradition der Diskussion über Aristoteles’ Vorstellungen zur Bewegung gab. Darunter sind Namen wie Philoponus, Buridan, Bradwardine und Oresme, die alle zu Entwicklungen beitrugen, die ihren Höhepunkt in Galileos Werk fanden. In China gab es keinen Galileo und auch keine Kepler’schen Gesetze der Himmelsbewegungen, die die Grundlage für Newtons große Synthese bildeten.

dunhuangchinesesky  Die kosmologische Sichtweise der Chinesen verband die Erde und vor allem die königliche Familie in organischer Weise mit dem Himmel und der spirituellen Welt. Das Fehlverhalten von Beamten und besonders des Kaisers selbst konnte Hungersnöte, Erdbeben, Dürren oder andere Naturkatastrophen zur Folge haben, weil sie das Missfallen der spirituellen Welt erregt hatten. In ähnlicher Weise wurden Anomalien am Himmel als Vorzeichen der Zukunft aufgefasst und konnten zukünftige Ereignisse vorhersagen, die nur dem Kaiser bekannt sein sollten. Aus diesem Grund gab es im kaiserlichen China eine starke Tendenz, die Himmelsbeobachtung unter dem Schleier der Geheimhaltung auf die offizielle Bürokratie beschränkt zu halten.

Die chinesische astronomische Theorie war verglichen mit jener der alten Griechen nie sehr hoch entwickelt, ganz zu schweigen von jener, die sich nach der wissenschaftlichen Revolution im modernen Europa entwickelte, aber auf streng praktischer Ebene hatten sie eine reiche Tradition der Himmelsbeobachtung, die direkt mit der Erstellung von Kalendern verbunden war. Wie Huff fragt: warum hatte die Ankunft des Teleskops mit den jesuitischen Astronomen nicht dieselbe befruchtende Wirkung auf die wissenschaftliche Forschung wie in Europa?

jesuitastronomers  Die Zahl der von europäischen Astronomen präzise katalogisierten Sterne stieg durch den Gebrauch des Teleskops während des siebzehnten Jahrhunderts auf mehr als das Dreifache. Aber trotzdem westeuropäische Augengläser um das sechzehnte Jahrhundert in bedeutenden Mengen in den Nahen Osten und bis nach China exportiert worden waren, führten Asiaten mit solchen Gläsern keine Experimente durch, die zu ihrer eigenen Konstruktion von Teleskopen geführt hätten. Noch seltsamer ist, dass asiatische Nationen, nachdem sie in den 1600ern mit dem europäischen Teleskop bekanntgemacht worden waren, überraschend langsam dabei waren, es für die Gewinnung neuer astronomischer Einsichten zu verwenden. Huffs provokante Behauptung lautet, dass sie an etwas litten, das er ein Neugierdefizit gegenüber den Europäern nennt.

lenssalesman  Der Nahe Osten hatte eine sehr alte Tradition der Glasherstellung für dekorative Zwecke. Die Region hatte auch theoretische Studien optischer Phänomene hervorgebracht, die von altgriechischen Arbeiten inspiriert waren, welche jenen Ost-, Südost- oder Südasiens überlegen waren. Und doch leisteten die Moslems, nachdem sie mit europäischen Glaslinsen konfrontiert wurden, fast keine eigenen kreativen Beiträge. Abgesehen von einigem begrenztem Interesse an der Verwendung von Teleskopen für militärische Zwecke oder für Spionage gegen die Ungläubigen gab es in islamisch beherrschten Ländern wenig Reaktion auf dieses neue europäische Gerät:

„Kurz, Teleskope hatten innerhalb eines oder zweier Jahrzehnte nach ihrer Erfindung in Europa 1608/1609 und dem Erscheinen von Galileos revolutionären Enthüllungen in Der Sternenbote von 1610 im gesamten osmanischen Nahen Osten, unter den Safawiden und im Mogulreich weite Verbreitung erfahren. Und doch verursachte die Ankunft des Teleskops in moslemischen Ländern – im Indien der Moguln, im Osmanischen Reich und anderswo – kaum eine Bewegung. Keine neuen Observatorien wurden gebaut, keine verbesserten Teleskope wurden hergestellt, und es gibt keine Berichte über kosmologische Debatten darüber, was das Teleskop am Himmel offenbarte.“ Der Wechsel zu einer kopernikanischen und Newton’schen Weltsicht wurde im Nahen Osten wie auch in Indien und China sehr verzögert. „In dieser Hinsicht herrschte das in China erkennbare Neugierdefizit auch in der moslemischen Welt vor.”

Die Moslems waren jedoch westlichen Ideen in viel aggressiverer Weise feindlich gesonnen als die Chinesen. Europäische jesuitische Gelehrte wie Matteo Ricci durften ihre Religion in China praktizieren und sogar manche der Einheimischen zum Christentum bekehren. Sie wären getötet worden, wenn sie dasselbe in der islamischen Welt getan hätten, nachdem dies gemäß islamischem Recht ein Kapitalverbrechen darstellt.

Huff glaubt, dass ein ansteckendes Ethos wissenschaftlicher Neugier, das es in ganz Europa gab, anderswo in der frühneuzeitlichen Welt unerreicht war. Letztendlich gab es keinen thailändischen Leeuwenhoek, keinen koreanischen Galileo, keinen chinesischen Newton, keinen indischen Leibniz und keinen türkischen Tycho Brahe.

Toby E. Huff spricht die Tatsache an, dass in den letzten Jahren mehrere führende Autoren Chinas wirtschaftlichen Gleichstand oder seine Überlegenheit gegenüber Europa vor dem achtzehnten oder neunzehnten Jahrhundert behauptet haben, aber sie haben die wissenschaftliche Revolution und ihre enorme technologische und wirtschaftliche Wirkung oft mehr oder weniger ignoriert. Dazu würde auch Kenneth Pomeranz in The Great Divergence gehören, oder Bücher mit Titeln wie The Eastern Origins of Western Civilization.

In Teilen Europas gab es eine andere öffentliche Sphäre des Informationsaustauschs und der Debatte. Im siebzehnten Jahrhundert entwickelten sich Flugschriften zu Zeitungen, wovon die London Gazette 1666 erschien. Nichts dergleichen fand zu dieser Zeit außerhalb Westeuropas statt.

dutchrepublic  Die Forscher Sascha O. Becker, Erik Hornung und Ludger Woessmann haben Max Webers These neu interpretiert und herausgefunden, dass protestantische Volkswirtschaften „aufblühten, weil die Unterweisung im Lesen der Bibel das Humankapital schuf, das für wirtschaftlichen Wohlstand entscheidend war.“ Sie fanden auch, dass die starke Auswirkung des Protestantismus auf die Alphabetisierungsraten „groß genug war, um für praktisch die gesamte protestantische Führungsposition bei der wirtschaftlichen Ergebnissen verantwortlich zu sein.“ Die protestantischen Länder hatten 1900 eine nahezu universale Alphabetisierung, aber kein katholisches Land hatte volle Alphabetisierung erreicht, wobei viele weit darunter lagen.

Schätzungen der Buchproduktion in Asien enthüllten äußerst niedrige Produktionsniveaus. Sie lag im Falle Indiens oder des heutigen Indonesien nahe Null, weil der Buchdruck im Großteil Süd- und Südostasiens erst im neunzehnten oder zwanzigsten Jahrhundert weite Verbreitung erfuhr. Selbst bezüglich Ostasiens, wo der Modeldruck tausend Jahre zuvor erfunden worden war, deuten die Zahlen der Sinologen darauf hin, dass die Gesamtproduktion von Büchern in Europa in der frühen Neuzeit weit größer war als in China. Außerdem hatten jene asiatischen Bücher, die produziert wurden, wenig mit wissenschaftlichen Fortschritten, Mechanik, elektrischen Studien oder Luftpumpen zu tun.

Britannien und Europa im Allgemeineren hatte einen großen intellektuellen, institutionellen und Humankapitalvorteil, der direkt in die frühe industrielle Revolution einfloss, wobei Humankapital hier verwendet wird, um das Wissen, das Können, die Gesundheit und Erfahrung der Einwohner einer Gesellschaft zu messen. In diesem Licht betrachtet “ist es offenkundig, dass Westeuropa sich auf einem völlig anderen Entwicklungsniveau befand als der Nichtwesten. Dies traf wahrscheinlich seit der Zeit der Griechen zu.“ Dennoch hat der niederländische Ökonom Jan Luiten van Zanden gezeigt, dass dies Wurzeln im Mittelalter hat, mit der Gründung von Unternehmen, Parlamenten, Universitäten und Berufsvereinigungen. Die westliche Humankapitalbildung ab dem fünfzehnten Jahrhundert war dem Rest der Welt somit weit voraus, aber Japans hohe Alphabetisierungsrate war das nächste Äquivalent außerhalb Europas:

Laut van Zanden lag diese Führungsposition wahrscheinlich 300 bis 400 Jahre vor Rivalen wie Japan und China. Nichteuropäer waren dreifach im Nachteil: erstens, während die Alphabetisierungsraten in Europa ab dem sechzehnten Jahrhundert (vielleicht sogar schon im fünfzehnten Jahrhundert) schnell wuchsen, war das Alphabetisierungsniveau in nichtwestlichen Ländern extrem niedrig und blieb so bis zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts; zweitens gab es außerhalb des Westens keine wissenschaftliche Revolution; und drittens fehlten die rechtlichen und intellektuellen Grundlagen für eine stabile wirtschaftliche Entwicklung, wie auch Demokratie und konstitutionelle Regierung. Nichts, was der rechtlich umschriebenen öffentlichen Sphäre von Zeitungen und öffentlichem Widerspruch entsprach, erschien außerhalb Europas vor dem Ende des ersten Viertels des neunzehnten Jahrhunderts. Selbst dann waren jene Publikationen nur entfernte Näherungen der europäischen Presse. All diese Ergebnisse sprechen gegen jene, die argumentieren, dass es in diesem Zeitraum keinen kulturellen oder institutionellen Unterschied zwischen Westeuropa und China, dem Indien der Moguln oder dem Osmanischen Reich gab. Schlussendlich dürfen wir unter all diesen Pluspunkten nicht die einzigartige, auf breiter Basis ruhende wissenschaftliche Neugier vergessen, die die moderne Wissenschaft während des gesamten siebzehnten Jahrhunderts antrieb.

Wie es der führende Historiker J. M. Roberts ausdrückte: „Die massive Gleichgültigkeit mancher Zivilisationen und ihr Mangel an Neugier auf andere Welten ist ein weites Thema. Warum zeigten islamische Gelehrte bis vor sehr kurzer Zeit keinen Wunsch, lateinische oder westeuropäische Texte ins Arabische zu übersetzen? Warum kann man, wenn der englische Dichter Dryden selbstbewusst ein Stück schreiben konnte, das sich auf die Thronfolge in Delhi nach dem Tod des Mogulkaisers Aurangzeb konzentrierte, mit Sicherheit annehmen, dass kein indischer Autor je an ein Stück über die gleichermaßen dramatische Politik des englischen Hofes im siebzehnten Jahrhundert dachte? Es ist klar, dass eine Erklärung für die europäische Wissbegierde und Abenteuerlust tiefer liegen muss als nur im Ökonomischen, so wichtig das auch gewesen sein mag. Es war nicht nur Habgier, die den Europäern das Gefühl gab, dass sie hinausgehen und sich die Welt nehmen konnten. Die Liebe zum Gewinn ist auf kein bestimmtes Volk oder eine Kultur beschränkt. Sie wurde im fünfzehnten Jahrhundert von so manchem arabischen, gujaratischen oder chinesischen Kaufmann geteilt. Manche Europäer wollten mehr. Sie wollten erforschen.“

Wenn man die Bedeutung des Begriffs “curious” nachschlägt, wie er im modernen Englisch verwendet wird, so trägt er als Hauptbedeutung „vom Wunsch gekennzeichnet zu sein, zu erforschen und herauszufinden, wie die Welt funktioniert.“ Jedoch kann das Wort auch die Konnotation tragen, neuartig, einzigartig und ungewöhnlich im leicht negativen Sinn von eigenartig oder seltsam zu sein. Schlussendlich kann „curious“ zu sein die entschieden negative Bedeutung tragen, aufdringlich neugerig zu sein, sich in unangemessener Weise für die Angelegenheiten anderer Menschen zu interessieren und sich ungebeten und in unwillkommener Weise in ihre Angelegenheiten zu drängen.

Ich würde sagen, dass all diese unterschiedlichen Bezeichnungen manche definierende Eigenschaften der westlichen Zivilisation zutreffend beschreiben: Erstens und vor allem haben wir ein ungewöhnlich starkes positives Interesse zu wissen, wie die Welt und das Universum aussieht und funktioniert. Wir haben ungewöhnliche Fortschritte gemacht, aber manchmal auch seltsame und ungewöhnliche Fehler. Schlussendlich muss ich zugeben, dass wir gelegentlich eine Tendenz aufweisen können, aufdringlich zu sein und uns ungebührlich in die Angelegenheiten anderer Leute einzumischen. Kurz, der Westen ist die neugierige/seltsame Zivilisation.

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Anm. d. Ü.: Ein thematisch verwandter Essay von Fjordman ist sein Vierteiler Warum haben die Europäer die moderne Welt geschaffen? – Teil 1, Teil 2, Teil 3 und Teil 4Nachtrag: Siehe auch Warum die Asiaten nicht die Raumfahrt erfanden von Fjordman und Wie die Moslems nicht die Algebra erfanden von Enza Ferreri.

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Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

5 Kommentare

  1. Richard

     /  März 10, 2014

    Was für ein wunderbarer Artikel von Fjordman!
    Ich habe lange nichts mehr von ihm gelesen, und merke mal wieder, wie schade es ist, dass er nicht mehr schreibt.
    Vielen Dank für die Übersetzung der zahlreichen Essays!

    Zum Artikel:
    Dieser faustische Drang nach Wissen scheint wirklich etwas genuin Europäisches zu sein.
    Ich verweise an dieser Stelle auf das wunderschöne Gedicht „Ulysses“ von Tennyson.
    http://www.poetryfoundation.org/poem/174659

  2. Lucifex

     /  März 23, 2014

    Ja, Richard, bei diesem Artikel habe ich mir beim ersten Lesen schon vorgestellt, ihn irgendwann einmal zu übersetzen. Und schließlich ist er zum Grundstein des Leseangebots der „Morgenwacht“ geworden.

    Deine Pierce-Übersetzung Faustischer Wagemut hat mir ebenfalls gut gefallen.
    Wärst Du einverstanden, wenn ich sie hier nachveröffentliche?

  3. Richard

     /  März 26, 2014

    Aber natürlich, Lucifex, das würde mich sehr freuen!
    Ich glaube auch, dass diese Rede von Pierce gut zu Deinem Blog passt.

    Ich habe im Übrigen fest vor, ab Anfang Juni weitere Artikel aus der Anglosphäre zu übersetzen.

  4. Lucifex

     /  März 27, 2014

    Danke, Richard! Ich mache mich gleich an die Arbeit bezüglich der Nachveröffentlichung hier. Ich möchte auch Fjordmans Artikel „Why Asians did not invent space travel“ übersetzen, den Du „drüben“ verlinkt hast. Zusammen mit Deiner Pierce-Übersetzung würde das ein gutes Sandwich abgeben, mit zwei Artikeln von Onkel Kevin dem Jüngeren (d. h. nicht Mac) als Zwischenlage).

  5. Richard

     /  März 27, 2014

    Super, dann freue ich mich schon auf die Fjordmanübersetzung!

    Stroms Artikel sind wirklich gut! Genauso wie seine Radioausstrahlungen.