Feuerfall (15): Unter den Friedhofsmonden

Ein Science-Fiction-Roman aus dem Galciv-Universum, von Deep Roots alias LucifexDies ist Kapitel 15 von 17, und es gibt zur Begriffs- und Hintergrunderläuterung auch das Glossar zum „Galciv“-Kosmos.

Zuvor erschienen: (1) Reiter auf dem Sturm(2) Babylon 6(3) Puffy & Jack(4) Nesträuber, (5) Nach Thumbnail Gulch(6) Zur Welt der hundert Meere(7) Höllenkurtisane(8) Ungestutzte Flügel, (9) Im Trident Sietch(10) Über das Meer(11) Glasscherben am Strand(12) Zwischen Abend- und Morgendämmerung(13) Caravanserai und (14) Spuren (Gimme Shelter).

Kapitel 15:   U N T E R   D E N    F R I E D H O F S M O N D E N

Bei unserer Ankunft wartete die Arduinna schon im Orbit über Thrian’shai, langsam um ihren Schwerpunkt rotierend wie ein Bumerang. Ihr Besitzer hatte also die Bordschwerkraft schon abgeschaltet und begnügte sich mit dem Viertel der Erdschwere, das durch die Fliehkraft erzeugt wurde – eine Option, auf die er bei dem Entwurf Wert gelegt hatte. Das war auch ein Grund für die gewählte Länge von hundertvierzig Metern gewesen; ein weiterer waren die vier um die Längsachse eingebauten langen Ionenstrahler, von denen die Galciv-Behörden nichts wissen durften, nachdem die kurzen schwenkbaren Exemplare beiderseits des Vorderrumpfs gerade noch genehmigt worden waren.

Als wir auf ein paar hundert Meter herangekommen waren, ließen sich zwei Gestalten aus dem Heck der Arduinna fallen und kamen mit dessen Tangentialgeschwindigkeit auf uns zu. Die größere im grauen Raumanzug war natürlich Merton Wiener, aber die zweite in Blau war ein Überraschungsbesuch. Innerhalb einer knappen Minute schwebten sie über die Kluft zwischen den Schiffen, bremsten mit ihren Anzugantrieben ab und steuerten auf unsere Hauptluftschleuse zu. Sobald sie drin waren, ließ ich die Lyensai aus dem Orbit beschleunigen und ging zur Schleuse, um die Gäste in Empfang zu nehmen.

Der Druckausgleich war schon beendet, als ich hinkam, und die beiden öffneten gerade die innere Luke. Während die blaue Gestalt die Schleuse hinter sich schloß, stellte die graue einen mitgebrachten Vakuumkoffer hin und nahm den Helm ab. Wie erwartet, war es Merton Wiener, der mich mit einem kurzen „Hallo Drac“ begrüßte und danach seinen Raumanzug abzulegen begann. Die zweite Person – den Körperformen nach eine Frau – hatte währenddessen gewartet, bis ich meine Aufmerksamkeit ihr zuwandte, und hob nun mit einem „Ta-dah!“ ebenfalls ihren Helm vom Kopf.

„Hallo Ndoni“, sagte ich. „Wieso bist du denn mit Merton mitgekommen?“

„Ist dir Lucy von den Peanuts ein Begriff?“ erwiderte sie und öffnete ihren Anzug.

„Natürlich.“

„Die hatte für Charlie Brown eine ‚Liste der Dinge, die du wissen müßtest‘…“

„Und?“

„Meine Liste für dich heißt: ‚Dinge, die du nicht wissen mußt‘. Das ist eines davon.“

„Ha ha. Zieht euch um, und dann gehen wir zu den anderen in die Zentrale.“

Das taten sie; Wiener entnahm dem Koffer einen blauen Catsuit und reichte ihn Ndoni, die ihn über ihrer Funktionsunterwäsche anzog. Merton legte die grauschwarze Kampfmontur an, die er bei unserer ersten Begegnung getragen hatte. Nachdem er uns noch die für später vorgesehenen Waffen in dem Behälter gezeigt hatte – seine Gaußpistole und Ndonis Blaster -, gingen wir zur Zentrale, die auf demselben Deck lag.

Wie das gesamte Schiff, ein von Menschen konstruierter Raumfrachter aus dem Notbauprogramm der letzten Jahre des Lwaong-Imperiums, war auch der Steuerraum der Lyensai viel einfacher und spartanischer als jener von Nouris, die ein VIP-Transporter gewesen war. Ihr Vorbesitzer Frank „Snarkstar“ Willard hatte sie nur minimal an seine Bedürfnisse anpassen lassen. Die Zentrale war ein rechteckiger Raum, und statt einer Bildschirmkuppel gab es nur einen großen Frontbildschirm, Seitenbildschirme und sieben nach vorne ausgerichteten Kontrollpulte mit Bildschirmen. Das Pult vor dem Kommandantensitz war ein flach geneigter Bildschirm, umgeben von minimalen Kontrollelementen.

An fünf dieser Stationen saßen meine Gefährten bei dieser Mission: Frido, Björn und Talitha in blaugrauen Elastikkombinationen, wie ich sie trug, Aithiras in einer schwarzen Hose und einem schwarzgrünen Oberteil und Pyetar in einer rotbraun-schwarzen Variante von Aithiras‘ Kluft. Wiener und Ndoni setzten sich auf die freien Plätze rechts vorne und schauten auf den Frontschirm, der von Ssrranth ausgefüllt wurde. Dessen Kontinente mit Ausnahme des grün-braunen Zetuca verrieten ihren tharrissianischen Bewuchs durch die lila Farbe, wo keine Wüsten oder Hochgebirge waren.

Aithiras und ich hatten uns nach Talithas Rettung noch einmal mit Merton Wiener getroffen und ihm das Spielmaterial von Nirdol gegeben, um für eine Wiederaufnahme meiner Beobachtungsmission mit ihm in Kontakt zu kommen. Er hatte seltsam erfreut gewirkt, als hätte ich ihm damit eine unerwartete Gelegenheit für etwas geboten.

Zu meiner Überraschung hatte er scheinbar beiläufig erwähnt, daß der Wissenschaftsrat der Regierung von Zetuca eine Dokumentation über die Entwicklungsgeschichte von Ssrranth beabsichtige und daher jemanden zur Aushebung historischer Daten in das Ökologische Zentralinstitut der Sontharr entsenden wolle. Da dieses außerhalb des Territoriums von Zetuca lag und daher nicht ausgeschlossen sei, daß feindliche Kräfte eine solche Mission auf dem Weg dorthin von kriminellen Earthins angreifen ließen, habe man sich an Wiener gewandt, dessen Machtposition von so etwas abschrecken könnte.

Auf meine Frage, ob Mertons Umgang mit Xhankh, der den Sontharr vermutlich bekannt sei, nicht zu Schwierigkeiten führen würde, hatte er abgewunken. Das sei geregelt, hatte er gesagt, denn auf Bedenken der Sontharr hin habe seine Regierung darauf verwiesen, daß er mit vielen Alien-Spezies Kontakte pflege, aber nicht zu den Arrinyi, und nachdem die Sontharr-Kolonisten an guten Beziehungen zu Zetuca interessiert waren, sei die Genehmigung schließlich erteilt worden. Er dürfe Begleiter mitnehmen, und ob wir interessiert seien…

Natürlich waren wir das gewesen, bei aller Verwunderung über diese Fügung und darüber, warum ein Mafiastaat wie Zetuca überhaupt einen Wissenschaftsrat hatte, und so hatten wir Aithiras‘ Identität als Mutter von Julani enthüllt, die als Historikerin gerade an einem Projekt über die Frühe Neuzeit der Erde arbeite. Da könnte sie doch zusammen mit Julanis Mann mitkommen, um nachzuforschen, ob in dem Institut dafür relevante Daten gespeichert waren…

Und so war es zu dieser gemeinsamen Expedition gekommen. Die Teilnahme an Wieners genehmigtem Besuch ersparte uns die Notwendigkeit, eine eigene Zutrittsanweisung der Shomhainar-Wissenschaftsbehörden zu beantragen, die vielleicht an falscher Stelle Aufmerksamkeit erweckt hätte, und es genügte eine amtliche Bestätigung, daß Julani tatsächlich an so einem Forschungsprojekt arbeitete.

Um noch unauffälliger zu sein, waren wir mit der Lyensai gekommen statt mit Nouris, die neben dem Wurmlochportal von Thrian’shai zurückgeblieben war. Als Notverbindung zu ihr war im Rettungskapselschacht neben der Tür der Zentrale eines der mobilen Wurmloch-Schlupfportale versteckt. Durch dieses hatten wir Leitungen verlegt, über die Nouris mit der Lyensai kommunizieren und sie gegebenenfalls auch fernsteuern konnte. Im Beiboot des Frachters befand sich ein Kommunikations-Wurmlochportal, durch das ebenfalls zusätzlich Steuerleitungen verliefen. Unsere Gäste wußten natürlich nichts von diesen Dingen. Wir hatten zwölftausend Tonnen irdische Wüstengräsersamen geladen, mit denen die Umgebung des Raumhafens Zetaport begrünt werden sollte, um dessen sommerliches Staubsturmproblem zu mildern. Dort sollten wir das Saatgut zusammen mit einiger Stückgutfracht abliefern.

Der Flug zum Planeten verlief ereignislos, und ebenso die Landung in Zetaport. Nach dem Aufsetzen fuhren wir mit dem Lift zum oberen Frachtraum hinunter, um auf die Zollbeamten zu warten, die mit dem Außenlastaufzug heraufkommen würden. Dieser Laderaum, in dem sich das Stückgut befand, machte einen noch spartanischeren Eindruck als die bewohnten Teile des Schiffes und wirkte geradezu primitiv. Der Hauptfrachtraum darunter war nach dem Herausnehmen der Zwischenböden ein durchgehender Silo, der vom Boden aus in Lastwagen entleert werden würde.

Wir öffneten die drei Meter hohe Luke und schauten aus der Höhe der wie ein Turm aufragenden Lyensai auf den Raumhafen hinaus. Es war Nachmittag, und von draußen wehte hochsommerliche Wärme zu uns herein. Am Horizont trieben Wolken eines Staubsturms vorbei, und auf dem Landefeld standen sechs der schon bekannten weißen Passagierraumer aufgereiht. Die Turmbauten dahinter erinnerten mich an Illustrationen des SF-Künstlers Dean Ellis und waren vielleicht auch davon inspiriert. Aithiras trat mit Pyetar an die Luke heran und redete mit ihm in ihrer gemeinsamen Muttersprache.

Nach ein paar Minuten erschienen die Köpfe von sechs schwarz-blau Uniformierten über dem Lukenrand. Die Lastenplattform, die im Flug vor die Luke hochgeklappt war, hielt an, und der Leitende des Trupps zeigte eine Dienstplakette mit elektronischer ID-Funktion vor, deren Authentizität mein Poccomp bestätigte.

„Schemirah, Abteilung Zoll“, sagte er. „Wer von Ihnen ist Draco Flint?“

„Ich“, antwortete ich mit einer einladenden Geste. „Bitte kommen Sie an Bord.“

Die sechs traten ein, und nachdem vier von ihnen unsere Identitäten festgestellt hatten, während ein fünfter anscheinend als Wächter an der Luke stehenblieb, erkundigte der Offizier, der das Ganze beaufsichtigt hatte, sich nach unseren Absichten auf Ssrranth. Anschließend besprachen wir mit ihm das Ausladen der Frachtbehälter, die seine Männer derweil anhand ihrer Frachtlisten durchsahen und mit Freigabeaufklebern markierten. Das Verhalten der Beamten war korrekt, aber sehr distanziert, außer gegenüber Wiener.

Als alles soweit klar war, versperrten wir die Zugänge ins restliche Schiff, dessen KI-Gehirn in unserer Abwesenheit gemäß seinen Anweisungen mit der Schemirah und den Ladearbeitern des Raumhafens kooperieren würde, und gingen zum Beiboot der Lyensai, dessen Hangarbucht sich auf demselben Deck befand.

Diese Maschine war ein Lasten- und Personengleiter mit rechteckigem Grundriß und den Ausmaßen eines großen Minibusses, aber breiter und niedriger. Statt seitlicher Fenster hatte das blaugraue Ding eine große Transparentkuppel über seinem keilförmig abfallenden vorderen Drittel, die vorne durch eine bis zum Boden reichende gewölbte Sichtscheibe abgeschlossen wurde. Wir stiegen durch eine Tür in der Mitte der linken Seite ein, nahmen auf den in drei Dreierreihen angeordneten Sitzen Platz und starteten den Konverter. Danach ließ ich den Gleiter aus dem Schiff schweben, flog zuerst neben der Reihe der geparkten Raumschiffe entlang und schwenkte dann nach rechts auf Nordwestkurs. Dabei zog ich hoch, um über die Staubwolken zu kommen.

Zu unserer Linken, im Süden, sahen wir den Gebirgszug, hinter dem das Land zur Küstengegend um Altavor abfiel. Irgendwo dort unter den grasbewachsenen Höhen war das Wurmlochportal eingebaut, durch das Wasser vom Nachbarplaneten Rurross über die Zwischenstation auf Thrian’shai kam und als Nebenfluß dem Nardan zuströmte. Zu unserer Rechten dehnte sich das dürre Land weit nach Nordosten bis zu einer dunklen Linie am Horizont aus, und vor uns kam jenseits des Staubsturms ebenfalls Halbwüste in Sicht, die in der Ferne grüner wurde und dann in Nadelwald überging. Das war der geeignete Punkt, um in den Autopilot-Modus überzugehen, der uns auf einer Suborbitalbahn über den Äquator und zum Kontinent Rirthass auf der Südhalbkugel bringen würde. Der Gleiter beschleunigte steil nach oben, und als er antriebslos auf einer ballistischen Bahn flog, vertrieben wir uns die Zeit bis zum Wiedereintritt mit beiläufiger Konversation.

Unter uns erkannten wir die Präsenz der Sontharr an den regelmäßigen Umrissen von Agrarflächen und an künstlichen Großstrukturen, die mit freiem Auge aus dem Weltraum erkennbar waren. Ihre Population von zweihundert Millionen konzentrierte sich wegen des UV-ärmeren Lichtes von Zeta Tucanae in den Tropen, weil dort durch den steilen Lichteinfall der UV-Anteil jenem von Tharriss am ähnlichsten war.

Jenseits der Tropen war gerade Winter, und im zentralen Bergland von Rirthass lag Schnee. Da wir am Morgen dort ankamen, war die fremdartige Vegetation noch von Rauhreif bedeckt und bot einen exotischen Anblick, der umso faszinierender wurde, je tiefer wir kamen. Jenseits eines von lila-weißem Wald bewachsenen Bergrückens kam auf einer steilen Waldkuppe unser Ziel in Sicht: eine dichtgedrängte Ansammlung silbrig-weißer projektilförmiger Türme. Sie waren vor einem Jahrtausend erbaut worden, als es auf diesen Bergen noch keinen Wald gegeben hatte, und verkörperten einen Baustil der Sontharr aus jener Zeit. Bei diesem Ökologischen Zentralinstitut waren die Raumschiffe der Sontharr auf ihren Reisen zur Erde und von dort zurück immer zwischengelandet.

Merton Wiener, dem ich nach dem Ende der Autopilot-Phase die Steuerung überlassen hatte, flog im Gegenuhrzeigersinn um die Gebäudegruppe herum. Von dort sahen wir hoch am Himmel Thrian’shai als Halbmond, und darunter einen der kleinen Monde, der im Westen aufgegangen war und nach Osten über den Himmel zog. Im Laufe des Tages würde Thrian’shai von der Sonne überholt werden und bis zu deren Untergang die Phasen über den Neumond bis zur zunehmenden Sichel durchmachen.

Der Gleiter setzte in einem Landedeck auf, das uns zugewiesen worden war. Wir stiegen aus und wurden von fünf Sontharr empfangen, die sich in einer zu uns hin offenen V-Formation aufgestellt hatten. Das Individuum hinten in der Mitte begrüßte uns knapp mittels eines Translators, der vor seiner Sprechöffnung oberhalb des Kauapparates angeheftet war. Nachdem es sich als Archivar Ksasharn vorgestellt und uns aufgefordert hatte, ihm zu folgen, wendete es auf der Stelle und krabbelte zum Ausgang im Hintergrund. Wir folgten ihm und wurden dabei von den anderen vier Sontharr eskortiert, die vor und hinter uns herliefen und dabei mit ihren Klauenfüßen ein vielfaches Klicken erzeugten. Mit dem Gleiter und Nouris blieben wir – außer Ndoni und Merton – über Komm-Hörgeräte verbunden, die wir hinter den Ohren angeklebt trugen.

Der Ausgang des Landedecks war so niedrig, daß wir nur mit waagrechtem Oberkörper hindurch konnten, und auch dahinter mußten wir gebückt weitergehen. Durch ihren garnelenähnlichen Körperbau kommen Sontharr mit Durchgangshöhen von einem Meter aus, und sie hatten bei der Konstruktion ihrer Institutsgebäude keine Rücksicht auf die Bedürfnisse anderer Wesen genommen. Raumhöhen von eineinhalb Metern hatten sie nur vorgesehen, damit die verbrauchte Luft sich oberhalb ihrer Köpfe sammeln konnte, ehe sie abgesaugt wurde. Dafür reichten die Fensterflächen normalerweise vom Boden bis zur Decke, wie wir in dem außenliegenden Raum sahen, wo unser achtbeiniger Gastgeber uns zu einem Aufzugterminal führte.

Während die geräumige, aber ebenfalls niedrige Aufzugkabine in die Tiefe sank, gingen wir in die Hocke, um unsere Rücken auszuruhen, und befanden uns auf Augenhöhe mit den Sontharr um uns. Ihre gut faustgroßen, gold-bronzefarben gefleckten Facettenaugen beiderseits der runden Kopfenden studierten uns vermutlich ebenso wie wir sie. Fühler hatten sie keine; stattdessen befand sich zwischen den Augen am Beginn der schräg nach hinten abfallenden Kopfunterseite ein Paar kleiner Nasenöffnungen, von denen Geruchssinneskanäle zum vordersten Paar Lungensäcke führten. Das nächste Paar dieser Organe mündete im Sprechorgan hinter der Öffnung über den Mundwerkzeugen, und unter den Gliedmaßen lag je eine weitere Atemöffnung. Wo die Höröffnungen lagen, konnte ich zunächst nicht erkennen, bis mir auffiel, daß Ksasharn unterhalb der Augen zwei kleine braune Beulen trug, wo die anderen schräg nach vorn gerichtete Mulden hatten. Das waren die Höreinheiten seines Translatorsets, die ihm unsere Worte übersetzten.

Das rotbraune Exoskelett hatte eine feinkörnige Textur und ging in einem individuellen Flecken- und Wellenmuster zur sandfarbenen Kopf- und Körperunterseite über, deren hellere Färbung die „Mimik“ des Kauapparates erkennbarer machte. Die Beine waren nicht seitwärts abgespreizt wie bei irdischen Hummern, sondern steil nach unten gerichtet wie bei Garnelen, hatten aber auch seitliche Bewegungsfreiheit. Das traf noch mehr auf die vier Greifscherenarme zu, mit deren hinterem Paar der Sontharr neben mir leise auf den Boden klackerte, als sei er nervös. Als ich ihn ansah, hörte er damit auf.

Gleich darauf hielt der Lift an, und wir gingen in das Stollen- und Kavernensystem unter der bewaldeten Kuppe hinaus, in dem die Sontharr ihr Datenarchiv eingerichtet hatten. Ksasharn führte uns in einen Raum mit drei Computerterminals, wo ein weiteres Sontharr-Individuum auf uns wartete, das er uns als Archivarin Thassút vorstellte. Erst nach dieser weiblichen Funktionsbezeichnung fielen mir die anatomischen Unterschiede zu den anderen, offenbar durchwegs männlichen Sontharr auf: der größere Hinterleib, das schlankere Kopfende ihres Carapax und das nicht so kräftige hintere Scherenpaar.

Thassút trug ein Translatorset wie ihr Kollege, und gemeinsam führten die beiden uns in die Benutzung der Computer ein, deren große elliptische Bildschirme in geneigte Bedienpulte eingelassen waren, was offenbar der Betrachtung mit den Facettenaugen ihrer Stammbenutzer entgegenkam. Nach Abklärung der Wissensgebiete, die uns interessierten, unterstützte Thassút Merton bei der Datensuche, und Ksasharn tat dasselbe für Aithiras, der wir anderen über die Schulter schauten. Hinter uns langweilten sich offenbar die vier anderen Sontharr und schwätzten miteinander, wobei uns nicht nur ihr stoßartiger Sprechrhythmus wegen der wechselweise ein- und ausatmenden Lungensäcke hinter dem Sprechorgan auffiel, sondern auch, wie sehr sich ihre Aussprache von der schriftlichen Wiedergabe ihrer Namen und Wörter für den Menschengebrauch unterschied.

Ich langweilte mich überhaupt nicht. Aithiras suchte alibihalber zunächst nach Material über die Frühe Neuzeit in Europa. Als sich herausstellte, daß die Sontharr schon im späten Mittelalter die Erde besucht hatten – unabhängig von Shomhainar-Missionen -, begann sie sich anzusehen, was es aus dieser Zeit und danach über Mesoamerika gab, und stieß auf reichlich Informationen über die Erdkhenalai.

Diese waren tatsächlich mit den pochteca genannten reisenden Fernhändlern in der Aztekengesellschaft identisch gewesen, die als reiche und privilegierte Minderheit in eigenen Stadtvierteln gelebt hatten. Sie waren als Parallelkultur unter eigener Gerichtsbarkeit ihren eigenen Bräuchen und Ritualen gefolgt. Durch ihre Handelstätigkeit und als Spione und Nachrichtenübermittler waren sie für die Aztekenherrscher unverzichtbar gewesen und hatten einen hohen Status gleich unter dem Adel besessen, dem sie an Reichtum oft gleichgekommen waren. Diesen Reichtum hatten sie jedoch vor der Öffentlichkeit verborgen, so wie sie auch hinsichtlich ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht unauffällig bleiben wollten.

Wegen des Strebens nach Unauffälligkeit hatten die Handelsexpeditionen der pochteca ihre Bezirke oft erst spät am Abend verlassen, und so war den meisten Azteken und auch der heutigen irdischen Geschichtsschreibung verborgen geblieben, daß sie nur einen Teil ihrer Transporte zu Fuß erledigt und für den Rest Schiffe entlang der Pazifikküste eingesetzt hatten, die sie von asiatischen Besuchern erwarben.

Ein Zentrum dieses Seehandels und der interkontinentalen Kontakte war Südwestmexiko gewesen, wo später viele präkolumbische Terrakottaplastiken gefunden worden waren, die Menschenköpfe aus der ganzen Welt darstellten – ostasiatische, afrikanische, mediterrane und sogar klischeehaft jüdische. Und tatsächlich waren die Indios dort, wie die Daten der Sontharr zeigten, über Jahrhunderte mit ostasiatischen Seefahrern und mit Besuchern von jenseits des Atlantiks zusammengekommen.

Dieses Gebiet war auch der Startpunkt für Seereisen nach Südamerika gewesen, zu dem vorspringenden Küstenabschnitt, wo die Khenalai zusammen mit Eingeborenen in der nördlichen Peripherie des Inkareiches eine weitere privilegierte Händlersubkultur nach pochteca-Vorbild gegründet hatten, die mindaláes. Mit diesem Zweig ihres Volkes hatten sie das Andenreich als zweite Machtbasis unter ihren Einfluß zu bringen versucht, aber ehe sie dieses Ziel erreicht hatten, war die finale Katastrophe über sie gekommen.

Bei ihren Kontakten mit Überseereisenden waren sie auch Juden begegnet, von denen seit der Antike Eingeweihte nach Mittelamerika gesegelt waren. Dabei hatten beide Seiten einander als das erkannt, was sie selbst waren: manipulative Parasitenvölker, die in andere Länder eindrangen, deren Eliten sie kooptierten und die sie als Erfüllungsmacht nutzten, während sie sie ausbeuteten und zersetzten, ehe sie weiterzogen. Sie hatten einander auch sofort als Bedrohung wahrgenommen, und den Khenalai alias pochteca war auch klar geworden, daß sie mit der indianischen Steinzeitzivilisation als Machtbasis klar im Nachteil gegenüber den Juden waren, die Europa und die Mittelmeerwelt hinter sich hatten.

Bis zum Mittelalter hatte es noch keine Notwendigkeit oder Möglichkeit für einen Verdrängungskampf zwischen den beiden Völkern gegeben, aber mit Beginn der Neuzeit hatten maßgebliche jüdische Kreise beschlossen, ihre Amerika-Kontakte mit Kolumbus‘ erster Reise offiziell zu machen. Im Zuge der spanischen Eroberungen hatten sie die Ausrottung der Khenalai in den beiden Indianerreichen betrieben und viele Aufzeichnungen der Indios aus vorgeblichem christlichem Eiferertum vernichten lassen, um unerwünschte Informationen über diese Ereignisse und frühere Verhältnisse dort zu beseitigen. So wie die Conquistadores von der Hilfe der anderen Indigenen gegen deren aztekische und Inkaherren profitiert hatten, waren auch die pochteca und mindaláes hauptsächlich dem Hass ihrer Nachbarn zum Opfer gefallen, nachdem sie den Schutz der Eliten verloren hatten.

Das hatte die Shomhainar-Erdexpedition von 1520 mitbekommen, und um zu verhindern, daß die Galciv-Khenalai aus Rache die Juden auslöschten, die für ihre erwartete Rolle in der Globalisierung der Erde noch gebraucht wurden, waren nach der ersten Meldung über die Kommunikationswurmlöcher alle weiteren Nachrichten nur noch mit Kurierschiffen der Sontharr nach Hause übermittelt worden. Jene Schiffe waren auf Ssrranth zwischengelandet und hatten die Daten in die Computerarchive ihres Ökologischen Zentralinstituts kopiert, wo sie in Vergessenheit geraten waren, aber immer noch mit unfälschbaren elektronischen Zeitstempeln ihrer Speicherung versehen existierten.

Die Erdexpedition war länger geblieben als geplant, und nachdem die Erdkhenalai vernichtet waren, hatte man 1562 noch eine Expedition geschickt, um dieses Verschwinden aus angeblich unbekannter Ursache zu dokumentieren. Danach hatte die Galciv die Erde unter Vorwänden bis ins zwanzigste Jahrhundert sich selbst überlassen.

Nun war mir auch klar, warum Khrek die Aufdeckung dieser Dinge wollte und gemeint hatte, daß die Aufnahme der Erde dann aufgeschoben werden müßte. Aithiras und Pyetar war es auch klar, aber Ksasharn nicht. Selbst wenn er mehr als nur ein Datenverwalter gewesen wäre, hätte man von ihm nicht erwarten können, daß er über die historischen Verwicklungen all der Fremdwesen in der Galciv und in ihrem Einflußbereich Bescheid wußte und mögliche politische Auswirkungen in der Gegenwart erkannte.

Jemand anders erkannte sie aber ebenfalls. „Hochinteressant“, sagte Merton trocken hinter mir. „Das muß dem zetucanischen Wissenschaftsrat übermittelt werden. Ist das möglich, Archivar Ksasharn?“

„Ja, Abgesandter“, antwortete Thassút anstelle des Angesprochenen; anscheinend war sie die Ranghöhere. „Sind das die Daten, die Sie für Ihre Regierung gesucht haben?“

„Ja, Archivarin“, log Wiener dreist. „Könnten Sie alle Dateien, die Aithiras Ghaseyon auf ihren Datenträger kopiert hat, an eine Adresse schicken, die ich Ihnen angebe?“

„Ich habe einen Alternativvorschlag“, antwortete die Sontharr. „Ich schicke die relevanten Suchpfade dorthin, dann können Ihre Leute sich ansehen, was sie interessiert.“

Damit war Wiener einverstanden, und während Thassút die Übermittlung veranlaßte, machten wir Mittagspause und durchsuchten das Archiv dann weiter. Nach einer Weile wurden unsere beiden Sontharr-Betreuer sichtlich unruhig.

„Herr Wiener“, fragte Thassút, „wer außer Ihren Auftraggebern hat noch Zugriff auf die von Ihnen angegebene Verbindung?“

„Niemand, soweit ich weiß. Wieso?“

„Es gibt plötzlich einen starken Anstieg der Zugriffe auf diese Daten. Das kommt von vielen verschiedenen Stellen, und es werden immer mehr.“

Wiener sah nun ein wenig beunruhigt aus, was bei seiner sonstigen geistesgegenwärtigen Selbstbeherrschung darauf hindeutete, daß er sehr erschrocken war. „Was sind das für Stellen?“ fragte er. „Gehören die einer bestimmten ethnischen Gruppe an?“

Ksasharn wandte sich von seiner Computerkonsole ab. „Es sind zu viele, um das sagen zu können“, erklärte er. „Aber es sind alles Adressen von Menschen in Zetuca… und es sind nur wenige als privilegiert Ausgewiesene dabei.“

„So e Schlamassel, jetz kriege mer Lämpe“, sagte Wiener halblaut; daß er ins Jiddische verfiel, verriet, wie betroffen er war. Mit den Privilegierten waren natürlich die Juden von Zetuca gemeint, die sich gegenüber Sontharr-Behörden als Bürger erster Klasse auswiesen, und wenn die Zugriffe hauptsächlich von anderen kamen… Merton fing sich wieder, sah mich an und fragte: „Ihr habt doch nicht etwa selbst etwas davon verbreitet?“

„Nein“, sagte ich, und Ksasharn sekundierte mir, indem er versicherte, daß wir zwar Verbindung zum Gleiter hatten, dieser jedoch nicht nach außen sendete, und wir auch über ihr System keine externe Verbindung aufgenommen hatten. Meine Überlegungen wurden bestätigt, als ich Nouris‘ Stimme aus den Dingern hinter meinen Ohren hörte.

„Es wird euch interessieren“, sagte sie, „daß der Nachrichtenverkehr aus Zetuca gerade deutlich zunimmt und daß dieses Plus in der Sprache der anderen Unsichtbaren stattfindet. Meine Brieftauben haben mir auch verraten, daß es dabei um historische Daten von dort geht, wo ihr gerade seid, und um die Empörung, die sie auslösen.“

An den Reaktionen von Frido und Björn erkannte ich, daß sie das auch ihnen sagte. Daß Nouris sich nicht noch verklausulierter ausdrückte, wunderte mich und machte mir Sorgen, denn auch wenn die Funkverbindung zum Gleiter verschlüsselt war und von dort über das Komm-Wurmloch lief, war damit zu rechnen, daß die Sontharr alles aufzeichneten und früher oder später entschlüsselten. Ich drückte das Verstanden-Icon auf meinem Poccomp.

Die nächsten Stunden waren hektisch. Wiener verlangte und bekam die Möglichkeit, allein mit seinen Auftraggebern zu telefonieren. Mit der Zeit begannen Nachrichten über Unruhen und Ausschreitungen in Altavor und anderen Städten Zetucas einzutreffen, die sich zu Straßenschlachten und Mordaktionen auswuchsen. Ein Teil der nichtjüdischen Bevölkerung ging offenbar koordiniert gegen Juden und sogar gegen die Schemirah vor. Dabei verwendeten sie auch Waffen, die man nicht in Privathänden vermutet hätte, und führten Zugriffe an den Wohnsitzen von Politikern und hohen Polizeioffizieren durch. Nouris bestätigte das anhand ihrer Quellen und sagte uns, daß auch auf anderen Welten Khenalai jüdische Earthins angriffen und daß die Shomhainar Mühe hatten, den Aufruhr schnell zu unterdrücken. Die Zentrale von Shom-Earth auf Babylon 6 schickte Einsatzkräfte durch das Wurmloch nach Ssrranth und forderte Verstärkung durch andere Shomhainar-Einheiten an. Auffallend war dabei, daß ausdrücklich Nichtmenschen verlangt wurden – ein Detail, dessen wahrscheinlicher Grund mir erst später einfiel.

Schließlich legte die Sontharr-Institutsleitung uns die Abreise nahe, und nachdem wir nur wegen Wieners Beharren bis dahin noch geblieben waren, mußten wir nicht groß überredet werden. Die Fracht der Lyensai war inzwischen wohl schon großteils entladen, sodaß wir den Planeten gleich nach dem Eindocken bei ihr verlassen können würden.

Die Sonne war schon verschwunden, und Thrian’shai stand ebenfalls schon tief über dem Abendrot im Westen, wo sein kleinerer Bruder Aker’shai gerade aufging, als ich den Gleiter aus dem Landedeck steuerte und in einer weiten Kurve auf Nordkurs ging. Mit dem ballistischen Steigflug wartete ich noch, da Wiener vorher noch die Bordtoilette aufsuchen wollte. Zu spät erkannten wir, daß das ein Vorwand war, um unbeobachtet an seiner hinten abgelegten Sporttasche zu hantieren.

„Planänderung“, verkündete er. „Meine Autorisierung habe ich hier in der Hand.“

Wir drehten uns um und sahen ihn neben dem linken hintersten Sitz stehen, an dessen Lehne er sich mit der Linken festhielt, während in der Rechten seine Gaußpistole lag – auf den Kopf von Talitha gerichtet, die im Sitz vor ihm saß. Wir anderen hatten unsere Waffen im Stauraum gelassen, da wir sie im Sontharr-Institut nicht hatten tragen dürfen und uns vor dem Rückstart nicht die Mühe gemacht hatten, sie umzuschnallen. Und wir hatten zu sehr auf den Kooperationsvertrag zwischen Wiener und uns vertraut – dabei waren wir auch als Absicherung gegen ihn in dieser Zahl gekommen.

„Was soll das, Merton?“ fragte ich.

„Das gehört zu meiner Liste von Dingen, die du nicht wissen mußt. Du fliegst jetzt zu den Koordinaten sechsunddreißig Komma zwei Grad Nord, siebzehn Komma vier West, und bleibst unter zwei gee Beschleunigung, damit ich die Waffe noch handhaben kann. Tausend Meter über dem Boden gehst du in den Horizontalflug, und dann sage ich dir, wo wir landen. Ich habe ein Hand-Navigerät, das mir zeigt, wohin wir fliegen. Wenn du Mätzchen machst, stirbt Talitha als erste, aber nicht als Letzte. Ndoni, machst du mit?“

„Na du kannst fragen, Mervy. Sicher bin ich dabei.“

Fast so überrascht wie über Wieners Verrat war ich darüber, daß Ndoni anscheinend bis zu diesem Moment nichts davon gewußt hatte. „Was ist mit Aithiras und Pyetar?“ fragte ich ihn. „Du wirst es doch nicht wagen, dich an Shomhainar-Agenten zu vergreifen, wenn du schon unseren Vertrag brichst?“

„Die werden bestimmt nicht wollen, daß ich euch vier anderen töte, und das schaffe ich, bevor sie von da vorn an mich herankämen. Und ich kann nicht garantieren, daß ich mich dann widerstandslos festnehmen ließe. Ich werde sie dort absetzen, wo wir jetzt als erstes hinfliegen.“ Er setzte sich und zielte schräg nach vorn auf Frido und Björn, die rechts des Mittelgangs neben Talitha saßen. „So, los jetzt, wir haben noch einen Termin.“

In meinem Kopf hörte ich Nouris. „Soll ich euch die Lyensai schicken? Sie wird bald fertig entladen sein und kann in einer guten Stunde über dem Zielgebiet sein. Nicke, wenn ja.“

Es blieb nichts übrig, als Mertons Willen zu erfüllen, und so nickte ich für die Innenkamera, über die Nouris uns beobachtete, gab die Flugdaten ein und aktivierte den Autopiloten. Wir stiegen ins Sonnenlicht auf, und als wir es jenseits des Äquators am anderen Ende der Flugbahn wieder verließen und in die Abenddämmerung eintauchten, glitten wir über eine flache Waldlandschaft hinweg, die von Flüssen aus den regenreicheren Bergen im Nordosten durchzogen wurde. Die Vegetation hatte in der einsetzenden Dunkelheit schon in Farbtönen von Rot bis Lila zu leuchten begonnen. Mit dieser Biolumineszenz gaben die Gewächse die tagsüber gespeicherte Energie aus der UV-Strahlung wieder ab, von der es in diesem subtropischen Hochland mit seiner geringen Bewölkung genug gab.

Wiener dirigierte mich zu einer Biegung des Hauptflusses dieser Landschaft und befahl mir, auf einer Lichtung an dessen Ufer zu landen. Dort sahen wir durch die Bugkuppel auf den ruhig dahinströmenden Fluß und den Wald dahinter hinaus, vor dem eine der seltsamen Pflanzen in kaltem gelbweißem Feuer strahlte, die von den Sontharr Nachtflammen genannt werden. Aker’shai, dessen zerkraterte Seite gerade wieder dem Planeten zugewandt war, hatte sich ein Stück über den Horizont erhoben, dem links davon das fernere Thrian’shai entgegensank. Einer von Aker’shais kleinen Koorbitalmonden stand bereits höher am Himmel, während jener, den wir am Morgen gesehen hatten, schon im Osten untergegangen war.

Wiener stand auf und brachte Ndoni ihre Laserpistole, die ebenfalls in seiner Sporttasche verstaut war. Dann ging er hinter die Tür, ließ sie wie eine Rampe aufklappen und befahl Aithiras und Pyetar, unter Zurücklassung ihrer Poccomps auszusteigen. Als sie draußen waren, warf er ihnen sein Satnav-Gerät zu und sagte: „Das ist nur zur Sicherheit. Folgt dem Ufer nach rechts um die Biegung, wo ihr bald auf eine Bachmündung stoßen werdet. An deren Ufer legen wir eure Waffen als Sicherheit für den Fall ab, daß ihr gefährlichen Tieren begegnet. Geht dann weiter am Fluß entlang, und nach ungefähr zwei Stunden kommt ihr zur Mündung eines Nebenflusses mit einer Sandbank, auf der wir den Gleiter für euch zurücklassen. Wir sechs werden von dort ein Stück zu Fuß gehen.“

Damit schloß er die Tür, befahl Frido und Björn, auf die Frontsitze neben mir zu wechseln, und setzte sich wieder hinter Talitha. Wir hoben ab, setzten über die Flußkehre und landeten gleich darauf wieder, damit Ndoni die Blaster von Aithiras und Pyetar am bezeichneten Bachufer deponieren konnte. Danach flogen wir in drei Minuten weiter flußabwärts zu der Sandbank, die zwischen dem Hauptfluß und einem von rechts kommenden Nebenfluß abgelagert worden war.

Gleich nach dem Aufsetzen mußten wir nacheinander aussteigen und alles außer unseren Hosen ausziehen. Wiener kam als Letzter heraus, mit zwei Gaußgewehren mit Zieloptik in den Händen, die er aus dem Ausrüstungsspind des Gleiters genommen hatte. „Da“, sagte er zu Ndoni und reichte ihr eine der Waffen. „Man kann nicht wissen, was für Viechern man in diesem Wald begegnet.“

Als wir dann barfuß im Freien standen und dem nach Westen strömenden Wasser nachschauten, erinnerte das Gefühl des noch warmen Sandes unter meinen Fußsohlen mich an Flußfahrten in früheren Jahren, und einen Moment lang stellte ich mir vor, wie es wäre, in dieser exotischen Umgebung eine Bootstour zu unternehmen. Vielleicht einmal, wenn wir das hier überstanden…

„Sehr schön“, bemerkte Merton zufrieden feixend. „Überraschungen durch in euren Tops versteckte Sachen ist jetzt vorgebeugt, und mit bloßen Füßen werdet ihr nicht gern in diesen Wald mit seinem unbekannten Bodenleben hineinrennen wollen, wenn wir jetzt an diesem Nebenfluß entlangmarschieren.“

„Wohin gehen wir denn?“ fragte ich.

„Das seht ihr noch früh genug. Los jetzt, Draco voran, dann Strasskat, Benellio, Ndoni, Talitha und ich. Immer am Ufer entlang, bis zu der kleinen Stromschnelle, wo der Fluss über eine Felsstufe strömt. Dort warten wir, falls wir nicht schon erwartet werden.“

In meinem Kopf hörte ich nun wieder Nouris. „Seht zu, daß ihr Zeit schindet und sichtbare Spuren hinterlaßt“, sagte sie. „Sobald Wiener es sicher nicht mehr mitkriegen kann, lasse ich den Gleiter Aithiras und Pyetar entgegenfliegen, damit sie euch folgen können. Die Lyensai nähert sich ihrem Bahnscheitelpunkt und kann in einer halben Stunde über euch sein. Aber es bleibt abzuwarten, welches Raumfahrzeug dort steht, wo Wiener euch hinführt.“

Wir hatten uns in Bewegung gesetzt und kamen gerade an Merton vorbei, der in diesem Moment sagte: „Ach ja, noch etwas: Legt die Com-Dinger hinter euren Ohren ab und werft sie auf den Sand. Du auch, Talitha; ich weiß, daß du unter deinen Haaren welche trägst.“ Zögernd gehorchten wir, und dann schritt ich den anderen voran zum Ufer hinunter.

Der nun folgende Marsch hätte interessant sein können, wenn unsere Anspannung wegen der ungewissen Zukunft nicht gewesen wäre. In der zunehmenden Dunkelheit wurde das Leuchten der Waldorganismen immer deutlicher sichtbar. Darunter waren auch kleine Tiere, von denen wir nur ihre Leuchtorgane erkennen konnten, wenn sie auf Stämmen und Ästen und am Boden herumkrabbelten oder wie Leuchtkäfer zwischen den Bäumen schwebten. Überall wuchsen orangerosa leuchtende farnähnliche Wedel und lila glimmende moosähnliche Polster. Einmal kamen wir an einem Nachtflammenbusch vorbei, dessen Licht uns fast blendete. Von dem sandigen Ufer aus, auf dem wir zwischen Wald und Wasser entlang gingen und darauf achteten, deutliche Fußspuren und geknickte Pflanzen zu hinterlassen, konnten wir wegen des allgegenwärtigen Leuchtens weiter durch die Bäume hineinsehen, als es in einer irdischen Nacht möglich gewesen wäre. Jedoch war es ein trügerisches und manchmal verwirrendes Sehen, weil es ein diffuses Licht aus vielen unzusammenhängenden Lichtquellen war.

Auch Geräusche gab es, Rufe und Pfeifen und Schnarren, und auch Knacken und Rascheln, als bewegten sich schwere Körper gerade außer Sicht durch den Unterwuchs. Es waren diese Geräusche, die den ausgeprägten Stadtmenschen Wiener nervös machten. Immer wieder drehte er sich mit seinem Gewehr nach hinten um und spähte in den Wald und das gerade passierte Ufergestrüpp, ehe er wieder weiterging.

Aker’shai stieg höher, Thrian’shai begann hinter die Baumkronen zu verschwinden, und einmal sahen wir durch eine Waldlücke am jenseitigen Ufer den dritten Minimond hochkommen. Die Uferböschung wurde allmählich höher, und nach einer halben Stunde erreichten wir die mehrere Meter hohe Felsschwelle, über die das Wasser in eine breite Gumpe rauschte. Fünf Männer standen dort am Ufer und schauten uns entgegen. Zwei waren Weiße, einer sah orientalisch aus, und die anderen zwei waren ein Mulatte und ein Asiat. An ihren Gürteln trugen sie Pistolen in Holstern und lange Dinger, die Schlagstöcke zu sein schienen. Rechts über ihnen standen zwei Xhankh auf der Böschung. Khrek Hrokhar natürlich, und der andere mußte Dhrik oder Narak sein. Hinter den Aliens wölbte sich der breite Rumpfrücken ihres Shuttles über das niedrige Gestrüpp auf der Böschungskante. Ich vermutete, daß Khreks zweiter Assistent sich in der Maschine befand.

„So, stehenbleiben!“ rief Wiener uns von hinten zu. „Ndoni, paß‘ auf sie auf, während ich mit unseren Partnern rede. Lord Khrek, ich grüße Sie.“

„Seien Sie gegrüßt, Meister Mervindo“, antwortete Khrek und machte seine Grußgeste mit den zusammengeklappten Fangarmen, und sein Artgenosse tat es ihm gleich. Wir stellten uns in einer Gruppe zusammen und betrachteten die beiden Wesen, deren Körper sich dunkel vor dem noch schwach rötlichen Abendhimmel abhoben. Diesmal trugen beide jene Trichtereinsätze in ihren Hör- und Atemöffnungen, die Translator- und Kommunikatorfunktion hatten. Khreks Begleiter hielt ein eiförmiges Ding in einem seiner Greifer, das an seiner Rückseite zwei Griffbügel aufwies und etwas wie ein Kameraobjektiv am vorderen Ende. Eine Laserwaffe, wie ich wußte.

„Hallo Khrekkie“, sagte Ndoni hinter uns. Khrek zeigte keine sichtbare Reaktion, aber sein Begleiter zuckte kaum merklich mit den Fangarmen. Der alte Xhankh wandte sich nun an mich:

„Sie haben Ihre Aufgabe sehr gut erfüllt, Meister Feuerstein. Leider muß ich sicherstellen, daß meine Rolle dabei auch von Ihrer Seite geheim gehalten wird. Deshalb habe ich Meister Mervindo gebeten, Sie alle zu diesem Treffen zu bringen.“

„Mit so etwas habe ich gerechnet“, antwortete ich, „nur nicht so früh. Dennoch habe ich vorgesorgt und eine Aufzeichnung unseres Gesprächs sowie gewisse Notizen von Fritzcat und den Datenchip, den Merton mir gegeben hat, an sicherer Stelle deponiert.“

Khrek machte mit seinen Greifern die Xhankh-Geste für amüsierte Gleichgültigkeit. „So etwas habe ich meinerseits erwartet. Deshalb haben wir Sie auch nicht einfach im Flug abgeschossen, sondern hierherbringen lassen. Meine menschlichen Partner hier wollen Sie und Ihre Freunde ohnehin an Bord meines Schiffes zur Überschreibung Ihrer Besitztümer veranlassen, und da können sie Sie auch nach diesen Dingen befragen.“

„Ich freu‘ mich drauf, Flint“, meldete sich nun der größere der beiden Weißen zu Wort, ein hagerer langer Kerl mit sandfarbenem Haar, der mir flüchtig bekannt vorkam. „Ich konnte dich noch nie leiden, seit du in der Earthin-Szene aufgetaucht bist. Jetzt werden wir dir und deiner Witztruppe ein Ende bereiten und uns dabei auch noch bereichern. Danke für den Gefallen, Mervindo.“

„Gern geschehen, Anagast; ich hab‘ ja auch was davon.“

„Moment mal, Merton“, warf ich ein, „hast du gewußt, was es mit den Khenalai auf sich hat, was wir entdecken würden und wozu es führen würde?“

„Nein; Lord Khrek hat mir nur den Tipp gegeben, daß ihr das Ökoinstitut zu Nachforschungen besuchen wollt, und mich beauftragt, euch unter einem Vorwand zu begleiten, um euch ihm anschließend auszuliefern.“

Das gab mir Hoffnung, ihn gegen Khrek aufbringen zu können. „Verdammt, Khrek hat mich doch überhaupt erst auf das mit dem Sontharr-Institut gebracht! Er wollte, daß das herauskommt, was er dort vermutete, damit die Galciv die Aufnahme der Erde aufschieben muß, weil erst die Khenalai soweit beruhigt werden müssen, daß sie euch Juden nicht schon ausrotten, bevor ihr eure Rolle erfüllt habt. Die Unruhen in Zetuca sind die beabsichtigte Folge seines Plans, und du hilfst ihm!“

„Na wenn schon“, sagte Wiener, „dadurch haben die Khenalai wenigstens ihre Präsenz in Zetuca verraten, sodaß wir sie jetzt fertigmachen können.“

„Täusch‘ dich nicht; zufällig weiß ich, daß sie hier so zahlreich sind wie ihr, und viel besser für einen Kampf mit euch vorbereitet und organisiert. Die werden euch erledigen.“

Das schien ihn nachdenklich zu machen. „Woher…“ begann er, überlegte es sich dann aber anders. „Shit happens, und Opfer müssen gebracht werden. Vielleicht ist das auf lange Sicht immer noch besser, als daß wir irgendwann in der Zukunft den Khenalai ins offene Messer gerannt wären.“

„Glaubst du, sie lassen euch mit diesem Wissen davonkommen?“ gab ich zu bedenken. „Ich habe den Verdacht, daß die Galciv von einem Alien-Volk kontrolliert wird, das in seiner Spezies so etwas war wie ihr Juden und die Khenalai unter den Menschen, und das vor Jahrtausenden mit der Galaktisierung begonnen hat. Vielleicht wollen sie, daß ihr euch nach der Aufnahme der Erde ahnungslos in die Galciv ausbreitet und dann den Khenalai ins offene Messer rennt. Und dann richten sie es so ein, daß ihr und die Khenalai einander ausrottet und euch als Konkurrenten in der Parasitenrolle beseitigt, sobald sie beide Völker nicht mehr brauchen. Wenn das stimmt, dann können sie nicht zulassen, daß die Juden außerhalb von Zetuca erfahren, was die Khenalai sind und was heute hier passiert ist. Möglicherweise sollen die hergeschickten Shomhainar-Kräfte auch dafür sorgen, daß niemand aus Zetuca wegkommt.“

„Danke für den Hinweis; dann muß ich jetzt schnell weitermarschieren.“

„Wieso, und wohin?“ fragte Ndoni. „Fliegen wir nicht mit Khrek mit?“

„Mein Beiboot steht weiter flußaufwärts“, erläuterte Wiener. „Seine Sensoren sollten Khreks Shuttle nicht wahrnehmen, damit ich abstreiten kann, ihn hier getroffen zu haben, ohne daß gespeicherte Daten mich verraten. Um eine Geldstrafe für die Aussetzung von Aithiras und Foryash werde ich nicht herumkommen, und für den Vertragsbruch gegenüber den anderen auch nicht. Das werden sie von meinen Konten runterreißen, aber mehr wird nicht passieren, solange nicht herauskommt, was weiter mit ihnen geschehen ist. Vor einer Untersuchung werde ich in Khreks Kreisen untertauchen können, solange seine Verwicklung unbekannt bleibt. Es braucht ja nicht für lange zu sein…“

„…denn bald ändert sich sowieso alles“, ergänzte Anagast Mertons Satz und stieß seinen südosteuropäisch aussehenden Kumpan an, „nicht wahr, Nick?“

„So ist es“, bestätigte dieser mit starkem Akzent. „Die Krieger werden die Macht übernehmen und als Aristokraten herrschen – wir und die Xhankh.“

„Wir werden also noch ein Stück zu Fuß gehen müssen“, fuhr Wiener an Ndoni gewandt fort, „du, ich und Talitha, die ich als meinen Teil der Beute mitnehme.“

Talitha und ich sahen uns erschrocken an. Uns war klar, daß wir in dieser Situation nicht verhindern konnten, getrennt zu werden. Wir konnten nur hoffen, daß Pyetar und Aithiras rechtzeitig kamen, um uns Männer vor Khreks Truppe zu retten – was schon schwierig sein würde – und daß wir danach Merton noch vor seinem Beiboot abfangen konnten. Und wenn Khreks Shuttle hier war, bedeutete das außerdem…

„An deiner Stelle“, sagte ich zu Wiener, „würde ich mich vor Khrek in Acht nehmen. Vielleicht hast du deine Nützlichkeit für ihn schon überlebt, und er schickt dir seine Killerwanze hinterher, um sicherzustellen, daß du nicht über seine Rolle in dieser Sache auspacken kannst. Und im Orbit wird da auch noch sein Schiff sein, das vielleicht die Waffen der Arduinna über eine Softwarebackdoor ferndeaktivieren kann.“ Das würde ihn hoffentlich nervös machen und mit dem Rückstart länger warten lassen, als Khrek sich vermutlich hierzubleiben leisten konnte.

Merton grinste. „Rührend, wie du dich um mich sorgst. Ich kann selbst auf mich aufpassen. Los, gehen wir. Ndoni voran, dann Talitha, und ich mache den Schluß. Hier hinauf, und dann immer am Ufer entlang, bis ihr rechts im Wald meine Maschine seht.“

Talitha wandte sich zu mir um. „Falls wir uns nicht wiedersehen… ich werde dich nie vergessen.“

„Ich dich auch nicht, Dominy“, antwortete ich. „Aber wir werden uns wiedersehen.“

Bei ihr konnte ich wenigstens hoffen, daß sie selbst dann leben würde, falls Pyetar und Aithiras für uns nichts ausrichten konnten. Während wir einander ansahen, ging Ndoni an Talitha vorbei, und ihr Blick traf sich mit meinem. Einen Moment hielt sie inne, dann wandte sie sich ab und schritt auf die Felsbarriere zu. Wiener stieß Talitha mit der Linken zwischen die Schulterblätter. „Geh schon“, sagte er. „Vier Meter hinter Ndoni, und dreh‘ dich nicht um. Ich möchte mich an der Vorstellung weiden, wie du mit Überlegungen ringst, etwas zu unternehmen, aber ich will dir keine Chance dazu geben.“

Während die drei neben der Stromschnelle hinaufkletterten, zogen der Mulatte und der Orientale ihre Pistolen und stellten sich hinter uns auf, um uns von der Richtung abzuschneiden, aus der wir gekommen waren. Dabei redeten sie in jener Shomhuman-Sprache miteinander, die ich in Thansirr kennengelernt hatte, was auf eine Herkunft aus der Subkultur von Gahoriam hindeutete. Die anderen drei waren offenbar Earthins.

Nachdem Wiener hinter der Geländestufe verschwunden war, sagte Khrek zu mir: „Sie haben richtig vermutet – wir haben Vorkehrungen getroffen, um die Waffen von Mervindos Raumschiff blockieren zu können. Seine Hauptwaffen sind jetzt schon außer Funktion. Aber natürlich werden nicht wir ihn hier vernichten, wo andere es sehen können. Sobald er wieder an Bord ist, wird die Shomhainar-Einsatzleitung einen Hinweis auf seine Anwesenheit bekommen, sowie gewisse andere Informationen. Ein Patrouillenschiff wird sich ihm nähern, und Wiener wird auf es schießen. Aber nur seine Seitenwaffen werden funktionieren, und das Patrouillenschiff wird dann sein Raumschiff zerstören. Vielleicht ist Ihnen das eine kleine Genugtuung.“

Das wäre es gewesen, wenn Merton nicht Talitha mitgenommen hätte. Verzweifelt überlegte ich, wie ich unsere Bewacher ablenken konnte, um die Chancen von Pyetar und Aithiras zu verbessern, die hoffentlich bald eintreffen würden. In der Dunkelheit, die nur noch von den Friedhofsmonden, den Leuchtorganismen im Wald und dem schwachen Restlicht des Abendhimmels aufgehellt wurde, sollten die beiden sich recht nahe heranschleichen können.

Einige Minuten lang sagte niemand etwas, und Khrek und seine Leute machten keine Anstalten, mit uns an Bord des Shuttles zu gehen. Die zwei Männer hinter uns begannen sich halblaut zu unterhalten.

„Warten wir auf etwas?“ fragte ich schließlich Khrek.

Das Wesen gab keine Antwort und schaute nur regungslos von der Böschung auf uns herab. Anagast grinste schief. „Du scheinst es ja eilig zu haben“, sagte er. „Lord Khreks Dhrindax ist noch zu weit jenseits des Horizonts, und außerdem… warten wir tatsächlich noch auf jemanden.“

„Auf wen?“ fragte Frido.

„Wartet’s ab“, schnauzte Nick.

Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Khrek sich leicht bewegte. Kurz darauf sagte er etwas in seiner Sprache, ohne daß die Translatoren es übersetzten. Sein Artgenosse antwortete, und nach einem kurzen Gespräch der beiden Xhankh redete wieder Khrek allein, als würde er dem Shuttlepiloten Anweisungen geben. „Wir können doch nicht auf unseren Besuch warten“, sagte er danach zu uns und seinen Partnern. „Es gibt Schwierigkeiten, die es erfordern, daß wir jetzt schon starten. Narak macht das Shuttle bereit.“ Er trat ein paar Schritte zurück bis zur Böschungskante hinauf.

Die drei Earthins vor uns zogen ihre Schlagstöcke, die wir nun als Elektroschocker erkannten. „Ihr habt Lord Khrek gehört“, wandte Anagast sich an uns. „Hinauf mit euch, Flint als Letzter. Tu‘ mir den Gefallen und versuch‘ etwas…“ Er grinste böse und klopfte mit dem Schockstock in seine andere Handfläche. Zweifellos hielten die Männer hinter uns sich bereit, notfalls ihre Pistolen zu gebrauchen.

Frido, Björn und ich sahen einander an, dann setzten die beiden sich zögernd in Bewegung, um vor mir die Böschung hinaufzugehen. In diesem Moment schlug ein grüner Lichtbolzen von links mit lautem Knall in die Laserwaffe von Dhrik, der das feuersprühende Ding sofort fallen ließ. Gleich darauf traf ein zweiter Schuß aus derselben Richtung Khreks rechtes Facettenauge. Das Wesen stieß einen rasselnden Schrei aus, und während es sich der Bedrohung zuwandte, wurde es am rechten Beinansatz getroffen und kippte schnarrend um. Nun überschlugen sich die Ereignisse.

Die drei Earthins warfen ihre Elektroschocker weg, griffen nach ihren Pistolen und drehten sich nach Dhrik um, der im berserkerhaften Blutrausch seiner Spezies zur Felsschwelle stürmte. Weitere der grünen Meteore rasten auf ihn zu, und manche trafen ihn. Sie kamen vom jenseitigen Flußufer oberhalb der Stromschnelle und warfen im Flug einen Lichtschein auf das herabschießende Wasser.

Hinter uns krachte es mehrmals, und ich meinte erstickte Schreie zu hören. Björn nutzte die Ablenkung, um Anagast den Blaster zu entreißen und ihn mit einem Tritt gegen das Knie zu Boden zu schicken. Frido hob Anagasts Schockstock auf, schlug damit Nick von hinten auf den Kopf und nahm dessen Pistole. Nachdem die beiden ihre Gegner erschossen hatten, feuerten sie dem Asiaten hinterher, der Dhrik folgte.

Währenddessen kam Khrek über die Böschung heruntergerutscht. Halb auf der rechten Seite liegend, arbeitete er sich verblüffend schnell mit seinen Fangarmen und dem linken Bein voran, stieß sich kurz mit dem rechten Arm hoch und schnellte auf mich zu. Dabei rutschte sein Fuß nach links weg, sodaß ich gerade noch ausweichen und seinen zustoßenden linken Mantisarm abblocken konnte. Ein Schmerz wie vom Schlag einer Holzlatte stach durch meinen Unterarm, und die gezähnte Innenkante des vordersten Fangarmglieds riß mir die linke Schulter und den Oberarm auf. Khrek stürzte an mir vorbei auf den Ufersand, und ich wich zwei Schritte zurück und trat dabei auf die Leiche des Orientalen. Als ich wieder aufschaute, wurde der über die Felsen hochkletternde Asiate gerade von Laserschüssen in den Hintern und Rücken getroffen und fiel in die Stromschnelle. Dhrik erreichte die Oberkante der Geländestufe.

Auf der Waldlichtung, wo Khreks Shuttle stand, hatte ein turbinenähnliches Pfeifen begonnen, in das sich ein leises Grummeln mischte. Das bedeutete höchste Gefahr, denn die Maschine war bewaffnet, und wenn sie aufstieg und ihr Herr ihr Zielansprache gab, würde sie uns erledigen. Ich packte einen schweren Stein und warf ihn nach Khrek, der halb im Wasser lag und gerade sein unverletztes Bein unter sich bringen wollte. Der Brocken traf seinen Hinterleib und prallte ohne merkliche Wirkung ab, außer dass Khrek wieder hinfiel. Björn und Frido schossen nun auf Dhrik.

„Hier!“ sagte eine Männerstimme rechts hinter mir, und als ich mich umwandte, hielt Pyetar mir die Gaußpistole des Mulatten hin. Er trug eine Kopfhörer-Mikro-Kombination und ein Gaußgewehr aus dem Gleiter, und oberhalb von ihm stand Aithiras auf der Böschung, mit demselben Waffentyp in den Händen. Ich nahm die Pistole, und Pyetar ging in den Kniendanschlag, um die dunkle Silhouette von Dhrik zu beschießen, der schon oberhalb der Stromschnelle durch den Fluß watete, scheinbar unbeeindruckt von dem Beschuß, der ihm aus dem niedrigen Ufergebüsch entgegenschlug. Aithiras folgte Pyetars Beispiel.

Khrek hatte sich unter röchelndem Schnarren herumgedreht, sein linkes Bein unter den Körper gezogen, und humpelte darauf und auf seinen Fangarmen auf uns drei zu. Ich richtete die Leuchtpunkte der Visierung auf ihn und gab Sperrfeuer. Die gelbroten Glutklümpchen schlugen in den Körper, eines riß den linken Fangarm ab, und als das Magazin leer war, ließ ich die Pistole fallen, hob einen weiteren Steinbrocken auf und schleuderte ihn aus zwei Schritt Entfernung auf Khreks rechten Arm. Dessen alterssprödes Exoskelett zerbrach, sodaß ich an den gestürzten Xhankh herantreten und den Stein wieder an mich nehmen konnte. Als ich ihn hochstemmte, sah ich, wie Dhrik oben endlich wankte und umfiel. Die Strömung riß ihn über die Stromschnelle hinunter, aus der wir nur kurz seine Beine ragen sahen, während er sich auf den überspülten Felsen überschlug, ehe er in der schäumenden Wasserwalze der Gumpe verschwand. Selbst wenn Xhankh schwimmen könnten, wäre er darin verloren gewesen.

Ich schmetterte den Stein mit dem schmalen Ende voran zwischen Khreks Augen, wo er ein Loch schlug, und trat zurück, damit Aithiras und Pyetar ihm mit ihren Gewehren den Rest geben konnten. Frido und Björn liefen auf uns zu, geduckt, denn die Geräusche des Shuttles waren lauter geworden. Wir schafften es gerade noch, im Wald zu verschwinden, als die Maschine über den Fluß herausschwebte und sich der Stelle zuwandte, von der die ersten Schüsse gekommen waren. Während wir weiter in den Wald hineinrannten, hörten wir mehrmals das Knattern ihrer Bordkanonen. Dann kam sie im Bogen zurück, schwebte wie suchend in unserer Nähe herum und zog einmal sogar fast direkt über das Dickicht hinweg, in dem wir uns verkrochen hatten. Wieder feuerte sie eine Salve ab, und dann noch einmal, und endlich entfernte sie sich mit Vollschub nach Osten, offenbar von ihrem Mutterschiff zurückgerufen. Das durch den Dopplereffekt immer tiefer werdende Grollen ihres Plasmastrahls verriet uns, wie sie beschleunigte.

Bei der Rückkehr zum Fluß fanden wir dort nicht nur unseren Gleiter vor, den Pyetar herbeigerufen hatte, sondern auch zwei mit Gewehren bewaffnete Frauen, die am jenseitigen Ufer standen. Eine erkannte ich trotz der Dunkelheit an ihrem bloßen Oberkörper als Talitha, die andere schien einen blauen Catsuit zu tragen. Ndoni.

Wir stiegen ein, schwebten über den Fluß und holten die beiden Frauen ab. Nachdem die Rampentür geschlossen war und Talitha und ich uns kurz, aber innig begrüßt hatten, verstauten wir die Waffen, versorgten meinen blutenden Arm und gingen im bereits steigenden Gleiter nach vorn, wo die anderen schon angeschnallt saßen. Auf dem Weg fragte ich Ndoni: „Was war das denn heute für ein Zickzackkurs von dir?“

„Das war kluge Wahrung meiner Interessen. Als Merton seine Luftpiratennummer abzog, wäre ich ja blöd gewesen, wenn ich nicht erst einmal mitgemacht hätte, wo er mich schon darum fragte.“

Erst einmal? Heißt das, du wolltest zunächst auf der sicheren Seite abwarten, ob sich eine Gelegenheit für ein Eingreifen für uns ergibt?“

„Nun…“, begann sie und fuhr dann bestimmter fort, „ich habe mich schon während des Fluges gefragt, welche Eventualpläne er für den Fall gehabt hatte, daß ich nein sage. Und ob er diese Pläne vielleicht auf jeden Fall durchführen würde, sobald er mich nicht mehr brauchte. Vor allem nach dem Gespräch mit Khrek erschien es mir denkbar, daß er mich als Mitwisserin in dieser großen Sache loswerden wollte und Khrek das wußte. Beim Weitermarsch hatte ich ein ganz ungutes Nackenhärchengefühl.“

„Das war wohl berechtigt. Khreks Männer sagten, wir müßten noch auf jemand warten. Vielleicht wollte Merton dir nach Erreichen seines Beibootes die Waffen wegnehmen und dich zu Khrekkie zurückschicken, wo man dich gefangengenommen hätte, um dir dein Eigentum abzupressen.“

„Hab‘ ich’s doch geahnt. Deshalb habe ich sein ständiges nervöses Zurückschauen ausgenützt und ihn gezwungen, sein Gewehr Talitha zu geben. Danach mußte er seine Klamotten ausziehen und mit Steinen beschwert in den Fluß werfen und durfte nur seinen Controller behalten. Ich wollte, daß er sich total verwundbar fühlt und nur noch zu seiner Spinderella laufen will, um sich darin zu verkriechen.“

„Und das hat er dann getan“, fügte Talitha hinzu und setzte sich. „Falls er Khreks Shuttle wegfliegen gehört hat, ist er jetzt wahrscheinlich auch schon in der Luft.“

„Das stimmt“, bestätigte Pyetar von vorne. „Die Ortung zeigt ein kleines Objekt nordöstlich von uns an, das schnell steigt. Das sollten wir jetzt auch tun.“

Damit hatte er Recht. Ich setzte mich neben ihm auf den linken Vordersitz und sagte: „Nouris, führe uns schnellstmöglich an die Lyensai heran.“

Der Gleiter nahm den Bug hoch und beschleunigte, und parallel dazu streckten unsere Sitze sich zu Andruckliegen. Aker’shai wanderte in die obere Mitte unseres Sichtfelds, und rechts darunter sahen wir Thrian’shai. Die Beschleunigung nahm auf drei g zu.

Auf dem Rückmarsch zum Fluß waren Frido, Björn und ich von Aithiras und Pyetar kurz über die Lage im Weltraum informiert worden. Die Lyensai war auf ein Xhankh-Raumschiff in einem äquatornahen Orbit aufmerksam geworden, und Nouris hatte die Lyensai vorsichtshalber abbremsen und hoch über dem Kontinent, auf dem wir gelandet waren, in Schwebe gehen lassen. Nachdem Pyetar und Aithiras abgeholt und von Nouris ins Bild gesetzt worden waren, hatten sie Mertons Entführungsakt angezeigt und den Verdacht hinzugefügt, daß Khrek Hrokhar, dem vermutlich das im Orbit befindliche Xhankh-Schiff gehöre, etwas damit zu tun habe. Bald darauf waren zwei Shomhainar-Patrouillenschiffe auf Annäherungskurs zur Dhrindax gegangen, die nun aus dem Orbit beschleunigte, mit ihrem Shuttle hinterher. Die Shomhainar nahmen die Verfolgung auf.

Wir sahen zu, wie die Entfernungsanzeige zur Lyensai schrumpfte, die selbst bereits in Richtung Thrian’shai beschleunigte, sodaß wir nicht abzubremsen brauchten, wenn wir sie erreichten. Wenige Minuten nach Verlassen der Atmosphäre rief Nouris uns an.

„Ich muß die Lyensai stärker beschleunigen lassen“, sagte sie. „Ein Polizeiboot der Schemirah ruft sie an und fordert sie auf, den Antrieb abzuschalten, damit es andocken kann.“

„Merton“, sagte Frido hinter mir. „Der hat uns bestimmt bei den zetucanischen Behörden angeschwärzt.“

„Wahrscheinlich.“ Meine Stimme klang wegen des Andrucks ähnlich gepresst wie seine. „Nouris, was hast du vor?“

„Ich verlege das Rendezvous weiter nach außen und lasse euch noch etwas stärker beschleunigen. Gebt Bescheid, bevor es euch zuviel wird.“

„Was soll das denn bringen?“ fragte ich. „Das ist ein Orbitalpolizeiboot, und die Lyensai ist bloß ein Frachter. Die können wir nicht abhängen.“

„Ich mach‘ das schon“, wimmelte sie mich ab. „Du weißt, was jetzt Priorität gegenüber deinen Befehlen hat.“

Mir war klar, daß weiteres Argumentieren zwecklos war. Ebenso klar war mir, daß Aithiras und Pyetar jetzt fragend zu mir hergesehen hätten, wenn sie ihre tief in der Formpolsterung versunkenen Köpfe so weit hätten drehen können. Die Beschleunigung steigerte sich noch etwas, und unser projizierter Kurs zielte auf den sonnenbeschienenen Osthorizont der Mondsichel von Aker’shai.

Uns blieb nur noch, das ablaufende Drama auf unseren Bildschirmen zu verfolgen. Das Polizeiboot, das aus einem polaren Orbit gekommen war, paßte seinen Kurs an und beschleunigte, und die Lyensai ebenfalls, deutlich stärker als wir, aber natürlich war sie ihrem Verfolger unterlegen. Dessen Abfangkurs würde ihn über die Nordkalotte von Aker’shai hinwegführen und ein Stück jenseits davon in Schußdistanz bringen. Wir sahen die Plasmastrahlen der beiden Schiffe mit bloßem Auge als Lichtpunkte, und die Telekameras holten sie als kleine Silhouetten auf unsere Bildschirme. Separate Bildausschnitte zeigten sie im Infraroten, in dem auch Aker’shais dunkle Seite orange glühte.

Währenddessen hatten die Dhrindax und ihr Shuttle auf die Shomhainar zu schießen begonnen, und diese erwiderten das Feuer. Die Dhrindax flog mit dem Heck voran, um alle ihre Waffen einsetzen zu können, wodurch sie keine Plasmastrahlen zur Schubverstärkung einsetzen konnte. Die zwischen den Kämpfenden ausgetauschten Laserstrahlen waren ultraviolett und damit unsichtbar, aber ihre thermische Wirkung auf den Zielen zeigte sich wie jene der Teilchenstrahler und Gaußkanonen in wiederholtem Aufleuchten. Von der Dhrindax lösten sich zwei Objekte – anscheinend Beiboote – und flogen den Verfolgern auf bogenförmigen Rammkursen entgegen, wodurch sie sie zu Abwehrfeuer zwangen. Sie wurden zerstört, aber ihr Mutterschiff konzentrierte seinen Beschuß auf eines der Patrouillenschiffe, das schwer beschädigt wurde und zurückfiel. Das ermöglichte Khreks Shuttle, es einzuholen und mit einer Wucht zu rammen, die beide Fahrzeuge in einer glühenden Gas- und Trümmerwolke explodieren ließ. Daraufhin versuchte das zweite Shomhainar-Schiff sich zurückzuziehen und wurde von der Dhrindax verfolgt. Zwei weitere Patrouillenschiffe flogen ihr von Ssrranths Nordpol her entgegen.

Ich löste meine Aufmerksamkeit von diesem Kampf und sah durch die Bugkuppel nach vorn, wo die Lyensai nicht mehr weit von Aker’shai entfernt war. Eine Viertelstunde war vergangen, seit wir die Atmosphäre verlassen hatten. Mit Verzögerung wurde mir bewußt, welche am Rand des Sichtfelds wahrgenommene Veränderung mich zum Aufschauen veranlaßt hatte: Das Plasmafeuer aus den Konverterdüsen der Lyensai war erloschen. Sie beschleunigte aber immer noch stärker als wir, und nun wurde sie wieder etwas heller. Auf den Bildschirmen war zu sehen, wie sie uns ihre sonnenbeschienene Breitseite zuwandte, während sie ihr Heck auf das Polizeiboot richtete. Dieses leuchtete plötzlich im Infraroten auf, während gleichzeitig seine Beschleunigung nachließ.

„Was tut Nouris da?“ fragte Aithiras vom rechten Vordersitz her.

„Sie läßt die Ionenkanone der Lyensai auf das Schemirah-Boot schießen“, erklärte ich. „Auf diese Entfernung ist die Streuung zwar größer als das Ziel, aber die Strahldichte reicht offenbar, um die Elektronik und wohl auch die Besatzung durch Teilchenschauer und Bremsstrahlung zu schädigen.“

„Wie ist das möglich?“ warf Pyetar ein. „Diese Waffe sollte doch deaktiviert sein, und außerdem hätte das Kontrollprogramm dafür sorgen müssen, daß die KI des Schiffes einem Polizeifahrzeug gehorcht, wahrscheinlich auch einem zetucanischen.“

„Ich erklär’s später“, wehrte ich ab.

Die Lyensai passierte nun Aker’shais Osthemisphäre – von uns aus gesehen rechts von dem Mond – und verschwand damit aus der Sichtlinie des Polizeibootes, auf dem eine Anzahl von Einschlägen aufblitzte. Offenbar hatte die Lyensai kurz zuvor noch eine Salve von Kinetic-Geschossen abgefeuert, die es mit Verzögerung erreichten. Es flog antriebslos weiter, und da es seinen Abfangbogen nicht mehr vollendete, der es hinter Aker’shai vorbeigeführt hätte, schlug es jenseits des Nordpols auf. Den Feuerball sahen wir nicht, aber Sekunden später erschien eine Trümmerwolke über dem Nordosthorizont, deren größere Brocken noch sichtbar glühten, während der Rest von der Infrarotkamera angezeigt wurde. Ich fragte mich, wie wir uns aus dieser Sache herausreden würden, falls jemand das mitbekommen hatte. Zwischen Ssrranth und Thrian’shai waren viele Schiffe unterwegs.

Die Schiffs- und Gesteinstrümmer selbst waren keine Gefahr für uns, denn wir rasten in geringer Höhe südlich des Äquators über Aker’shai hinweg. Auf dieser Seite war die dünne, runzlige Schlackenkruste an vielen Stellen von den Trümmern zweier Minimonde durchschlagen worden. Das war vor einem halben Jahrtausend geschehen, und die Lava innerhalb der Kraterwälle war schon wieder zu glatten dunkelgrauen Ebenen erstarrt. Je tiefer wir kamen, desto schneller zog diese heiße Fels- und Metallwüste unter uns vorbei, bis ihre Details zu verschwimmen begannen. Einen erschreckenden Moment lang sah es so aus, als würden wir einen flachen Hügel streifen, dann wich der Boden wieder zurück, und zwanzig Sekunden später hatten wir wieder Sichtverbindung zur Dhrindax.

Die Xhankh hatten inzwischen das zweite Patrouillenschiff zerstört und bremsten ihre bisherige Bewegung ab. Gleichzeitig beschleunigten sie radial zum Planeten. Wenige Minuten später war klar, daß sie nach Thrian’shai fliegen wollten, und ebenso klar war, daß sie uns dabei trotz ihrer durch Kampfschäden verringerten Antriebsleistung einholen würden, bevor wir selbst dort ankamen. Die Frage war nur, ob sie durch das Wurmloch wollten – vielleicht weil ihr Warpantrieb beschädigt war – oder ob sie es auf uns abgesehen hatten. Oder beides.

Ich rief Nouris an. „Puffy, jetzt wäre es an der Zeit, daß wir zur Lyensai kommen. Laß‘ sie antriebslos fliegen, bis wir an Bord sind. Da sie stärker beschleunigen kann als der Gleiter und wir in ihrer Zentrale Gravoausgleich haben, können wir trotzdem früher bei dir sein, als wenn sie noch eine Weile auf den Gleiter Rücksicht nehmen müßte.“

„Das stimmt schon“, wandte Nouris ein, „aber sie wird dann auch schon früher und damit länger der Waffenwirkung des Xhankh-Schiffes ausgesetzt sein. Ich schlage vor, daß ihr wieder auf dreieinhalb g erhöht und ich die Lyensai mit so weit verringerter Beschleunigung weiterfliegen lasse, daß ihr sie einholt, ehe die Xhankh auf praktische Laser- und Kineticreichweite heran sind. Sie haben im Kampf vorhin ihre Teilchenkanone zuletzt nicht mehr eingesetzt, und anscheinend auch nur einen Laser. Meine Taktikanalyse gibt für diese Vorgangsweise eine etwas höhere Überlebenschance an.“

„Wie lange würde es in diesem Fall noch bis zum Eindocken dauern?“ fragte ich.

„Knapp zwölf Minuten.“

„Was meint ihr anderen dazu?“

Frido und Björn stimmten zu, Pyetar sagte: „Sie müssen wissen, wie weit Sie dem Urteil ihres Schiffes vertrauen können“, und die drei Frauen schwiegen beklommen.

„Okay, Puffy“, sagte ich. „Machen wir es so. Laß‘ uns aber acht Konverterbeiboote entgegenfliegen; du weißt schon, welche ich entbehren kann. Sie sollen die Dhrindax beschießen und sie zu rammen versuchen. Vielleicht können sie sie beschädigen, und auf jeden Fall werden sie sie eine Weile von uns ablenken. Sobald die Xhankh auf den Gleiter zu schießen anfangen, nimmst du sie mit den Waffen der Lyensai unter Feuer.“

Die folgenden elf Minuten waren eine körperliche und psychische Strapaze. Das Xhankh-Schiff jagte hinter uns her, holte trotz unserer brutalen Beschleunigung schnell auf und wurde selbst zunächst von den beiden Patrouillenschiffen verfolgt. Diese blieben aber nach wenigen Minuten plötzlich zurück, und der Grund dafür wurde uns klar, als wir den Kurs der Dhrindax vorausprojizierten: Er führte genau auf Thrian’shais Wurmlochkomplex zu. Offenbar hatten die Xhankh ihre Absicht mitgeteilt, sich die Passage durch das Hauptwurmloch zu erzwingen, und gedroht, ihr Schiff in die Anlage krachen zu lassen, wenn man sie abschießen oder ihnen den Durchflug verweigern würde. Nouris brachte sich jenseits des Horizonts der Anlage in Sicherheit, für den Fall, daß sie das Wurmloch verfehlten.

Unklar blieb, warum sie die Sache überhaupt so weit hatten eskalieren lassen und wie es aus ihrer Sicht weitergehen sollte, falls sie es schafften, mit diesem Wahnsinnstempo durch das Wurmloch zu rasen und von Babylon 6 aus ihre Basis auf dem mittleren Mond von Dhroxharkh zu erreichen. Danach konnte ihre Führung sie nur entweder ausliefern oder einen Krieg mit der Galciv riskieren, und es war ausgeschlossen, daß ein subalterner Xhankh an Bord der Dhrindax zu solch einer Entscheidung befugt war. Entweder dachten sie nicht mehr rational, oder es befand sich noch jemand von Khreks Bedeutung an Bord, dessen Verwicklung geheim bleiben mußte und der beschlossen hatte, einen ohnehin vorbereiteten Krieg schon jetzt auszulösen.

Wir flogen so, daß das Heck und der Hitzeschild des Gleiters dem Feind zugewandt waren, und die Bord-KI variierte die Beschleunigung nach einem Zufallsmuster in Stärke und Richtung, um ein schlechtes Ziel für Kinetics zu bieten. Gegen Laser half diese ruppige Flugweise jedoch nichts. Kurz bevor wir die Lyensai erreichten, wurden wir von einem Schlag durchgeschüttelt, der von einem dumpfen Knall begleitet war. Ein Laserblitz hatte unsere Unterseite in flachem Winkel getroffen und trotz seiner Verteilung über mehrere Quadratmeter etwas Material explosiv verdampft. Sekunden später folgte ein Treffer weiter vorn, und dann krachte es ganz laut am Heck. Unser Schub ließ nach.

„Schieße jetzt zurück“, meldete Nouris. „Der Teilchenstrahl hat sie überrascht, aber jetzt lassen sie ihre Kinetics fliegen. Ich decke euch mit der Lyensai.“

Der Raumfrachter, aus dessen Heck wir den dünnen blaugrünen Ionenstrahl schießen sahen, bremste und näherte sich uns auch seitwärts. Keine weiteren Laserschüsse trafen uns.

„Nouris, was ist mit den Beibooten?“ fragte ich.

„Die sind noch eine halbe Minute von euch entfernt, und die Dhrindax lasert gerade eines davon. Sie hält ihre Gaußkanonen auf die Lyensai gerichtet und dreht sich um die Längsachse, um mit dem Laser die Beiboote nacheinander zu beschießen. Das erste ist jetzt ausgefallen.“

Inzwischen war die Lyensai schon ganz nahe und hatte sich schräg gedreht, um uns vor den Kinetic-Geschossen abzuschirmen, die gerade anzukommen begannen. Der Gleiter flog auf die offene Beibootschleuse in der stahlblauen Rumpfwand zu und koordinierte sich mit seinem Mutterschiff, dessen Bewegung unruhig wurde. Jedes Mal, wenn eines seiner Influx Antriebselemente oder dessen Zuleitung getroffen wurde, fiel asymmetrisch etwas Schub weg, und das Schiff wackelte ein wenig, bis es sich wieder stabilisierte. Als wir die Schleuse schon unmittelbar vor uns hatten, schlugen Geschosse in einem der Massekonverter ein. Die Einflugöffnung ruckte nach links, und wir streiften ihren rechten unteren Rand und schlitterten mit dem Gleiter über den Schleusenboden, bis wir gegen die Rückwand stießen. Wir schnallten uns los und standen auf, noch steif von der Belastung durch die Beschleunigung. Während wir nach hinten zur Rampenluke gingen, meldete sich die KI der Lyensai.

„Der Druckausgleich kann nicht hergestellt werden“, warnte sie uns. „Das Tor läßt sich nicht ganz schließen, weil die Führung durch euren Aufprall verbogen ist.“

Das hatte ich befürchtet. „Wie weit konnte das Tor herunterkommen?“ fragte ich.

„Bis auf die letzten dreiundfünfzig Zentimeter“, informierte uns das Schiff.

Also ein ausreichend hoher Spalt, daß man durch ihn hinausgeweht werden konnte. Und da wir keine Raumanzüge im Gleiter hatten, konnten wir auch nicht im Vakuum zur Personenschleuse in der linken hinteren Ecke gehen.

„Lyensai, beginne jetzt mit der Flutung der Schleuse“, wies ich die KI an. „Laß‘ reinen Sauerstoff einströmen, in Tornähe maximal und weiter innen nur so viel, wie für den Aufbau eines Drucks nötig ist, den wir ohne Schäden überstehen können. Senke auch den Druck auf diesem Deck in die Nähe dieses Wertes ab. Sobald wir aussteigen, beschleunigst du seitwärts in Richtung der Toröffnung, bis wir alle die Schleuse verlassen haben, und sobald die Tür hinter uns zu ist, stellst du den Normaldruck auf dem Deck wieder her. Ich beginne jetzt schon mit dem Luftablassen aus dem Gleiter.“

„Wird gemacht“, bestätigte das Schiff, und während draußen ein schwaches Zischen ertönte und allmählich lauter wurde, ließ ich über die Konsole neben der Luke Luft aus der Kabine ab, drehte die Sauerstoffzufuhr voll auf und beobachtete die Druckanzeigen für innen und außen. Wir hyperventilierten, um unser Blut mit Sauerstoff anzureichern und gelösten Stickstoff loszuwerden, und währenddessen nahmen die Schmerzen in unseren Ohren und Eingeweiden zu. Als der Außendruck nicht mehr stieg, ließ ich die Luke aufklappen und stieg in die eisige Kälte hinaus.

Der Gleiter war nach rechts verdreht zu liegen gekommen, sodaß wir uns an seine linke Flanke gedrückt nach vorn arbeiten konnten. Durch die Querbeschleunigung des Schiffes bestand nun für uns ein Gefälle in Richtung der Rückwand, das uns ebenfalls dabei half, gegen die Luftströmung anzukommen, die mit gedämpftem Brausen durch den Spalt unter dem Schiebetor in den Weltraum entwich. Ich hielt mich mit dem rechten Arm am Lukenrand fest und verspreizte die Beine zwischen Bordwand und Ausstiegsrampe. Pyetar, Björn und Frido bildeten eine Schutzkette von meiner Linken nach innen, und dann schoben die drei Frauen sich schnell, aber konzentriert am Gleiter entlang und sprinteten durch die Tür in den Korridor.

Nachdem wir ihnen dorthin gefolgt waren und die Tür geschlossen hatten, gingen wir keuchend in die Hocke. Über dem Zischen der einströmenden Luft hörten wir das regelmäßige Stakkato der Gaußkanonen, das durch Körperschall aus dem verdickten Vorschiff der Lyensai zu uns drang, und die ungleichmäßigen Einschläge der feindlichen Geschosse. An der schneller werdenden Drehung des Decks spürten wir, wie das Schiff bestrebt war, sein Heck auf die Dhrindax gerichtet zu halten, die uns nun überholte.

„Nouris, Statusbericht!“ sagte ich.

„Die Beiboote sind alle zerstört, haben den Feind aber beschädigen können. Er schießt jetzt nur noch mit zwei Gaußkanonen. Die Lyensai hat auch nur noch zwei intakte, ihre Teilchenkanone ist beschädigt, und ihre Antriebsanlage wird bald ganz zerschossen sein. Ihr seid nur noch drei Minuten von Thrian’shai entfernt – du weißt, was das bedeutet.“

Das war mir tatsächlich klar. Ein Abbremsen bis zur Oberfläche wäre unmöglich gewesen, daher waren wir davon ausgegangen, daß die Lyensai bremsend an dem Mond vorbeifliegen und jenseits davon auf ein Rendezvous mit Nouris warten würde. Jetzt war jedoch fraglich, ob sie noch so weit quer zu ihrem Kurs manövrieren konnte, und außerdem würde die Dhrindax das Wurmloch vor uns erreichen. Falls sie daneben einschlug, würde uns die resultierende Explosion von mindestens zwanzig Megatonnen vernichten. Uns blieb nur noch ein Ausweg – falls Nouris diesen nicht verschlossen hatte, um ihre Geheimnisse vor Ndoni und unseren beiden Shomhainar-Agenten zu bewahren.

„Schnell in den Kontrollraum!“ sagte ich und sprang auf. Die anderen erhoben sich ebenfalls, aber Pyetar sah mich fragend an.

„Was soll uns das helfen?“ wandte er ein. „Wir können nichts mehr machen!“

„Dort gibt es eine Fluchtmöglichkeit!“

„Die Rettungskapsel?“ fragte Aithiras. „Darin haben wir doch nicht alle Platz!“

„Etwas anderes. Schnell jetzt!“

Sie folgten Talitha, Björn und Frido, und gemeinsam stürmten wir über die Wendeltreppe hinauf. Den Aufzug wagten wir nicht zu nehmen, da das Schiff immer noch von Treffern erschüttert wurde. Zwei Decks höher rannten wir zum Kontrollraum, dessen Tür die Lyensai schon für uns geöffnet hatte. Der große Frontbildschirm war von der näherkommenden Oberfläche Thrian’shais ausgefüllt, und die Telekamera zoomte der Dhrindax hinterher, die mit dem Heck voran darauf zufiel.

Ich öffnete den Fluchtkapselschacht neben dem Eingang und sah mit Erleichterung, daß die Luke des mobilen Wurmlochportals offen war und die flexiblen Auskleidungen sich von beiden Seiten in den Tunnel hinein entfaltet hatten. Von der anderen Seite her floß Wasser heraus. Auf meinen Wink hin schlüpfte Talitha hindurch.

Während der Rest unserer Gruppe ihr durch den anschwellenden Sturzbach hinterherplatschte, schaute ich gebannt zum Frontschirm. Das Bild war maximal gezoomt, sodaß nun erkennbar war, wie schnell das Xhankh-Schiff uns davonstürzte. Es schrumpfte in Sekunden zu einer winzigen Doppelkugel zusammen, tauchte glatt in das Wurmloch ein und verschwand.

Und das Wurmloch verschwand mit ihm.

Im ersten Moment sah es wie eine optische Verzerrung aus: das Wurmlochportal zog sich blitzschnell zusammen, und ehe ich noch verarbeitet hatte, was ich da sah, wurde das Felsmaterial um den Einflugtrichter von einem Beben zertrümmert und stürzte zur Mitte. Durch die Gesteinslawine schossen glühende Gase hoch und rissen Bruchmaterial mit. Es sah dramatisch aus, aber es war viel weniger, als die kinetische Energie der Dhrindax hätte bewirken müssen. Und dann erkannte ich, wo die Lyensai aufschlagen würde.

„Fünfzehn Sekunden!“ Nouris‘ Stimme riß mich vom Bildschirm los. Hastig duckte ich mich und watete durch den Wurmlochtunnel. Hinter mir fiel die Luke zu, und das schon knietiefe Wasser begann sich zu stauen. Ich stolperte, rutschte aus und fiel nach vorn. Von der anderen Seite griffen Talitha und Frido zu und zogen mich in die Portalstation in Nouris‘ Bauch hinüber. Dieser Raum schien seltsam schräg zu stehen, sodaß das über die Wände und Anlagen herabfließende Kühl- und Löschwasser sich vor dem Portal staute, durch das wir gekommen waren. Wir eilten zu den anderen in den Vorraum hinaus, in den das Wasser wegen der Schräge nicht reichte, und die Schiebetür sauste wie ein Fallbeil herab. Noch ehe sie ganz geschlossen war, ertönte dahinter ein dumpfer Knall, dem ein Brodeln und Zischen folgte. Grünes Licht strahlte durch den sich plötzlich langsamer schließenden Spalt, und heißer Dampf fauchte heraus, bis die Türplatte den Boden erreichte. Die Bordschwere kehrte in die Senkrechte zurück, und Deckenventilatoren saugten die Saunahitze aus dem Vorraum ab.

„Nouris“, fragte ich, „sind wir sicher?“

„Derzeit ja.“

„Dann können wir mit dem Lift zur Zentrale hinauffahren.“

Im Kontrollraum sahen wir, daß das Schiff vier Kilometer über Thrian’shai schwebte. Die Mondlandschaft war wie von Bodennebel verschleiert: Staub, der durch Bebenwellen aus dem Regolith hochgeschüttelt worden war und nun durch die UV- und Röntgenstrahlung der Sonne elektrostatisch aufgeladen wurde, sodaß er in der geringen Schwerkraft zu schweben begann. Diese gigantische Erschütterung war zum allergrößten Teil durch die Hawking-Explosion des Schwarzen Loches verursacht worden, das in der Lyensai entstanden war, nachdem Nouris das Wurmloch durch Abschalten des Portals auf ihrer Seite hatte kollabieren lassen.

Ich war mir schon damals sicher, daß sie das absichtlich so schlagartig getan hatte, nachdem sie auch den Raumfrachter genau auf den Wurmlochkomplex der Sontharr hatte stürzen lassen, statt ihn wenigstens ein paar hundert Kilometer zur Seite zu lenken, wie es hätte möglich sein müssen. Als mir später einfiel, daß sie durch ihre Autorisierungscodes mit diesen alten Lwaong-Anlagen kommunizieren und sie vielleicht sogar kontrollieren konnte, kam mir der Verdacht, daß sie in diesen Sekunden noch viel mehr getan hatte.

Über dem Westhorizont waren noch viel stärkere Auswirkungen sichtbar. Riesige sonnenbeschienene Staubschwaden reichten viele Kilometer hoch, und darüber trieben die Raumschiffe, die wegen der Dhrindax auf ihre Passage hatten warten müssen und für den Fall, daß diese das Wurmloch verfehlte, auf Sicherheitsabstand gegangen waren. Sie waren von einer Explosion überrascht worden, die tausendmal stärker als erwartet war und sie mit ihrem Röntgenblitz und dem nachfolgenden Hagel von Gesteinssplittern zerstört hatte. Eine Wolke von Felstrümmern breitete sich kegelförmig in den Weltraum aus und würde in einigen Stunden auf den Planeten fallen. Auf ihrem Weg näherten sich die beiden Shomhainar-Patrouillenschiffe, die die Xhankh zuletzt verfolgt hatten und nun mit Ausweichmanövern begannen.

Die schlimmsten Folgen hatte das, was später Feuerfall-Katastrophe genannt werden sollte, auf Ssrranth, das als blauweißlila Sichel hoch am Himmel stand, gut fünfeinhalbmal so groß wie Luna von der Erde aus. Wie sich später herausstellte, waren alle Wasserzufuhr-Wurmlöcher zu ihren planetenseitigen Portalen hin kollabiert und zu Schwarzen Löchern mit Massen zwischen Tausenden und Zigtausenden Tonnen geworden, die den Bahnimpuls ihres Thrian’shai-seitigen Massenanteils mitgenommen hatten.

Mit dieser Geschwindigkeit waren sie auf Ssrranths Tagseite unterschiedlich steil in die Kruste eingedrungen und auf der Nachtseite in ebenso verschiedenen Winkeln durch die Lufthülle aufgestiegen. Dabei waren die leichtesten schon in den ersten Sekunden mit der Energie von Millionen Megatonnen TNT explodiert, hatten riesige Mengen von Gesteinsmaterial in den Raum geschleudert oder weite Landstriche unter sich mit ihrer Strahlung verbrannt, Druckwellen durch die Atmosphäre rasen lassen und Tsunamis ausgelöst.

Etwas schwerere dieser Schwarzen Löcher hatten ihre Masse gerade erst durch Hawking-Strahlung unter tausend Tonnen verringert und explodierten nun vor unseren Augen, und noch größere würden das in der nächsten Zeit tun. Die massivsten würden lange genug bestehen bleiben, um in den Kern des Planeten zu fallen und dort zu explodieren, sofern nicht ihre Lebensdauer durch die Masseaufnahme auf dem Weg so weit verlängert wurde, daß sie auf der anderen Seite wieder bis unter die Kruste aufsteigen konnten.

Die meisten Wurmlochportale waren in den Tropen und Subtropen installiert gewesen, und dort konzentrierten sich die Zerstörungen. Großflächige Lavaseen und Waldbrände leuchteten zu uns herauf, in der Atmosphäre verglühten überall Brocken des Auswurfmaterials wie Milliarden Meteore, und über der Nachtseite hüllten Auroren die niederen Breiten ein und dehnten sich zu den Polen hin aus. Wie beim Chicxulub-Impakt am Ende der Kreidezeit würde es Stunden bis Tage dauern, bis das gesamte hochgeschleuderte Material wieder zurückgefallen war. Alle Raumschiffe und Satelliten im Orbit wurden in diesen Minuten durch die fliegenden Steinfragmente zerstört und ihre Elektronik durch die Röntgenblitze und die von ihnen ausgelösten elektromagnetischen Impulse gebraten.

Und eineinhalbtausend Kilometer über der Oberfläche von Thrian’shai stiegen zwei Lichtpunkte auf, die wenige Meter voneinander entfernt umeinander wirbelten. Sie gaben den Großteil ihrer Strahlung im Röntgenbereich ab, und der hellere lief in größerem Abstand als der andere um den gemeinsamen Schwerpunkt, als hätte er weniger Masse. Nouris analysierte sie unaufgefordert anhand ihrer Strahlungs- und Orbitalparameter und blendete das Ergebnis nur in die Darstellung auf der Bildschirmkuppel ein, um uns nicht in unserem wortlosen betroffenen Staunen über die Situation zu stören.

Es waren die Schwarzen Löcher, die aus den beiden großen Wurmlöchern zwischen Thrian’shai und dem Nachbarplaneten Rurross entstanden waren. Seltsamerweise waren sie zu Thrian’shai hin kollabiert, als ob ihre fernen Portale abgeschaltet worden wären, ehe die hiesigen durch die Lyensai zerstört werden konnten. Das kleinere hatte eine Masse von sieben Millionen Tonnen und eine Lebenserwartung von tausend Jahren, wenn es nicht vorher Nahrung erhielt, das andere war hundertmal so schwer und würde für sein Zerstrahlen eine Billion Jahre brauchen. Der Bahnimpuls der von Rurross stammenden Masseanteile hatte diese Schwarzen Löcher von Thrian’shai hochgerissen, und nun fielen sie auf Ssrranth zu, das sie in zweieinhalb Stunden an seinem Kern vorbei durchschlagen würden. Da sie langsamer als die Fluchtgeschwindigkeit waren, würden sie in einem langgestreckten Orbit verbleiben, dessen Periapsis innerhalb des Planeten lag.

Einige Minuten lang betrachteten wir schweigend die vor uns ablaufende globale Katastrophe, die jene nach dem Chicxulub-Einschlag übertraf. Ehe irgendjemandem von uns etwas Angemessenes zu sagen eingefallen wäre, meldete Nouris uns die Ortung eines Raumschiffs, das in weitem Abstand um Ssrranth herum auf uns zu beschleunigte. Ich ließ es anlasern und war nur mäßig überrascht, als Merton Wiener antwortete.

„Hallo Drac! Hast du etwa einen Deal mit Khrek geschlossen?“

„Einen, den er nicht überlebt hat. Dabei haben mir und meinen Freunden ein paar Leute geholfen, über deren Entkommen du dich sicher auch freuen wirst.“

Ndoni trat in den Kamerabereich. „Ich zum Beispiel“, sagte sie boshaft lächelnd. „Pop wäre sicher nicht erfreut, wenn er erführe, welchen Streich du mir spielen wolltest.“

„Den hat Anagast mir vor seinem Tod verraten“, schmückte ich die Wahrheit ein wenig aus. „Unsere beiden Freunde von Chakarionn sind auch hier. Ohne Khreks Protektion wird es dir nicht egal sein, was wir alles gegen dich vorbringen könnten.“

„So?“ Er grinste wölfisch. „Dann muß ich euch eine Ablebensbeschleunigung angedeihen lassen. Ehe ihr auf Warpstartdistanz seid, habe ich euch eingeholt, und meine vier Spezialfeuerzeuge sind ein unschlagbares Argument gegen dein einzelnes.“

„Das wäre keine gute Idee“ versicherte ich ihm. „Versuch‘ sie mal zu zünden. Auch die langen Büchsen.“

Merton hörte zu grinsen auf und senkte den Blick auf sein Kontrollpult. „Verdammt, Khrek hat’s wirklich getan“, brummte er kurz darauf. „Wäre ein Deal möglich?“

„Sicher wäre er das“. Ich sah die anderen an. „Den werden wir jetzt besprechen. Du kannst schon einen Kurs nach Aker’shai eingeben, wo wir uns über der nachlaufenden Seite treffen werden.“

Fortsetzung: Kapitel 16 – Feuerfall

Anhang des Verfassers:

Nachfolgend habe ich wieder Links, Videos und ein Bild zum obigen Kapitel zusammengestellt, zuerst die Links in der Reihenfolge, wie die Begriffe darin vorkommen:

Reisende Händler alias Pochteca (siehe auch diesen und diesen Kommentar von mir); diesen Kommentar über die mindaláes, die als Händlerklasse ähnlich der pochteca auf dem von den Inkas annektierten Territorium der Otavalo operierten („The brief period of Inca rule apparently did not change Otavalo culture much. Contrary to Incan practice, few if any mitma (people forcibly resettled outside their homelands by the Incas) were moved into the Otavalo region. Also contrary to the Incas who used the vertical archipelago to exchange goods among regions, a class of long-range traders called mindaláes continued to operate among the Otavalo. The mindaláes appear to have operated outside the authority of the chiefdoms. They carried on trade with the people living in lower elevations on the western slopes of the Andes, especially in the Mira River valley, about 75 kilometres north of the city of Otavalo. Products they brought to the highlands included cotton, coca, salt, and dried fish from the Pacific coast“); Chicxulub-Einschlag, Elektromagnetischer Impuls (EMP) / High Altitude EMP (HEMP), Hawking-Strahlung, Apsis (Astronomie)

Curious Droid – Why Did We Test Nukes in Space? (14:10, über die ab 1958 durchgeführten Atombombentests im erdnahen Weltraum und die dabei erzeugten EMPs):

Chicxulub Impact Event in real time (1:06:27, eine Echtzeitanimation der Auswirkungen, übertragen auf unsere heutige Welt):

In Mesoamerika 1 – Transpazifische Kontakte habe ich das untenstehende Bild aus dem Buch „Tai Ki – Reise zum Ort ohne Wiederkehr“ von Kuno Knöbl mitsamt dem Original-Bildtext wiedergegeben. („Mittelmeerraum“… man beachte den Herrn in der unteren Reihe, 2. von rechts!)

Die verblüffendsten Hinweise auf Kontakte mit der Alten Welt geben Terrakottaplastiken aus Mexiko. Sie stammen durchweg aus der Zeit vor der „Entdeckung“ Amerikas durch Kolumbus. Die Variationsbreite ist fast unglaublich: Man sieht sich einem Querschnitt durch die Erdbevölkerung gegenüber, von Ostasien über den Mittelmeerraum bis nach Schwarzafrika – alle menschlichen Rassen scheinen in diesen Darstellungen vertreten zu sein. Und die bisweilen atemberaubende Porträtdichte dieser Figuren soll nichts anderes sein als das Produkt der Phantasie der anonymen indianischen Künstler? (Nach Alexander von Wuthenau.)

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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