Feuerfall (8): Ungestutzte Flügel

Ein Science-Fiction-Roman aus dem Galciv-Universum, von Deep Roots alias Lucifex. Dies ist Kapitel 8 von 17, und es gibt zur Begriffs- und Hintergrunderläuterung auch das Glossar zum „Galciv“-Kosmos.

Zuvor erschienen: (1) Reiter auf dem Sturm, (2) Babylon 6, (3) Puffy & Jack, (4) Nesträuber, (5) Nach Thumbnail Gulch, (6) Zur Welt der hundert Meere und (7) Höllenkurtisane.

Kapitel 8:  U N G E S T U T Z T E   F L Ü G E L

Weit über den Wolken des Riesenplaneten Karendru fielen wir in unserem Beiboot auf seinen Mond Nayotakin zu. Im Zentrum des Kontinents Lellai sahen wir schon die Kyurui-Wüste, in der das Treffen mit der Runde um Lorimar stattfinden sollte. Für uns war es Morgen, aber dort unten war es schon fast Mittag. Nayotakins etwas kleinerer Nachbarmond Yuryul befand sich gerade jenseits von Karendru, und die Schatten des innersten Mondes Kyoarin und des äußersten Mondes Niakird zeichneten sich auf der Wolkenhülle des Planeten ab.

Nach einer Nacht, in der wir nicht gut geschlafen hatten, waren wir mit unseren beiden Schiffen durch das Wurmlochportal auf Karendrus zweitäußerstem Mond Tusafird in das System der Sonne Yenkru gekommen. Julani war mit der Dayu ebenfalls bereits von Ilnaoi gestartet und flog über dem Dahiruunmeer auf Lellai zu. Sie würde kurz nach unserer Landung in der Kyurui-Wüste jenseits der Berge südlich von Venayon ankommen. Nouris steuerte in Begleitung der Jeannie, deren KI ihrer Leitung unterstellt war, ihre Warteposition in dreihundert Kilometern Höhe über Lellais Westküste an. Dort, zweitausend Kilometer westlich von Venayon, würden die Schiffe sich mit ihren Influx-Antrieben in Schwebe halten, um jederzeit abrufbar zu sein, was in einem Orbit nur während eines kleinen Teils jedes Umlaufs gegeben wäre.

Wir anderen vier waren gleich nach dem Passieren des Wurmlochs in eines der langen Beiboote gestiegen und separat losgeflogen, um den Zusammenhang mit Nouris und der Jeannie etwas unklarer erscheinen zu lassen. In einer ballistischen Kurve fielen wir nun auf Lellai zu, bis es Zeit war, für den Atmosphäreneintritt zu bremsen. Sobald dessen heißeste Phase vorbei war, meldeten wir uns beim Veranstaltungszentrum von Venayon an und bekamen einen Landeplatz in dessen Nähe zugewiesen. Wir sanken auf hohe Staubsturmwolken zu, durchdrangen sie und sahen dann unter uns deutlicher die Stadt, die ein wenig an eine Mini-Version von Las Vegas erinnerte, auf das ihr Name anspielt: mit niedrigeren, mehr in die Breite gehenden Großgebäuden als in Mist City, vielen Villen mit Schwimmbecken und künstlich bewässerten Grünanlagen und einer Promenade entlang des Flusses, an dem sie angelegt worden war. Ein Stück vom Stadtrand entfernt lag die Villa Arkinor unserer Gastgeber, und dort stand ihr Raumschiff Lurelor, ein silbriges Geschoß wie ein abgeflachter Zeppelin mit breitem Heck. Wir setzten auf dem Landeplatz auf, und sobald wir ausgestiegen waren, um zum Veranstaltungsgebäude zu gehen, hob das Beiboot wieder ab und begleitete uns in etwa zehn Metern Höhe.

Unterwegs kamen wir an Jerry „Fritzcat“ Raffles vorbei, einem der Konferenzteilnehmer, der wegen seiner Kombination aus blonden Haaren, tiefer Stimme und dunkler Sonnenbrille bei deutschsprachigen Earthins unter dem Spitznamen „Heino“ bekannt war. Er war offenbar gerade mit seiner kleinen Landyacht Sandrunner angekommen und sprach mit einem seiner gepanzerten Leibwächter. Unsere Kampfrüstungen, die wir bereits angelegt hatten, waren ebenso hochreflektierend wie die des Leibwächters, aber nicht so klobig. Wegen Talithas Statur hatten wir im Bordinventar von Nouris auch für sie eine gefunden, die ihr paßte. Sie führte nur die Gaußpistole ihres Mannes, während wir Männer an hüftseitigen Schnellziehhalterungen kurze Bullpup-Gaußgewehre mit Teleskopschulterstützen trugen. Deren Rückstoß war zwar brutal, aber mit ihnen würden wir am ehesten eine Chance haben, solche Rüstungen zu durchschlagen.

Die Leute, an denen wir vorbeikamen, waren eine bunte Mischung von Kulturen, Subkulturen, Ethnien, Rassen und sogar Spezies. Die meisten waren Menschen, bei denen wir die Earthins und die Shomhumans schwer unterscheiden konnten, da die Earthins modisch teils die Shomhumans imitierten und teils eigene Exzentritäten pflegten. Daneben gab es Vertreter der „wilden“ Menschenvölker, die seit der Lwaong-Zeit auf Nayotakin leben, in ihren traditionellen Gewändern, und dazwischen sahen wir auch Shuyaan und Arrinyi, die sich mit Sonnenschutzkleidung und Gesichtsvisieren vor der ungewohnten UV-Strahlung schützten, und Yarriuk, jene schuppigen graugrünen Trollgestalten, von denen wir erstmals welche als Shomhainar-Polizisten auf Babylon 6 kennengelernt hatten. Letztere waren von ihrer Ursprungswelt Yuryul herübergekommen, wo die meisten von ihnen noch als Primitive leben.

Als wir das Veranstaltungszentrum erreichten, wurde das Sonnenlicht wieder heller, da sich die Staubsturmwolken allmählich verzogen und darüberliegenden hohen Wolkenschleiern wichen, die eine milchigere Lichtstimmung erzeugten. Hier war auch bei den Fortbewegungsmitteln eine extravagante Vielfalt zu sehen, von futuristischen Kabinenmotorrädern, die sich auch im Stillstand durch Gyroskope aufrecht hielten, über stromlinienförmige Luftfahrzeuge und Flugwagen nach Galciv-Standard bis zu scheinbar herkömmlichen Autos einschließlich solcher im Oldtimerstil, die aber meist mit Influx-Antrieben fliegen konnten.

In der seitlich offenen Halle, die als Treffpunkt angegeben war, stand schon die große Landyacht von Lorimar und Lurella, die gerade eingetroffen waren und an ihren uniformierten Bediensteten vorbei auf die Einstiegsrampe zugingen.

Beunruhigend fanden wir, daß sie von ihrem Haustier begleitet wurden, das einer von Shomhumans geschaffenen Zuchtlinie modifizierter Tiger entstammte. Diese Zebriger sind für ihre Intelligenz bekannt, die jene von Hunden und Schimpansen übertrifft und ihnen das Verstehen einfacher menschlicher Sprache ermöglicht.

Nachdem die Gastgeber mit ihrem Vieh im Fahrzeug verschwunden waren, marschierten wir ebenfalls zu den Uniformierten hin, nahmen unsere Helme ab und stellten uns gemäß dem übermittelten Protokoll vor. Sie lasen unsere Galciv-ID-Karten, vergewisserten sich unserer Identität aber zusätzlich durch digitale Gesichtserkennung und Netzhautscans und erteilten uns dann Einstiegserlaubnis. Ehe wir an Bord gingen, sahen wir noch Jerry Raffles mit seiner eurasischen Partnerin „Kilyabee“ Mai Kilroy und zwei Leibwächtern in die Halle kommen, und hinter ihnen kündigten zwei Raumschiffbeiboote, die zu unserem heranschwebten, die Ankunft der restlichen Konferenzparteien an.

Wir stiegen hinter einem der Uniformträger die Rampe hoch und über eine Wendeltreppe weiter hinauf in den großen Salon auf dem Oberdeck. Oben angekommen, wies er uns rechts vorn vier Polstersitze zu und ging dann wieder nach unten. Von Lorimar und Lurella war nichts zu sehen, und auch sonst war niemand im Raum. Daß keine Bedienung da war, lag daran, daß aufgrund der angespannten Sicherheitslage kein Gast Speisen oder Getränke annehmen wollen würde und daß hier Dinge zur Sprache kommen sollten, die außer den Teilnehmern nur deren vertrauenswürdige Mitarbeiter hören durften.

Nachdem wir Platz genommen hatten, schauten wir uns in dem Raum um, der großteils in hellen Grautönen gestaltet war und durch große Fensterflächen eine gute Aussicht zu den Seiten und nach oben bot. In der Rückwand befand sich eine Tür, die sich später als der Zugang zur Eignerkabine herausstellte und links von einer kleinen Bar und rechts von einem Computerterminal flankiert war. Den vorderen Abschluß bildete ein riesiger Bildschirm, der im Moment abgeschaltet war. All das übertrugen die Kameras unserer Helme, die wir mit offenen Visieren wieder aufgesetzt hatten, an die KI des Beibootes und an Nouris, als Lageinformationen für ein eventuelles Eingreifen.

Ein paar Minuten nach uns kamen Raffles und Mai Kilroy herauf, ohne Platzanweiser, da sie offenbar schon früher an Bord gewesen waren, und setzten sich mit ihren Gorillas links vorne hin. Beide führten Blaster an ihren Hüften und schienen unter ihren roten Jacken einen Körperschutz zu tragen, und ihre Eskorten trugen kurze Lasergewehre.

„Hi, Heino und Kilyabee“, begrüßte Talitha sie. „Wie laufen eure Geschäfte?“

„Besser als deine, Daleth“, antwortete Raffles. Es war ungewohnt, sie wieder mit ihrem Decknamen angesprochen zu hören, wie es für dieses Treffen vereinbart war, da nicht jeder von jedem den Klarnamen kannte.

„Du siehst aber erstaunlich gut aus“, fügte Kilroy hinzu, „für eine Frau, die mit wer weiß was für Mitteln umgedreht wurde.“

Talitha lächelte sie betont süß an. „Kühl‘ deine Fantasie wieder ab, Bienchen. Ich habe meinen Seitenwechsel innerlich schon zu Lebzeiten von Elirok vollzogen.“

Ich war überrascht von dieser Aussage und fragte mich, wieviel davon stimmen mochte und wen sie täuschen wollte, falls etwas davon gelogen war. Dann fiel mir auf, daß gerade die nächsten beiden Teilnehmer auf der Wendeltreppe erschienen: „Snarkstar“ Frank Willard und „Ullissa“ Rona Rainor, ebenfalls begleitet von zwei silbrig gepanzerten Leibwächtern. Willard war fast so groß wie Raffles, hatte braunes Haar und ein unsympathisches Nerdgesicht, und seine Partnerin war mittelgroß, etwas mollig, und die Augen in ihrem runden Gesicht unter einer dunkelblonden Lockenmähne hatten deutlich nach außen hängende Augenwinkel. Beide trugen silbrige Brustharnische über Overalls, er in Weiß, sie in Schwarz, und hatten Gaußpistolen in Schulterholstern stecken. Sie begrüßten Talitha, Raffles und Kilroy, nickten uns anderen zu und setzten sich rechts neben uns.

Gleich darauf traf das letzte Teilnehmerpaar ein, von dem wir nur die Decknamen Ramses Ultimo und Nafteta Iaret kannten. Beide waren mittelgroß, schlank und dunkelhäutig mit negroidem Einschlag und undefinierbaren anderen Beimischungen, der Mann kraushaarig, die Frau mit gewelltem Haar. Sie trugen grüne Anzüge und waren ähnlich bewaffnet wie die anderen. Als auch hinter ihnen zwei Leibwächter in Rüstungen hochstiegen, begann ich angesichts der vielen gut geschützten Kampfprofis zu bereuen, daß wir Talitha keine stärkere Waffe gegeben hatten.

Kaum hatten die zuletzt Angekommenen Platz genommen, setzte die Landyacht sich in Bewegung und rollte aus der Halle. Der Frontbildschirm und die beiden kleineren Bildschirme über dem Computerterminal und bei der Bar aktivierten sich und zeigten die Aussicht nach vorn und hinten. Draußen formierten sich die Beiboote um das Fahrzeug, unseres an der linken Seite, ein ähnliches, aber kürzeres dahinter, und ein grünes Ei mit Bugkuppel, hinter der jemand saß, flog rechts mit. Nach kurzer Rollstrecke auf dem breiten, von Palmen gesäumten Boulevard sahen wir an einer Einmündung von rechts Raffles‘ Sandrunner stehen, der losfuhr, als wir vorbei waren, und uns dann folgte.

Nun konnten wir auch die Beiboote zuordnen: wir wußten, daß Frank Willard einen bewaffneten Lwaong-Raumfrachter besaß, also war das Lwaong-Boot seines, und das Ei gehörte Ramses und Nafteta. Im Warteraum über Nayotakin hatte Nouris jedoch drei Raumschiffe geortet, darunter ein weiteres relativ großes. Ich tippte auf meinem Armkommunikator eine Anfrage an Nouris ein.

„Das mir am nächsten befindliche Schiff ist Willards Lyensai“, meldete sie. „Soll ich ihm gegenüber meinen speziellen Charme spielen lassen?“

Damit meinte sie, ob sie versuchen sollte, Kontakt zur KI des Schiffes aufzunehmen und es mit ihren Autorisierungscodes unter ihre Leitung zu zwingen. Da ich für den Fall, daß es doch nicht zum Kampf kam, nicht riskieren wollte, daß der Versuch bemerkt würde und Nouris‘ Sonderfähigkeiten offenbart wären, tippte ich auf dem Kommunikator das Minuszeichen für Negativ.

„Das nächste ist anscheinend ein neueres Schiff“, fuhr sie fort, „ein ovaler grüner Diskus, etwas größer als die Dayu.“ Also wahrscheinlich jenes der Ägypto-Epigonen.

Ich drückte auf das Raute-Icon für Weiter. „Und das dritte ist ein Xhankh-Schiff, das sehr nach Khrek Hrokars VIP-Transporter aussieht.“

Ich war verblüfft. Konnte es sein, daß Khrek mit dieser Sache etwas zu tun hatte? Oder war er wegen mir hier? Da setzte Nouris noch hinzu: „Nein, es sieht im Detail etwas anders aus als Khreks Schiff, eher wie der leichte Kampfschifftyp aus dem Krieg, von dem es abgeleitet ist.“

Nach kurzem Überlegen erinnerte ich mich an Talithas Schilderung von Raffles‘ guten Kontakten zu Merton Wiener, der seinerseits… und Raffles war außer unseren Gastgebern der einzige Teilnehmer, von dem wir wußten, daß er auf Nayotakin ein Anwesen besaß – es lag ein Stück entfernt in der Wüste. Rasch tippte ich die Anweisung ein, mit dem größten Bordteleskop zu Raffles‘ Domizil Majerdun hinzuschauen, ehe es hinter dem Sichthorizont von Nouris verschwand, die weiter ihrer Zielhöhe entgegensank.

„Kein Schiff steht dort, aber ein Xhankh-Beiboot“, informierte sie mich kurz darauf. Also gehörte das dicke Ding Raffles. Ich beschloß, ein bißchen auf den Busch zu klopfen, und wandte mich wieder meinen Sitznachbarn zu, deren Smalltalk mit Talitha ich vorübergehend ignoriert hatte.

„Ein beeindruckendes Raumschiff haben Sie da oben, Mr. Fritzcat“, sagte ich. „Ich wußte gar nicht, daß man als Earthin so eines bekommen kann.“

Er sah mich überrascht und mit argwöhnischer Miene an. Dann entspannte er sich und sagte mit künstlich wirkendem Lächeln: „Ja, meine Kherthuk ist ein kleiner Patrouillenkreuzer der Xhankh, den sie seit dem Krieg vor sechstausend Jahren noch eingelagert hatten. Daleth hat Ihnen bestimmt von meinen Beziehungen zu Mervindo erzählt, also kann ich ruhig zugeben, daß er mir diesen Abverkauf eingefädelt hat. Er hat sich von den Bugs auch ein neues Schiff nach seinen Vorstellungen bauen lassen, von dem er aber noch nicht viel preisgibt. Er sagt nur, daß es seine blaue Shiksa Goddess ist.“

Ich schmunzelte über seine Verwendung des Earthin-Spitznamens für die Xhankh, und mir ging auf, daß das blaue Geschoß, das wir auf Hektalassa gesehen hatten, wahrscheinlich ein Beiboot von Wieners neuem Schiff gewesen war.

„Mervindo ist in der Galciv überhaupt recht umtriebig“, warf Mai Kilroy ein.

Oh ja, das klang ganz nach dem gschaftlhuberigen Juden, als den ich ihn schon eingeschätzt hatte.

„Liebe Gäste, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten?“ sagte in diesem Moment eine Altstimme hinten im Salon. Alle wandten sich dorthin, wo unsere Gastgeber aus ihrer Kabine erschienen waren. Lorimar, der gerade die Tür schloß, trug noch denselben schwarzen Anzug mit rotem Kurzmantel, in dem er gekommen war, aber Lurella hatte ihre pompöse Robe abgelegt und trug nur noch ihr brünettes Haar hochgesteckt wie zuvor. Nun betonte ein kurzes violettes Kleid ihre sportliche hochgewachsene Figur, und ihren bloßen linken Unterarm zierte ein als breite Armspange gestalteter Kommunikator. Quer vor ihrem Bauch hing ein Blaster an einer Schnellziehhalterung ihres Gürtels, und an ihrer rechten Hüfte trug sie zusätzlich ein Messer in einer Scheide. Sie kraulte den Zebriger am Kopf, während sie die Anwesenden mit ihren grünen Augen musterte, und sprach dann nach dieser Kunstpause weiter:

„Ich begrüße Sie zur Party an Bord unserer Lartana. Eine Vorstellung aller Teilnehmer erübrigt sich, da Draco Flint und Leo Strasskat sich anhand der Daten der Kremsers schon informiert haben werden, wer jeder von uns ist, und sie uns von den Aufnahmen des Thotbuster-Shootouts bekannt sind. Wir anderen kennen uns sowieso schon. Zum Programmablauf vorerst nur soviel: wir fahren ein Stück in die Wüste hinaus, wo wir abklären werden, ob wir einander bei der geplanten Kooperation vertrauen können. Falls ja, werden wir einen befristeten Koalitionsvertrag bei Shom-Earth registrieren, was über diese Computerkonsole geschehen wird und von Ihnen über die Comlinks Ihrer Raumschiffe überprüft werden kann. Erst dann werden wir bei einem Freiluftdinner vertraulichere geschäftliche Dinge besprechen. Bis dahin können Sie die Aussicht genießen oder Ihren begonnenen Smalltalk fortsetzen.“

Sie setzte sich auf einen Polsterdrehsessel an der Bar, wo der Zebriger sich zu ihren Füßen hinlegte, während ihr Mann auf einem gleichartigen Sessel vor der Computerkonsole Platz nahm. In meinen Kopfhörern erklang Nouris‘ Stimme: „Es wird dir nicht aufgefallen sein, aber Lorimar hat euch genau beobachtet, während eure Aufmerksamkeit auf Lurella fokussiert war. Ein raffinierter und gefährlicher Fuchs.“

Ich drückte das Bestätigungs-Icon auf meinem Armkommunikator und sah mir den Kerl an. Er ließ seinen Blick gelangweilt über die Anwesenden schweifen, ohne bei irgendjemand innezuhalten, und begann dann ein Gespräch mit Lurella. Ein Blick zu Frido und Björn: sie blieben wie ich schweigsam und beobachteten die anderen, während Talitha Belanglosigkeiten mit unseren Sitznachbarn auszutauschen begann.

Mittlerweile hatten wir die Promenade am Fluß erreicht, zu dem die Landyacht nun über eine flach geneigte Rampe hinunterrollte, um dann schräg flußabwärts über die breite Furt zu fahren, die sich dort befand. Raffles‘ Sandrunner folgte uns und zog auf eine Position rechts von uns vor, wo sein Besitzer ihn sehen konnte. Das Wasser reichte ihm bis an die Radnaben, was bedeutete, daß es den Rumpfbauch der Lartana gerade noch nicht erreichte. Jenseits des Sandrunner sahen wir die von Fußgängern und Radfahrern bevölkerte Promenade mit ihren Palmen und Blühsträuchern, dahinter die Stadt und hinter dieser das kahle Gebirge, jenseits dessen Julani gelandet war. Auf der Wasserseite der Promenade befand sich eine Reihe von Schwimmstegen, an denen verschiedene Flußboote vertäut waren. Da hier auf der Südhalbkugel gerade Frühsommer war, kam kein Schmelzwasser mehr aus den hohen Bergen westlich der Kyurui-Wüste, aber es hatte dort die Regenzeit begonnen, sodaß der Fluß noch fast seinen normalen Wasserstand hatte.

Das jenseitige Flußufer war von einer Mischung aus einheimischen und irdischen Röhrichtpflanzen und Bäumen bewachsen. Als unser Fahrzeug den Fluß über eine sandige Uferbank verließ und durch eine Lücke im Vegetationssaum in die dahinter liegende Wüste hinausfuhr, konnten wir den Unterschied zwischen den irdischen Bäumen und den einheimischen mit ihren fremdartigen Astformen und wie Zirbennadeln in Büscheln stehenden schmalen Blättern deutlich erkennen.

Eigentlich trifft die Bezeichnung einheimisch nicht ganz zu. Richtiger wäre schon länger auf Nayotakin heimisch, und tatsächlich muß es heißen: von Yuryul stammend. Nayotakin war wegen des großen Wasseranteils in seiner Frühzeit zu einer Eiswelt geworden und wegen des hohen Reflexionsvermögens der Schnee- und Eisdecke lange eine solche geblieben, als seine Sonne schon leuchtstärker war. Dagegen war Yuryul am Ende seiner Entstehung von einem Planetoiden getroffen und dadurch nicht nur auf eine elliptische Umlaufbahn samt Spin-Orbit-Resonanz gebracht worden, sondern hatte auch viel von seinem Wasser verloren. Wegen der geringeren Albedo und der stärkeren Gezeitenheizung sowie des höheren CO2-Anteils der Luft durch den aktiveren Vulkanismus war von Karendrus Monden nur Yuryul von Natur aus zu einer Welt mit höherem Leben geworden. Von Asteroideneinschlägen hochgeschleuderte yuryulische Mikroben hatten auch Nayotakin besiedelt, ehe dort einheimisches Leben entstehen konnte.

Eine frühere Yuryul-Zivilisation, deren Träger die mit den primitiveren Yarriuk verwandten Koraiuk gewesen waren, hatte vor dreihunderttausend Jahren Nayotakin erreicht und damit begonnen, das Auftauen der Meere zu beschleunigen und Photosyntheseorganismen von Yuryul anzusiedeln. Durch den Anstieg der Sauerstoffkonzentration in Luft und Wasser und die Freisetzung von CO2 aus dem polaren Trockeneis hatten die Koraiuk mit der Zeit immer mehr Pflanzen und später auch Tiere von ihrer Heimatwelt aussetzen können.

Kriege zwischen rivalisierenden Machtblöcken der Koraiuk hatten später zum Untergang ihrer Zivilisation geführt. Ihre Kolonien auf Nayotakin waren ohne Unterstützung der Mutternationen nicht langfristig lebensfähig gewesen und zugrunde gegangen. Die auf Yuryul verbliebenen Koraiuk waren durch die zahlreicheren, körperlich stärkeren und an primitive Lebensverhältnisse besser angepaßten Vorfahren der Yarriuk, von denen viele als Diener und Arbeiter unter ihnen lebten, ausgerottet worden, und ihre Hinterlassenschaften waren verfallen. Die Yarriuk waren nicht fähig gewesen, die Technologie und Wissenschaft der Koraiuk zu übernehmen, und weil die leicht auffindbaren und gewinnbaren Bodenschätze bereits von der Vorgängerzivilisation aufgebraucht worden waren, hatten sie später keine technologische Zivilisation schaffen können und waren auch über die folgenden dreihunderttausend Jahre primitiv geblieben.

Währenddessen hatten sich auf Nayotakin die vom Nachbarmond importierten Lebensformen an ihre neue Umwelt angepaßt. Dann waren die Lwaong mit ihren menschlichen Vasallen gekommen, die Nayotakin kolonisiert und irdische Tiere und Pflanzen eingeführt hatten. Die Intelligenteren unter den Yarriuk waren von den Lwaong wie zuvor die Menschen als Hilfspersonal rekrutiert und in kleinen Populationen auf anderen Welten angesiedelt worden, auch auf Nayotakin und Delpavo. Nach dem Krieg gegen die Galciv waren die Menschen auf Nayotakin sich selbst überlassen geblieben, hatten sich zu verschiedenen Kulturen entwickelt und im Laufe der Zeit die Yarriuk-Populationen dort ausgerottet, so wie die Yarriuk das auf ihrer Ursprungswelt mit den Menschen taten. Die irdische Flora und Fauna hatte sich über Nayotakin ausgebreitet und sich ökologische Nischen zwischen den yuryulischen Lebensformen erobert, bis das heutige Artenmosaik entstanden war.

Von diesen Betrachtungen wurde ich abgelenkt, als ein Streit zwischen Jerry Raffles und Mai Kilroy auf der einen und Frank Willard und Rona Rainor auf der anderen Seite entstand. Was der Auslöser gewesen war, hatte ich nicht mitbekommen, aber vor allem die beiden Frauen gifteten sich an, und ihre Partner verteidigten sie. Gerade eben begann Talitha sich auf Seiten von Raffles einzumischen und wurde von Rainor beschimpft, aber ehe ich mir noch überlegen konnte, was ich dazu sagen sollte, gebot Lurella Ruhe.

„Laßt den Quatsch, Leute“, rief sie, „hier ist doch wirklich nicht der Ort, um diese Geschichte wieder aufzuwärmen. Und wenn ihr es schon nicht lassen könnt, dann wartet damit, bis ihr wieder in der Stadt seid. Denkt an den Grundsatz: Was in Venayon passiert, BLEIBT in Venayon.“

Daraufhin schwiegen die beiden Paare und warfen ihren Gegnern nur noch finstere Blicke zu. Talitha sah mich tadelnd an und sagte: „Du warst mir ja eine schöne Hilfe!“

„Tut mir leid“, erwiderte ich, „aber ich war gedanklich woanders, und bis ich auf den Streit aufmerksam wurde und mir darüber klar werden konnte, worum es ging, war er auch schon vorbei.“

„Pfff…“ Sie wandte sich ab und schaute zum Fenster hinaus. Ich tat dasselbe zur rechten Seite hin, wo die Baumkronen des fernen Waldsaums am Fluß gerade noch über die Dünen ragten. Nach einer Weile hörte ich Nouris in meinen Kopfhörern: „Laß dir nichts anmerken, aber mir ist in der schwachen Spiegelung im Fenster aufgefallen, daß Talitha und Raffles einander ansehen.“ Ich schielte nach rechts, drehte den Kopf und sah gerade, wie Kilroy ihrem Partner mit vorwurfsvollem Blick einen Rippenstoß versetzte. Raffles wandte sich ihr zu und legte seinen Arm um sie, und Talitha schaute schnell wieder in die Wüste. Ich war verdutzt und spürte einen Stich von Eifersucht. Was lief da ab? Bekam sie wieder Lust auf einen Bad Boy? Oder hatte sie mit Raffles schon länger ein Komplott eingefädelt? Als ob die sonstigen Gefahren nicht schon genug gewesen wären, mußte ich mich nun auch noch wegen eines möglichen Verrats von Talitha sorgen.

Wir fuhren weiter in die Wüste, entfernten uns vom Fluß und näherten uns in flachem Winkel den Bergen, die das weite Tal im Norden begrenzten. Die Landyacht rollte sehr ruhig dahin, und wie ich anhand der Außenaufnahmen erkennen konnte, die unser Beiboot auf den Bildschirm meines Armkommunikators übertrug, wurde das durch ihr aktives Fahrwerk ermöglicht, das die Räder weit nach unten ausfahren und ihre Aufhängungen in Vorwegnahme jeder Unebenheit und Bodenwelle nachgeben ließ.

Schließlich kamen voraus dünn verteilte Bäume und Büsche in Sicht, die einen von links kommenden Bach säumten. Lurella erhob sich und sagte: „Liebe Gäste, wir kommen jetzt zu dem angekündigten Programmpunkt, der klären soll, ob wir einander vertrauen können. Genauer: ob wir unseren neuen Gästen vertrauen können.“ Sie richtete ihren Blick auf uns und fuhr fort: „Wir, die wir uns schon länger kennen, wissen voneinander Dinge, wegen denen wir Ärger mit irdischen Behörden bekommen könnten, und die Herren Flint, Strasskat und Benellio wissen solche Dinge aus den erbeuteten Daten. Wir wissen jedoch von ihnen nichts Derartiges, und vielleicht sind sie in dieser Hinsicht überhaupt noch sauber. Eine untragbar asymmetrische Situation, findet ihr nicht auch?“

Die anderen äußerten sich zustimmend.

Lurella lächelte und ergriff wieder das Wort: „Deshalb werden wir jetzt eine kleine Showeinlage veranstalten, die im Freien stattfinden wird und deren Hauptdarsteller die drei genannten Herren sein werden. Oh, und natürlich diese junge Dame.“ Sie wandte sich der Computerkonsole zu, auf deren Bildschirm Lorimar die Außenansicht durch eine Aufzeichnung vom Schluß einer regionalen Castingshow eines kalifornischen Fernsehsenders ersetzt hatte. Es wurden die Siegerinnen vorgestellt, und die Erstplazierte war eine US-Asiatin namens Yu Yan „Jenny“ Chen. Sie sah durchaus hübsch und nett aus, und wie ein eingespielter Ausschnitt zeigte, waren auch ihre Gesangsdarbietungen recht ansprechend. Da dies jedoch Amerika war, lag nahe, daß beim Sieg dieser nichtweißen Kandidatin nachgeholfen worden war, denn die Zweitplazierte war eine strahlend schöne Blondine, die mindestens genauso gut singen konnte und auch ein sehr gewinnendes Auftreten hatte.

„Ist sie nicht süß?“ fragte Lurella, als die Lartana zum Stillstand kam. „Die Männer unserer Besatzung helfen Miss Chen jetzt beim Aussteigen, als die Kavaliere, die sie sind. Und wir gehen auch gleich von Bord. Bitte nach euch.“

Die anderen standen auf und gingen nach hinten, und wir schlossen uns ihnen an. Draußen hatte auch der Sandrunner angehalten. Ich versuchte mir nichts von meinem mulmigen Gefühl anmerken zu lassen, als ich an Lurella und Lorimar vorbeiging, und dieses Gefühl wurde auf dem Weg über die Wendeltreppe hinunter immer stärker.

Von der Ausstiegsluke aus sah ich vier Uniformierte, die eine nackte, an Händen und Füßen gefesselte Frau zwischen sich trugen. Einer hielt sie an ihrem Roßschweif gepackt, zwei an ihren Oberarmen und der vierte an den Enden des Strickes, mit dem ihre Füße zusammengebunden waren. Sie wand sich heftig, aber vergeblich. Die Tür des Sandrunner öffnete sich, und eine Einstiegleiter klappte herunter. Der Fahrer, der eine Rüstung wie Raffles‘ Leibwächter trug, trat mit einem schweren Lasergewehr mit Zieloptik auf die Austrittsplattform der Leiter heraus.

Die Männer der Lartana trugen die Gefangene zu einem von mehreren abseits des Baches stehenden Bäumen, wo anscheinend ein verlandeter Altarm vom Sand zugeweht worden war. Dort hängten sie sie kopfunter an einem Ast auf. Lorimar, der eine Kamera mit Schulterstativ trug, ging mit Lurella und dem Zebriger an uns vorbei zu ihr hin. Dort sprachen die beiden kurz mit ihren Bediensteten, worauf die Gorillas zur Rampe zurückgingen und von einem fünften Mann, der wohl der Fahrer war, kurze Gewehre entgegennahmen. Mit diesen stellten sie sich in einem weiten Bogen zwischen den Hecks der Fahrzeuge auf, während ihr Kollege wieder zur Einstiegsöffnung hochstieg, um von dort zuzuschauen. Lurella wandte sich nun an die Versammelten:

„Dies ist also Yu Yan Chen, die wir vorhin bewundern konnten. Wir haben sie vor zwei Wochen entführt und hierhergebracht, und unsere Aufnahmekandidaten werden nun gemeinsam ihren Initiationsmord an ihr begehen, vor der Kamera meines Mannes. Mit abgenommenem Helm, damit man das Gesicht erkennt. Mr. Flint, darf ich Sie als ersten bitten? Die anderen können gleich mitkommen.“

Mit klopfendem Herzen ging ich zu ihr hin, gefolgt von den anderen drei, und überlegte hektisch, wie wir aus dieser Situation herauskommen konnten, ohne das Mädchen zu töten. Sofortige Feuereröffnung schied aus, weil zu viele Gegner hinter uns waren und wir einen Beschuß von allen Seiten unmöglich überleben konnten. Bei Lurella angelangt, nahm ich den Helm ab und hielt ihn unter dem rechten Arm, um mit der Linken das Messer entgegenzunehmen, das sie mir reichte. Am Kopf so ungeschützt zu sein, war unangenehm, aber wenigstens hatten wir für so eine Situation vorgesorgt und uns zusätzlich Kommunikations-Hörgeräte hinter die Ohren geklebt, sodaß ich von Nouris‘ Mitteilungen nicht abgeschnitten war, auch wenn die Tonqualität schlechter war.

Lurella lächelte mich an – verschlagen und irgendwie wissend, wie mir schien, als ob sie mich schon durchschaut hätte – und sagte: „Ihr Part wird es sein, ihren Bauch aufzuschlitzen, damit Kirak hier es leichter hat, an die Eingeweide heranzukommen.“ Sie kraulte den Kopf des Zebrigers, der seine grünen Augen schloß und mich dann wieder ansah. „Mr. Strasskat wird danach so freundlich sein, ihr den Hals durchzuschneiden, und zuletzt wird Mr. Benellio ihr ins Herz stechen. Was Kirak übrig läßt, frieren wir ein und deponieren es später irgendwo in Amerika, wo man es finden und anhand der DNA der entführten Miss Chen zuordnen wird. Es wird in Ihrem Interesse sein, daß die Aufnahmen, die Lorimar jetzt machen wird, niemals den Medien und Behörden zugespielt werden, so wie es in unserem Interesse ist, daß die entsprechenden Daten, die Sie von uns haben, unter Verschluß bleiben. Überlegen Sie nicht zu lange, ob Sie es tun wollen. Lorimar, bist du so nett und machst währenddessen Nahaufnahmen von ihr?“

Sie stellte sich ein Stück entfernt links vor mir hin, und Lorimar, der an meiner rechten Seite stand, filmte Yu Yans geknebeltes Gesicht und schwenkte dann an ihrem Körper entlang hoch. Mir kam der Gedanke, daß seine Kamera vielleicht einen verborgenen Laser enthielt, mit dem er auf mich schießen konnte, sobald ich den Helm fallen ließ, um nach meiner Waffe zu greifen. Um Zeit zu gewinnen, hob ich langsam das Messer. Was tun? Ich schaute mir die Positionen aller an und löste damit wohl unwissentlich die folgenden Ereignisse aus.

Rechts hinter mir und Lorimar stand Björn, links neben mir Frido und jenseits von ihm Talitha. Links an Lurella vorbei sah ich Raffles, an seiner Linken Mai Kilroy, beide flankiert von ihren Leibwächtern, hinter ihnen ihr Fahrzeug, dessen Fahrer das Lasergewehr lässig in den Händen hielt. Gerade vor uns, etwas weiter weg, stand die Ramses-Nafteta-Gruppe, und schräg rechts vor uns hatten Willard und Rainor sich mit ihren Leuten aufgestellt. Hinter allen standen im Bogen die vier Lartana-Männer, hinter denen die drei Beiboote nebeneinander schwebten. Alle sahen erwartungsvoll zu mir her. Lurella seufzte wie gelangweilt, hob ihren linken Arm und tippte auf ihren Kommunikator.

Plötzlich blitzte es von unserem Beiboot her zweimal in meine Richtung auf, gefolgt von einem ohrenbetäubenden Doppelknall neben mir, und Lorimar brach mit einem hustenden „Umpf!“ zusammen. „Die Relaissonde ist zerstört!“ hörte ich Nouris‘ Stimme in meinem Kopf. „Schießt auf die in eurer Nähe, ich übernehme die anderen und verständige Julani!“ Ich ließ sofort meinen Helm und das Messer fallen, löste mein Gewehr aus der Halterung und ließ dessen Schulterstütze herausspringen. Alles schien nun beinahe gleichzeitig zu passieren.

Lurella wandte sich zu ihren Männern um, die gerade ihre Waffen zogen und sich wie alle anderen nach der Quelle der Schüsse umschauten. Unser Boot schoß weiter, grüne Leuchtspuren der verbrennenden Kupferklümpchen fanden ihre Ziele unter den ferner Stehenden. Rechts hinter mir donnerte Björns erster Schuß, und einer von Willards Eskorten fiel. Dessen Kamerad schoß ebenso wie seine Chefs und Raffles‘ Männer auf Ramses‘ und Naftetas Gruppe und auf die Lartana-Leute. Die anderen Beiboote feuerten nun ebenfalls und wichen nach hinten zurück, während unseres tiefer sank und sich etwas nach vorn bewegte, in den toten Winkel der Waffenlafette, die vorne aus der Oberseite der Lartana erschienen war.

Raffles drehte sich wieder zu uns um. „Talitha, jetzt!“ schrie er, zog seinen Blaster und richtete ihn auf mich oder vielleicht auf Lurella, die zwischen ihm und mir stand. Ich wich mit einer Linksdrehung zurück und hob das Gewehr, unschlüssig, ob ich auf Talitha schießen mußte, und Frido ging es offenbar ähnlich. Doch dann versetzte Talitha dem überraschten Raffles einen Brusttreffer, feuerte weiter und durchlöcherte seinen Hals und Kopf. Noch während der Mann fiel, tötete Frido Kilyabee mit zwei Schüssen, und ich schwenkte von Talitha zum Leibwächter zwischen ihr und Raffles und erschoß ihn, ehe er zum Schuß auf Talitha kam. Im Hintergrund stürzte der Fahrer des Sandrunner von der Einstiegsleiter, getroffen von einem der Beiboote.

Danach nahm ich Lurellas Brust in die Zieloptik und drückte gerade einen Sekundenbruchteil vor ihr ab, sodaß sie ihren Schuß verriß und nur meine linke Schulterpanzerung traf. Der ultraviolette Lichtreflex brannte auf meiner Wange und lenkte mich kurz ab, und dann sah ich schon den Zebriger auf mich zuschnellen. Mein erster Schuß verfehlte ihn, und ich konnte nur noch die Gewehrmündung gegen seinen Hals stemmen und abdrücken, als er mich ansprang. Ein dumpfer Knall folgte, das Biest riß den Kopf hoch, prallte schlaff gegen mich und warf mich mit einer Wucht um, von der mir kurz die Luft wegblieb. Ohne die Rüstung hätte es mir vielleicht die Rippen eingedrückt.

Links und rechts von mir hörte ich meine Kameraden weiterfeuern, während ich mich mühte, die Zweihundert-Kilo-Katze von mir herunterzubekommen, aus deren Hals immer noch Blut auf mich sprudelte. Nach ein paar Sekunden begann das Tier zu zucken, seine Hinterbeine strampelten und kratzten mit den Krallen über meine Beinpanzerung, dann wälzte es sich auf die Seite und erschlaffte wieder. Das ermöglichte mir, unter ihm hervorzukriechen und mich aufzurappeln. Soeben fiel Frank Willard aus seiner Deckung hinter dem Hinterrad der Lartana, getroffen von Björn, während Frido den verwundeten Fahrer erledigte, der in die Einstiegsöffnung zurückzukriechen versuchte.

Sonst stand von den Gegnern niemand mehr. Im Hintergrund lag das grüne Beiboot rauchend am Boden, und jenes von Willard kurvte hinter unseres, um auf es zu schießen, und wurde vom Rückwärtsfeuermodus seiner Gaußkanone überrascht. Grün glühende Geschoßbahnen fraßen sich in seinen Rumpf, und nur kurz konnte es noch zurückfeuern, ehe seine Waffe ausfiel. Torkelnd sackte es ab, schlitterte über den Sand und blieb nach einer Vierteldrehung liegen. An seiner linken Seite öffnete sich die Flügeltür, ein Mann kam heraus und schleppte sich zusammengekrümmt weg, bis ihn drei Schüsse unseres Beibootes trafen und er zusammenbrach, als hätte er nie gelebt.

„Seid ihr alle okay?“ fragte ich, und Frido und Björn bestätigten. Dann schauten wir nach links und sahen Talitha zum Sandrunner laufen. Vor dessen Einstiegsleiter untersuchte sie kurz den toten Fahrer, nahm sein Gewehr und drehte sich zu uns um.

„Talitha!“ schrie ich. „Was hast du vor?“

Sie gab einen Testschuß auf einen Baum ab und sicherte die Waffe wieder. Nach einem Blick zu mir hastete sie über die Leiter hinauf und verschwand im Wagen. Die Leiter klappte hoch, die Tür schloß sich, und kurz darauf ruckte das Fahrzeug an und rollte unter versuchsweisen Lenkbewegungen vorwärts. Ich lief darauf zu, aber nun beschleunigte Talitha voll und ließ die Räder Sandfahnen aufwerfen. Entschlossen steuerte sie auf die Ufervegetation zu, walzte sie nieder und durchquerte das seichte Bachbett. Drüben erklomm sie die Uferböschung, drängte sich durch eine Lücke zwischen den Büschen und fuhr in die Wüste davon. Ich schaute ihr nach, fassungslos darüber, daß sie mich verlassen hatte, bis sie über den Rücken einer Düne verschwand. Wenigstens war ihre angedeutete Tändelei mit Raffles nur eine Täuschung ihm gegenüber und kein Verrat an mir gewesen. Und ich war froh, daß ich lange genug gezögert hatte, auf sie zu schießen, bis das klar war.

Als ich mich umdrehte, sah ich Yu Yan Chen immer noch an ihrem Ast hängen. Frido hatte das Messer aufgehoben und durchtrennte den Strick, während Björn sie hielt und dann sachte herunterließ. Ich holte meinen Helm und setzte ihn auf, um wieder mit Nouris sprechen zu können.

„Puffy, wie sieht’s bei dir oben aus?“ fragte ich sie.

„Die Schiffe von Raffles und Willard haben gerade den grünen Diskus zerstört und fliegen nach Osten. In drei Minuten werden sie über euch sein. Die beiden haben sich offenbar zusammengetan, denn beim Bodenkampf haben ihre Gruppen nur auf die anderen geschossen, aber nicht aufeinander. Übrigens hat die Kherthuk noch ihre zwei Lasergeschütze und eine funktionsfähige Ionenkanone. Deshalb konnten sie das dritte Schiff so schnell vernichten.“

Das war eine böse Überraschung. Raffles hatte also besonders gute Beziehungen zu den Xhankh gehabt, wenn bei seinem Schiff zusätzlich zu den Kinetic-Kanonen auch Waffen funktionsfähig belassen worden waren, wie Nouris sie offiziell nicht haben durfte.

„Ich steige mit der Jeannie auf“, berichtete Nouris weiter, „als wollten wir Nayotakin verlassen. In Wirklichkeit will ich auf eine Linie zwischen ihnen und der Sonne kommen. Sie bremsen, als wollten sie auf etwas warten. Von…“

„Wo ist Julani?“ unterbrach ich sie.

„Die wird gleich bei euch sein, aber nicht früh genug, um Raffles‘ Xhankh-Beiboot abzufangen, das gerade über die Berge im Norden kommt. Haltet euch bei der Landyacht in Deckung, während ich es mit dem Beiboot hinhalte. Dabei muß ich aber aufpassen, ihr wißt schon, wegen des Komm-Portals. Das Xhankh-Boot ist stark bewaffnet.“

Bei diesen Worten fiel mir das Kommunikations-Wurmlochportal und die Gefahr ein, in der wir uns zuvor während des Luftkampfs der Beiboote befunden hatten. Zwar hätte Nouris notfalls wahrscheinlich schnell die Leitungen zurückziehen und das Wurmloch sicher abschalten können, aber ein Restrisiko blieb bestehen, daß ein Treffer tief und nahe genug durchschlug, um es sofort zu einem winzigen Schwarzen Loch kollabieren zu lassen. Beim nun bevorstehenden Kampf würde dieses Risiko noch größer sein.

In diese Überlegungen hinein begann die Bordwaffe der Lartana wieder zu schießen, und mir wurde bewußt, daß wir den Mann darin vergessen hatten, der sie zuvor bedient hatte, denn der Fahrer hatte ja am Eingang gestanden und war dort getötet worden. Zum Glück war ich bei Talithas Flucht nicht noch weiter zum Bach hin und aus dem toten Winkel der Kanone gelaufen, aber warum der davonfahrende Sandrunner unbehelligt geblieben war, blieb rätselhaft.

Unser Beiboot schwebte knapp über dem Boden hinter das Heck der Landyacht und feuerte daran vorbei nach Norden. Meine Freunde hatten inzwischen Yu Yan von ihren Fesseln befreit und waren offenbar zugleich mit mir von Nouris informiert worden. Zu viert eilten wir zum Fahrzeug hin, wobei wir Yu Yan helfen mußten, denn sie war noch zu sehr durch die vorherige Abschnürung ihrer Füße beeinträchtigt. Auch Björn hinkte etwas, beeinträchtigt durch einen Streifschuß oberhalb seines linken Knies, der seine Rüstung verbeult hatte. Fridos Brustpanzer wies zwei kleinere Dellen auf, offenbar von Gaußpistolen, die nicht durchgeschlagen hatten. Und ich spürte meine Rippen.

Als wir die Einstiegsrampe erreichten, sprang Björn auf die untersten Stufen, und ich erkannte, daß es eine gute Idee war, im Inneren der Landyacht Schutz zu suchen. Diese begann rückwärts zu fahren, als wir dem Mädchen auf die Rampe halfen, und Frido und ich konnten gerade noch aufspringen, ehe das Tempo zu hoch wurde. Vom Oberdeck hörten wir eine Reihe lauter Einschläge, dann spritzten Sandfontänen unter unserem Beiboot hoch. Ehe es hinter das riesige Rad zurückwich, sah ich auf seinem Bug noch mehrere Treffer aufblitzen.

Gemeinsam warfen wir den toten Fahrer hinunter, der bis dahin das Schließen der Rampe blockiert hatte, und zogen uns in den Vorraum zurück. Nun stoppte die Lartana wieder. Draußen raste das Xhankh-Beiboot vor dem Fahrzeugbug vorbei, quer driftend, um währenddessen die Waffenlafette weiter zu beschießen. Es sah ähnlich wie Khreks Shuttle aus, war aber kleiner und schlanker. Als es südlich von uns wendete, immer noch feuernd und verfolgt von den Geschossen unseres Beibootes und der Kanone über uns, begann es sich plötzlich zu schütteln und Teile zu verlieren. Eine Rauchfahne hinter sich herziehend, schmierte es ab und bohrte sich in eine Düne.

„Julani hier!“ ertönte es in unseren Kopfhörern. „Komme ich noch rechtzeitig?“

„Gerade richtig“, antwortete ich, „aber bevor du uns aufnehmen kannst, müssen wir hier noch einen Gegner erledigen, sonst schießt er entweder auf dich oder auf uns, wenn wir aussteigen.“

Frido und Björn hatten dieses Problem auch erkannt und gingen in den Korridor, der zum Steuerraum führte. „Wartet“, hielt ich sie zurück, „den Kerl lenken wir besser ab. Nouris, laß das Beiboot genau vier Schüsse auf die Bugverglasung abgeben. Dann krachen wir rein.“

„Vier Schuß, kommt sofort“, bestätigte sie.

Nebeneinander gingen wir vor der Steuerraumtür in Stellung, koordinierten uns mit Handzeichen, und als Nouris durch unsere Helmkameras sah, daß wir bereit waren, ließ sie es viermal krachen. Ich riß aus der Hocke die Tür auf und nahm das Gewehr in den Anschlag, während Frido und Björn über mich hinwegfeuerten. Als ich selbst zum Schuß kam, war es schon nicht mehr notwendig, denn der Mann kippte mir hinter dem Schaltschrank hervor entgegen, wo er mit der Pistole in der Hand gewartet hatte.

Nachdem wir uns davon überzeugt hatten, daß kein lebender Feind mehr an Bord war, und die Kanone auf dem Fahrzeugdach abgeschaltet hatten, sagten wir Julani Bescheid, daß sie nun kommen konnte. Yu Yan ging nach oben, um sich von Lurellas Sachen etwas zum Anziehen zu holen. Wir anderen stiegen aus und trafen uns mit Julani, die schon jenseits der herumliegenden Leichen gelandet war. Sie trug ihre Uniform, um im Bedarfsfall ihre Autorität oder Immunität als Shomhainar-Agentin ausspielen zu können. Als sie mich sah, erschrak sie, und ich wußte im ersten Moment nicht, warum. „Ist nicht mein Blut“, sagte ich dann, „ich bin unverletzt.“

„Du siehst furchtbar aus“, sagte Julani sichtlich erleichtert. Dann hob sie den Blick und rief: „Schaut, da oben!“

Wir drehten uns um und sahen über die Landyacht hinweg eine meteorähnliche Erscheinung ostwärts über den Himmel ziehen. Kleinere Funken lösten sich aus ihrem Feuerschweif und zogen eigene Leuchtspuren hinter sich her.

„Das muß das zerstörte Raumschiff sein“, stellte Björn fest.

„So ist es“, bestätigte Nouris.

Nachdenklich ließen wir unsere Blicke über die einundzwanzig Toten schweifen, die um uns verstreut lagen, und konnten kaum fassen, daß wir diesen kurzen, intensiven Kampf überlebt hatten. Und wieder hatten uns Faktoren geholfen, die außerhalb unseres Einflusses lagen: Auf Babylon 6 die Kellnerin und die flüchtenden Gäste, im Falkenhorst der Zufall, daß andere Angreifer uns gerade zuvorgekommen und statt uns ins Verderben gelaufen waren, und diesmal hatten wir davon profitiert, daß unsere Feinde sich in gegenseitigem Verrat gegeneinander gewandt und nicht damit gerechnet hatten, daß Nouris auch nach der Zerstörung der Relaissonde noch das Beiboot kontrollieren konnte. Und auch so war es fast ein Wunder, daß es keinen von uns erwischt hatte. Meine Knie begannen zu zittern, und ich fragte mich, ob es den anderen auch so ging.

Nach einigen Sekunden machten wir uns daran, den Toten alles abzunehmen, was sie an Ausweisen, Berechtigungskarten und Kontrollgeräten bei sich hatten. Kurz bevor wir fertig waren, kam Yu Yan herunter. Sie war barfuß, weil Lurellas Schuhe ihr zu groß waren, und trug ein blaues Minikleid, das wie ein Kartoffelsack an ihrer kleineren Gestalt hing. Wir machten sie mit Julani bekannt und durchsuchten dann auch die Lartana nach denselben Sachen wie bei den Toten und nach Dokumenten, nahmen einen Handcomputer an uns, und ich wusch mir in der Bordtoilette das Zebrigerblut vom Gesicht. Danach gingen wir an Bord der Dayu, wo Yu Yan gleich in die Dusche verschwand, und starteten, um nach Venayon zu fliegen und die Villa Arkinor in Besitz zu nehmen. Unser Beiboot, das zwar noch flugfähig war, aber von uns wegen der durchlöcherten Kabine nicht mehr für Weltraumflüge benutzt werden konnte, begleitete uns.

Auf dem Flug nach Venayon nahmen wir Verbindung zur Eigentumsregistrierungsbehörde von Shom-Earth auf und erfuhren, daß Arkinor soeben neuen Besitzern überschrieben worden war. Auch die Konten von Lorimar und Lurella waren für uns gesperrt. Jenseits der Stadt stieg gerade die Lurelor auf, und als wir in weitem Bogen über den Fluß und um den Stadtrand herum auf unser Ziel zuflogen, sahen wir die Hokahey und die Dreamspider, die dort landeten. Eine überraschend große Zahl von Gestalten stieg aus und schwärmte zum Gebäude. Offenbar hatten die Kaundas und Wiener deshalb nicht an der Konferenz teilgenommen, weil sie mit deren gewaltsamem Ausgang gerechnet und darauf spekuliert hatten, sich aus der Hinterlassenschaft der Verlierer bedienen zu können. Als wir näherkamen, wurden wir von der Dreamspider angerufen, und ich öffnete die Verbindung. Auf dem Hauptbildschirm erschien das Gesicht von Ndoni Kaunda.

„Gratuliere zu eurem Sieg“, sagte sie keck lächelnd. „Und danke für alles, was wir uns dadurch von Lo und Lu aneignen können. Wir haben ihre Hinterbliebenen davon überzeugt, es uns zu überlassen. Versucht aber nicht, euch Arkinor selber zu holen, denn ich und der Mann in der Hokahey können sofort abheben, um unsere Bordwaffen einzusetzen. Und gegen Pop und Merton und ihre Männer hättet ihr am Boden keine Chance. Seid zufrieden mit dem, was ihr euch vom Besitz der anderen schnappen könnt.“

Damit hatte sie recht. „Über dieses andere könnten wir vielleicht miteinander ins Geschäft kommen, wenn wir die Schiffe von Raffles und Willard erledigt haben.“

„Wenn“, erwiderte sie, und diesmal wirkte ihr Lächeln boshaft.

Ich unterbrach die Verbindung, und Julani drehte ab und zog das Schiff über der Stadt hoch. „Nouris, wie ist inzwischen die Lage im Weltraum?“ fragte ich.

„Die Kherthuk und die Lyensai befinden sich knapp sechshundert Kilometer hoch über dem Ostrand der Kyurui. Sie bremsen weiter und halten die Höhe. Wahrscheinlich wollen sie abwarten, bis die Lurelor auf gleiche Höhe mit ihnen kommt und Kurs auf Tusafird nimmt, scheinbar sicher vor Kinetic-Geschossen, und sie dann überraschend mit den Lasern und dem Teilchenstrahler erledigen. Auf die Entfernung können sie das leicht.“

„Also haben wir auch keine Chance, ohne Kampf an ihnen vorbei nach Tusafird zu kommen“, stellte ich fest.

„Nein“, bestätigte sie. „Wir müssen damit rechnen, daß sie die Dayu aus dem Weltraum dabei beobachtet haben, wie sie zur Kampfstätte hinflog, sodaß sie spätestens jetzt wissen, daß sie zu uns gehört.“

„Und Ndoni hat auch schon Bescheid gewußt!“ fügte Frido hinzu. „Als ob sie es von ihnen erfahren hätte.“

Ich nickte. „Raffles hat mit Wiener verkehrt und sein Schiff über ihn bekommen. Die Kaunda-Bande war sicher an diesem Komplott beteiligt und bleibt jetzt als alleinige Gewinner übrig, abgesehen von uns. Jetzt müssen wir schnell alles andere auf uns übertragen lassen, was von hier möglich ist, bevor wir uns mit denen da oben einlassen.“

„Können wir das?“ wandte Julani ein. „Einen Kampf würden wir doch auch nicht überleben, selbst wenn wir ihnen dabei schwer schaden könnten.“

Es stimmte, daß die Kherthuk uns mit ihren Fernwaffen abschießen konnte, sobald wir hoch genug waren und noch ehe wir sie mit unseren Gaußkanonen wirksam bekämpfen konnten. Nouris und die Jeannie waren im Moment nur deshalb vor so etwas sicher, weil sie bei ihrer aktuellen Flugbahn und Geschwindigkeit wahrscheinlich auf Venayon zurückstürzen würden, wenn ihre Antriebe ausfielen, und das durften unsere Gegner nicht riskieren. Und wenn Nouris sie überraschend mit ihren Lasern und ihrer Ionenkanone ausschaltete, wäre es für Julani, die von der gleichartigen Bewaffnung des Xhankh-Schiffes wußte, nicht glaubwürdig, daß das nur mit Gaußkanonen und ohne eigene Schäden möglich gewesen war. Wir brauchten einen anderen Plan.

„Herunten bleiben können wir auch nicht“, antwortete ich. „Wenn sie es wirklich auch auf uns abgesehen haben, kommen sie sonst herunter und jagen uns in der Atmosphäre, wo sie uns allein mit ihren Kinetics überlegen wären. In Venayon hätten wir als Nicht-Einwohner keinen Schutz durch das Stadtstatut und könnten nicht sicher sein, ob nicht schon Killer am Raumhafen auf uns warten.“

„Sag‘ zweimal!“ warf Frido ein. „Und man kann nicht ausschließen, daß die Hokahey uns vorher angreift.“

„Genau.“ Ich überlegte kurz. „Deshalb brauchen wir die Vermögenswerte, die wir uns von den anderen Toten sichern können. Die da oben sind wahrscheinlich bloße Mietlinge und werden jetzt, wo ihre Bosse tot sind, für finanzielle Angebote zugänglich sein. Noch dazu wo sie nach unserer Vernichtung einen Kamikazeangriff von Nouris und der Jeannie befürchten müssen, mit ungewissen Überlebensaussichten. Wir werden dazu auch ein dreiteiliges Zangenmanöver fliegen.“ Ich erklärte es ihnen.

Während des Steigflugs ostwärts durch die Stratosphäre ließen wir Raffles‘ Wüstendomizil Majerdun, Willards Villa in Mist City und Ramses‘ Wohnung auf Babylon 6 auf uns registrieren und verschoben alle für uns greifbaren GVE-Guthaben der getöteten Feinde auf unsere Konten. Yu Yan war inzwischen aus dem Bad gekommen und hatte sich, noch mit einem Handtuch um die Haare, auf einem der Gästesitze hinten im Cockpit angeschnallt. Julani saß auf dem linken Vordersitz und ich rechts neben ihr, Frido und Björn seitlich versetzt auf den Sitzen hinter mir. Das beschädigte Beiboot flog uns auf einer flacheren Flugbahn und tiefer voraus.

Als die Kherthuk auf die Lurelor zu schießen begann, informierte Nouris uns über den Ablauf der Vernichtung. Das fliehende Schiff wurde vom Heck bis zum vorderen Rumpfrücken von einer schnellen Folge von Ionenpulsen und Laserblitzen getroffen. Die Trefferstellen glühten auf und stießen verdampftes Material aus, und das Schiff begann zu taumeln und unkontrolliert um alle Achsen zu rotieren. Der Beschuß wurde fortgesetzt, bis die Lurelor ein antriebsloses Wrack war. Sie war bereits schnell genug, um der Schwerkraft von Nayotakin zu entkommen, aber den auf seiner Außenbahn bereits weit zurückliegenden Mond Tusafird mit seinen Wurmlochportalen würde sie nicht erreichen. Stattdessen würde sie an der nachlaufenden Hemisphäre von Nayotakin vorbei auf Karendru zustürzen und in der Atmosphäre des Riesenplaneten verglühen.

Wir hatten Nayotakins Lufthülle gerade verlassen und wurden von unseren Gegnern angerufen. Es war eine reine Sprechverbindung ohne Video.

„Hier Mako Kilroy von der Kherthuk“, sagte eine Männerstimme. „Ich weiß nicht, was da unten abgelaufen ist, Flint, und wie ihr das überleben konntet und alle anderen nicht. Hier oben seid ihr aber chancenlos, wie ihr gerade gesehen habt. Es gibt für euch nur eine Möglichkeit, lebend davonzukommen: ihr kauft euch frei.“

„Und wie stellt ihr euch das vor?“ fragte ich zurück. Es kam uns zupaß, daß sie diesen Vorschlag von sich aus machten.

„Wir schließen jetzt per Fernregistrierung einen Vertrag bei Shom-Earth: Ihr überweist jedem von uns eine Million GVE. Soviel müßtet ihr aus dem aufbringen können, was ihr heute erbeutet habt. Und ihr überschreibt uns das Schiff, in dem ihr sitzt. Dann dürft ihr euch mit dem Beiboot absetzen.“

Nun meldete sich eine jungenhaft klingende Stimme aus der Lyensai: „Bedenkt, daß das billig ist dafür, daß ihr möglicherweise am Tod meines Vaters und von Makos Schwester beteiligt wart. Wenn ihr zu lange überlegt, setzen wir den Preis hinauf.“

„Nicht so voreilig“, konterte ich. „So leicht hättet ihr es gegen uns nicht, daß das Geld dieses Risiko wert wäre. Ihr wißt sicher, welche Absicherungen wir genannt haben. Und drei Schiffe gegen eure zwei sind auch kein Klacks.“ Ich mußte die beiden hinhalten, um Nouris Zeit für ihre taktischen Vorbereitungen zu verschaffen.

Kilroy schnaubte. „Das schreckt uns nicht. Unsere Leute sind tot, und über uns wißt ihr nichts Belastendes. Eure drei Schiffe könnte ich allein mit meinem vernichten.“

„Bist du sicher, was wir wissen und was nicht?“ bluffte ich. „Oder daß wir nicht in dem Beiboot da unten sitzen?“ Ich schaltete die Verbindung über Nouris zum Beiboot und sprach ihn von diesem aus weiter an: „Aber dein Teilchenstrahler und deine Laser sind ein Argument. Laßt uns kurz Zeit, um das unter uns zu bereden.“

„Aber nicht zu lange!“ schnappte Willard junior. „Paßt währenddessen eure Flugbahn an unsere an.“

Ich ließ die Verbindung stehen und schaltete nur das Mikrofon ab.

Frido sprach als erster. „Ich glaub‘ nicht, daß die uns davonkommen lassen, wenn wir auf den Handel eingehen“, sagte er. „Die haben sicher einen Plan, wie sie uns hinterher trotz des Vertrags erledigen können.“

„Ich glaub’s auch nicht“, stimmte ich zu. „Nicht bei diesem persönlichen Bezug.“

„Aber was können wir machen?“ fragte Julani besorgt.

Ich bedauerte, daß ich ihr nicht sagen konnte, welche geheimen Trümpfe uns zur Verfügung standen. Bis wir das überstanden hatten, mußte ich sie in ihrer Angst lassen. „Nouris, wie weit bist du?“ fragte ich.

„In drei Minuten bin ich in der Sichtlinie zwischen ihnen und der Sonne“, meldete sie. „Dann können sie mich und die Jeannie zwar immer noch mit Radar orten, aber unsere Kinetic-Geschosse werden überstrahlt.“

„Kinetics?“ sagte Julani. „Die werden das Xhankh-Schiff nicht schnell genug ausschalten, daß es seine Fernwaffen nicht mehr einsetzen kann, selbst wenn wir gleichzeitig auch darauf schießen. Gegen die Bremsstrahlung und Röntgenstrahlung sind wir hier ungeschützt.“

Mir war ebenfalls klar, daß schon der erste Teilchenpuls, der uns frontal traf, tödlich sein würde, ganz zu schweigen von den Lasern. „Weiß ich“, sagte ich. „Nouris, ich verringere jetzt die Beschleunigung, damit sie das auch tun und das Beiboot sie rechtzeitig erreichen kann. Geht sich das aus?“

„Ja, wenn du den Schub ganz wegnimmst.“

Julani sah zweifelnd drein. „Rammen mit dem Beiboot? Das hätte sicher eine beachtliche kinetische Energie, aber vielleicht nicht genug, und sie würden wohl schon vorher auf uns schießen, sobald sie die Absicht bemerken.“

Frido grinste, da er Bescheid wußte. Aber das Problem war, daß Nouris das Wurmloch nicht schon vor der Kollision zusammenbrechen lassen konnte, weil die Entfernung zu uns bereits zu gering war, als daß der Röntgenblitz für uns ungefährlich gewesen wäre. Auch mußte der Elektromagnetpuls gedämpft werden, und dann war da noch die Geheimhaltung. Es mußte ein Direkttreffer werden, und selbst dann mußte das Timing stimmen. „Nouris, jetzt wäre es Zeit für deine Charmeoffensive“, sagte ich.

„Die war schon erfolgreich“, antwortete sie. „Wir lassen uns aber noch nichts anmerken, bis es notwendig ist.“

„Was ist jetzt?“ bellte Kilroy. „Habt ihr euch endlich entschieden?“

„Ja“, antwortete ich, nachdem ich das Mikro reaktiviert hatte. „Ihr seht ja, daß wir den Schub abgeschaltet haben, und ich schlage vor, daß ihr das auch tut. Ihr seid noch immer höher als wir, und du willst sicher nicht, daß ein Ionenstrahl von dir in die Atmosphäre über Venayon dringt und verrät, was für ein Spielzeug du in deinem Schiff hast.“

Er kicherte böse. „Ja, beim jetzigen Winkel würde ich meine Hauptwaffe nicht gegen euch einsetzen wollen. Aber wir haben immer noch die Laser und die Kinetics, auch wenn es damit nicht so schnell ginge, daß ihr uns nicht vorher noch beschädigen könntet. Gegen eure anderen Schiffe wäre ich danach in der Wahl der Waffen nicht eingeschränkt. Es wird auch nichts helfen, euer Beiboot gegen uns zu lenken, denn das wird zerstört sein, ehe es uns erreichen kann. Louis, bis du so nett, das zu übernehmen, während ich auf unsere Geschäftspartner ausgerichtet bleibe?“

„Klar“, kam die Antwort, und die Lyensai, die im Abstand von acht Kilometern neben der Kherthuk flog, begann ihren Bug auf das Beiboot zu richten, das den antriebslos fliegenden Schiffen von unten her steil entgegenstieg. Nouris ließ es mit höchster Notleistung beschleunigen und so viel Wasser wie möglich in das Plasma einspritzen, das aus seinem Massekonverter kam. Heißer Dampf schoß aus seiner Düse und verstärkte den Schub. Auf meinem Bildschirm erschien eine schriftliche Nachricht von Nouris: „Die Eisenhummeln sind schon unterwegs, und die Kupferwespen auch. Der Hauch des Zauberdrachens folgt zeitgleich mit ihrem Einschlag. Und Louis der Letzte ist schon entmachtet.“

Die Lyensai stoppte ihre Abwärtsdrehung und begann sich auf den Xhankh-Kreuzer auszurichten. Also hatte Nouris sie tatsächlich mit ihren Autorisierungscodes rekrutieren und unter ihre Leitung stellen können. Mako Kilroy bemerkte es und funkte sie an, und da sie die Kommunikation über Nouris an uns weiterleitete, konnten wir mithören.

„Louis, was ist los?“ fragte Kilroy. „Warum schießt du das Ding nicht ab? Haben sie dich gekauft? Louis?!

Auf unseren Bildschirmen erschien eine Videoaufnahme aus der Kontrollzentrale der Lyensai. Louis Willard schrie verzweifelt irgendetwas, das wir mangels Tonübertragung nicht hören konnten, während um ihn lose Blätter und andere Dinge durch die Luft wirbelten, die anscheinend in den Weltraum abgelassen wurde. Dann hastete er zur Tür der Zentrale, die sich aber nicht öffnen ließ. Inzwischen beschoß sein Schiff schon die Kherthuk, die um ihre Längsachse rollte, um ihre beweglichen Laser auf ihn zu richten. Willard riß eine Luke neben der Eingangstür auf und stieg in eine Fluchtkapsel, die sich in dem Schacht dahinter befand. Mit dieser schoß er sich aus dem Schiff.

Gleich darauf wurde die Kherthuk von Kinetic-Geschossen, Laserblitzen und den Ionenpulsen aus Nouris‘ Hauptwaffe getroffen und begann ihren Bug auf die neue Bedrohung zu richten, die über und hinter uns lag, wodurch wir nicht mehr in ihrer Schußlinie waren. Ich schaltete den KI-Computer der Dayu und die Bordelektronik bis aufs Notwendigste ab, um das Schadensrisiko durch einen eventuellen elektromagnetischen Impuls zu minimieren. In dieser Höhe konnte es zwar nicht viel davon geben, da die Exosphäre schon sehr dünn und großteils ionisiert war, aber dennoch…

Zu spät fiel mir ein, das Schiff zu wenden, um uns Strahlungsschutz durch den Rumpf zu geben. Depp! schalt ich mich in Gedanken, während ich mittels des Hilfscomputers eine Rechtsdrehung einleitete, wie ein Karnickel vor der Schlange… Während das Schiff sich in Bewegung setzte, regelte ich die selektive Abdunkelung der Cockpitscheiben in den kurzwelligeren Frequenzbereichen auf Maximum. Der Ozean östlich von Lellai, der am unteren Rand der Frontscheibe zu sehen war, verfärbte sich und wurde dunkler.

Julani sah fragend zu mir her, und das bewahrte sie vor einer möglicherweise schädlichen Blendung, denn in diesem Moment raste unser Beiboot heran und schlug von schräg unten in die große hintere Rumpfkugel des Xhankh-Schiffes. Ein gelblichweißer Lichtblitz erhellte das Innere des Kontrollraums, und als wir reflexhaft hinausschauten, sahen wir eine leuchtende Gaskugel, die sich blitzschnell ausdehnte und zu nichts verblaßte.

Als die Nachbilder in unseren Augen verschwunden waren, erkannten wir ein glühendes Objekt, das von der Explosionsstelle auf uns zukam und über uns hinwegflog. Es war die vordere Rumpfkugel des Xhankh-Schiffes, die wohl in unsere Richtung den Großteil des gleißenden anfänglichen Lichtblitzes und alles an Röntgenstrahlung abgefangen hatte, was nicht von der Masse des Hauptrumpfs absorbiert worden war. Der gesamte Rest des Schiffes war als viele tausend Grad heißer Gasball verdampft.

„Was war denn das?“ fragte Julani verblüfft. „Das Beiboot kann doch unmöglich so eine Aufschlagenergie gehabt haben?“

Ich überlegte, was ich ihr sagen konnte, während ich die KI im Selbsttestmodus wieder hochfuhr. „Muß eine illegal mitgeführte Nuklearwaffe gewesen sein“, flunkerte ich. „Talitha hat mir erzählt, daß Raffles geprahlt hat, er könne so etwas bekommen. Die Explosion des Beibootes muß sie hochgehen lassen haben. Diese Möglichkeit ist mir im letzten Moment noch eingefallen, deshalb habe ich sicherheitshalber die meiste Elektronik abgeschaltet und das Schiff wegzudrehen versucht.“ Das würde auch meine Darstellung gegenüber der Shomhainar-Raumüberwachung sein müssen, falls die das wahre Ausmaß dieses Feuerwerks mitbekommen hatte.

Tatsächlich hatte Nouris das Kommunikationswurmloch im Moment des Einschlags durch Abschalten des Portals auf ihrer Seite zur Bootsseite hin kollabieren lassen. Davor hatte sie das Wurmloch gerade so weit verkleinert, daß das im Beiboot entstehende winzige Schwarze Loch bei seiner unmittelbar darauf erfolgenden Verdampfung nur eine Energie von einigen Kilotonnen TNT an Röntgenstrahlung freisetzen würde. Diese Strahlung war von der Masse der Hauptrumpfkugel absorbiert und bei ihrer Expansion als sichtbares und ultraviolettes Licht wieder abgegeben worden. Wegen der inneren Röntgenabsorption und der lokalen Exosphärenbedingungen war es auch nur zu einem schwachen EMP gekommen, der keine Schäden verursacht hatte, wie eine Überprüfung der Systeme ergab. Nur die Lyensai, die viel näher dran gewesen war, meldete ein paar periphere Elektronikschäden.

Das erinnerte mich wieder an Louis Willard in seiner Rettungskapsel, die sich antriebslos von Nayotakin entfernte und seit dem Start aus dem Schiff nicht manövriert hatte. Vielleicht war ihre ungeschützte Elektronik stärker geschädigt worden, vielleicht hatte Willard selbst Röntgenstrahlung abbekommen, oder vielleicht stellte er sich auch nur tot. Ich wollte sichergehen und zielte mit der rechten Kanone der Dayu auf ihn. Dann durchlöcherte ich seine Kapsel mit einer Salve. Da sein Schiff zuletzt wie die Kherthuk noch knapp unter Kreisbahngeschwindigkeit gewesen war, würde er auf den Mond zurückfallen und über dem Ozean östlich von uns verglühen, in den auch die abgesprengte Rumpfkugel stürzen würde.

Während wir alle Systeme überprüften und uns von den Sensormessungen bestätigen ließen, daß wir keine schädliche Strahlung abbekommen hatten, bremsten wir weiter ab und warteten auf das Rendezvous mit Nouris und der Jeannie. Als alle Schiffe beisammen waren, dockten wir an der Jeannie an, und Frido und Björn gingen hinüber, da wir mit beiden Schiffen zu Raffles‘ Anwesen fliegen wollten, um es zu übernehmen und festzustellen, ob Talitha mit dem Sandrunner dorthin gefahren war.

Gleichzeitig koppelten Nouris und die Lyensai sich mit ihren Andockschleusen aneinander, um ihre KIs über die integrierten Datenanschlüsse zu verbinden. Bei dieser Gelegenheit sah ich die Lyensai erstmals aus der Nähe. Sie war eine einfache Konstruktion, die von Menschen unter Lwaong-Anleitung für die Notproduktion in der letzten Kriegsphase geschaffen worden war, ein stahlblauer zylindrischer Turm, so hoch wie Nouris, mit eiförmig verdickter Bugsektion und fünf langen Wülsten um die unteren Flanken, in denen die Massekonverter und die Warpfeldgeneratoren untergebracht waren. Da ich das Schiff behalten wollte, sollte Nouris nicht nur die Daten seines Vorbesitzers kopieren, sondern ihm auch eine Kopie ihrer Spezialsoftware einschließlich der geheimen Autorisierungscodes übermitteln. Wenn sie fertig waren, sollten die beiden Lwaong-Schiffe zu uns nachkommen.

Noch vor dem Eintritt in die Atmosphäre orteten wir ein kleines Raumschiff, nur wenig größer als eines unserer Beiboote, das von Majerdun gestartet war und steil nach Westen durch die Stratosphäre davonraste. Und über die Stratosphäre hinaus, dachte ich, nach Tusafird und von dort zu den Sternen. Ich wünschte ihr Glück. Flieg‘, mein Vögelchen, mit deinen ungestutzten Flügeln

„Sollen wir es abschießen?“ funkte Frido von der Jeannie herüber.

„Nein“, antwortete ich. „das ist… jemand, den wir kennen.“

Er verstand.

Unser Sinkflug in die abendlich beleuchtete Kyurui-Wüste verlief ohne weitere Zwischenfälle. Als wir Bodennähe erreichten, war die Sonne schon fast ganz untergegangen, und nur stellenweise schien noch Abendlicht auf höhere Dünenkuppen. Während Julani steuerte, schaute ich aus dem Cockpit nach links zur Jeannie, die im Tiefflug über eine solche Kuppe setzte, mit Frido am Steuer und Björn an den Waffenkontrollen. Dann wandte ich mich wieder nach vorn, zu Raffles‘ Basis, die nun in Sicht kam.

Sie war genau so, wie Talitha sie beschrieben hatte: ein kleiner, von der Erosion freigelegter Vulkanschlot, der vom Schuttkegel um seine Basis befreit worden war und aus dem man Gänge und Räume gehöhlt hatte. Die Fensteröffnungen in seinen Flanken waren dunkel, und die Zugbrücke zur einige Meter über dem Boden liegenden Garage für den Sandrunner war hochgezogen. Daneben gab es noch drei geschlossene Tore in derselben Höhe. Niemand rief uns an. Mittels Raffles‘ Zugangscontroller meldeten wir uns beim Zentralcomputer als berechtigte Nutzer an und setzten auf dem Landeplatz auf, wobei wir darauf achteten, daß die Rampen unserer Schiffe von dem Vulkanstock abgewandt waren, um Deckung zu haben, falls wir doch feindlich empfangen wurden.

Frido, Björn und ich stiegen aus und gingen zur Felswand vor uns hin, während Julani mit Yu Yan im Cockpit der Dayu blieb. Es war jetzt dunkel, und nur der hoch im Westen stehende kleine Außenmond Niakird erhellte die Landschaft ein wenig und erzeugte schwache Schatten. Mit dem Controller ließen wir die Zugbrücke herunter, gingen hinauf und fanden die Kaverne leer vor. In den beiden benachbarten Hangars standen zwei Flugwagen, und im Verbindungsgang dahinter lag ein toter Mann mit einem Laserbrandloch im Kopf.

Angespannt durchsuchten wir den gesamten Komplex aus Stollen und Räumen, fanden aber außer drei verängstigten Frauen, die in einem fensterlosen Raum eine Ebene unterhalb der Dachterrasse eingesperrt waren, keine lebenden Menschen. Eine dieser Frauen war die Blondine, die wir bei Merton Wiener auf Hektalassa gesehen hatten, eine junge Norwegerin namens Ingvild Janssen. Die anderen zwei, Kellie Cairns und Lisa Heinke, waren ebenfalls Weiße und stammten aus dem Mittelwesten der USA. Sie trugen Showgirl-Outfits und hatten erwartet, nun für Raffles‘ geplante Siegesparty abgeholt zu werden. Nachdem wir ihnen klargemacht hatten, daß wir sie befreien kamen, sagten sie aus, daß sie vor kurzem das kleine Raumschiff starten gehört hatten, das in seinem Startschacht nebenan untergebracht gewesen war. Wir reimten uns aufgrund dessen zusammen, daß Talitha sich mit einem Controller, der sich im Sandrunner befunden haben mußte, Zugang verschafft und den Mann erschossen hatte, den wir unten gefunden hatten, und dann mit dem Raumboot davongeflogen war. Die Landyacht hatte sie vielleicht zur Täuschung autonom irgendwohin in die Wüste fahren lassen.

Als die Situation soweit klar war, gingen wir mit den drei Frauen auf die Dachterrasse, die aus dem Gipfelplateau herausgearbeitet worden war, traten an die Brüstung und funkten Julani an, daß sie jetzt nachkommen konnte. Nouris und die Lyensai kamen gerade herunter, schleusten ihre Beiboote aus, um sie als Luftdeckung über dem Tal kreisen zu lassen, und landeten hinter den anderen beiden Schiffen. Ingvild, Kellie und Lisa staunten über unsere kleine Flotte und waren überrascht, daß wir nur zu fünft waren.

Nachdem sie sich nach unten verabschiedet hatten, um sich etwas mehr anzuziehen, sagte Frido: „Ein harter Tag geht zu Ende… und dabei wollten wir unser Glück nicht mehr oft auf die Probe stellen.“ Sein Sohn brummte zustimmend und nickte. Bei ihm war klar, daß er auch an seine Familie denken mußte.

„Ja“, sagte ich, „und dieses Mal hätte leicht das eine Mal zu viel sein können. Im Orbit dann noch einmal. Und ist euch klar, daß wir das Problem, das dazu geführt hat, jetzt in mehrfacher Form wieder haben? Nämlich daß wir jetzt Daten von drei Verbrecherpaaren und von Myrrer besitzen, wo sicher auch Informationen über andere Kriminelle dabei sind, wegen denen die uns wegräumen wollen. Das wächst uns über den Kopf.“

„Das hab‘ ich mir auch schon gedacht“, stimmte Frido zu. „Hast du das gemeint, als du Ndoni ein Geschäft vorgeschlagen hast?“

„Genau. Einen Abverkauf der Domizile von Raffles, Willard und Ramses mitsamt allen Computern, Daten und Unterlagen an die Kaunda-Bande, plus Bekanntmachung in der Earthin-Szene. Und nachdem ihr zwei schon morgen mit den Gästen losfliegt, werden wir es relativ billig geben müssen, damit wir das alles vorher noch loswerden.“

„Leider. Und wir stärken diese Bande damit finanziell, und das wiegt die Ausschaltung der anderen Verbrecher teilweise wieder auf.“

Ich verzog das Gesicht. „Mhm, das ist zusätzlich desillusionierend. Und ohne Talitha habe ich nicht nur ihr Insiderwissen nicht mehr, sondern auch keinen Bock, mich da weiter zu engagieren. Vielleicht hat sie das Eskalationsproblem auch gesehen und ist deshalb abgehauen. Übrigens, wo jetzt feststeht, daß die Jeannie an mich fällt: möchtest du die Dayu haben? So viele Raumschiffe brauche ich ja nicht.“

„Ja, die wär‘ schon zu mögen.“ Er grinste und wandte sich zum Gehen. „Aber jetzt schauen wir besser zu Julani hinunter, damit sie sich nicht verläuft.“

Wir holten Julani ab, riefen dann aus Raffles‘ Büro Maxim Kaunda und Merton Wiener auf Arkinor an und handelten den Verkauf aus. Die Übergabe der Controller, Schlüssel und Dokumente für Majerdun, das Kaunda um einen überraschend hohen Preis kaufte, sowie der Daten von Myrrer sollte am nächsten Morgen in seinem Schlupfwinkel „Trident Sietch“ erfolgen, der am Rand eines abflußlosen Gipswüstenbeckens südöstlich von Venayon lag und von dem wir erst bei diesem Gespräch erfuhren. Für das Treffen schlossen wir einen bei Shom-Earth registrierten Nichtangriffsvertrag ab.

Anschließend durchsuchten wir Majerdun nach brauchbaren Sachen. Dabei entdeckten wir in einer Inventardatei den wahrscheinlichen Grund für Kaundas hohes Gebot: eine der Kavernen hatte bis vor Kurzem vierzig Tonnen synthetische Drogen enthalten, die von einer Xhankh-Welt geliefert worden waren und die man in der Zwischenzeit schon für den Transport zur Erde in die Kherthuk verladen hatte. Wir empfanden Genugtuung über die Enttäuschung, die Maxim Kaunda bevorstand.

Für mich besonders interessant war ein Notizheft, das in einem Panzerschrank lag. Darin hatte Raffles – wohl um die Gefahr elektronischer Datenabsaugung zu vermeiden – handschriftlich die Punkte einer Besprechung mit Merton Wiener und einem „KH von den X“ an Bord von KHs Raumschiff festgehalten. Der Text war etwas kryptisch und teilweise in Stichworten formuliert, damit Uninformierten der wahre Inhalt unklar bleibe.

Nach meiner Interpretation ging daraus hervor, daß Khrek Hrokhar bestrebt war, über Wiener und vermutlich noch andere Kontaktleute ehrgeizige Earthin-Bandenführer zu fördern und sie mit der Aussicht zu ködern, im Fall eines Konflikts zwischen den Xhankh und der Galciv die Macht auf einem Flickenteppich von Lokalherrschaften auf der Erde zu ergreifen. Dazu sollten sie sich mit korrupten Politikern verbünden und dann die irdische Wirtschaft für die Produktion von Material für die Xhankh einspannen, soweit die Industriebasis dafür geeignet war oder schnell genug technisch umgestellt werden konnte. Das würde nur so lange möglich sein, wie die Erde noch nicht in die Galciv aufgenommen war. Die Xhankh, die ein wärmeres und feuchteres Klima schätzen als Europäer, würden in den Tropen der Erde und auf Delpavo, Dhroxharkh, Hektalassa und Nayotakin Kolonien gründen, und nach dem Endsieg sollten ihre irdischen Partner souveräne Herrscher in Territorien der kühleren Breiten dieser Welten sein. Was ich von Nouris und Julani über die Xhankh erfahren hatte, ließ das als sehr unwahrscheinlich erscheinen. Bestenfalls würden diese Möchtegern-Alphapaviane Vasallen sein.

Raffles hatte auch erwähnt, daß Menschen unklarer Herkunft mit Khrek reisten und sein Schiff für deren Unterbringung eingerichtet war. Seine Anmerkungen ließen zudem einen Verdacht erkennen, daß Khrek Leute wie ihn auch gegeneinander auszuspielen beabsichtigte, aber er war zuversichtlich gewesen, sich in Rivalenkämpfen durchsetzen zu können. Die Tötung von Lorimar und Lurella gemeinsam mit Willard und den Kaundas hätte ein Schritt zum Aufstieg auf Nayotakin sein sollen, und nun lag er tot in der Wüste. Wieder einmal sollte das historische Muster wiederholt werden, daß Aristokratien immer mit Räuberhäuptlingen beginnen und daß machtgierige Männer oft dazu neigen, zur Unterstützung ihrer Aufstiegspläne Feinde in ihre Heimat zu holen.

Diesen zusätzlichen Aspekt mußte ich bei meinem eigenen Verhalten im Rahmen von Khreks Plänen auch berücksichtigen, und ich fragte mich, was ich vielleicht noch alles nicht wußte. Und niemand durfte wissen, daß ich diese Information besaß.

Im weiteren Verlauf des Abends meldeten wir die Dayu auf Frido an und bereiteten die Reise der vier befreiten Frauen mit dem Schiff zum Erdmond vor, wo es von Aizharo gewartet und bis zur Abholung durch Frido in einem Hangar geparkt werden sollte. Wir gaben den Frauen die Controller für Willards Villa in Mist City und Ramses‘ Wohnung auf Babylon 6 mit und trugen ihnen auf, dort eventuell vorhandene Gefangene herauszuholen und mitzunehmen und die Controller dann bei der örtlichen Shom-Earth-Dienststelle für die Kaundas zu hinterlegen. Wir statteten sie mit Geld auf eigenen Konten aus und bezahlten die Shom-Earth-Schutzgebühr für die Zeit bis zu ihrer Rückkehr zur Erde. Als Geleitschutz bis Babylon 6 schickten wir die Lyensai mit, die dann dort auf einer Dauerparkfläche auf uns warten und währenddessen das Kommunikationssystem der Shomhainar anzapfen sollte. Nachdem die notwendigen Wurmlochpassagen gebucht und vorab bezahlt waren, verabschiedeten die Frauen sich, gingen an Bord und starteten mit ihrer Eskorte in den Nachthimmel.

Wir anderen verließen Majerdun und ließen die Zugbrücke hochfahren. Julani und ich räumten alles, was wir auf der Weiterreise in die Sternensphäre der Arrinyi mitnehmen wollten, in unsere Kabinen in der Jeannie und verabschiedeten uns für die Nacht. Erst jetzt fand ich die Ruhe, mich dem Gefühl des Verlusts hinzugeben, das seit Talithas Abgang in mir geschwelt hatte. Sie hatte mich verlassen, und ich wußte nicht, warum oder wohin, und was sie vorhatte. Trotz meines Grolls und meiner verletzten Gefühle fragte ich mich, ob ich es hätte vermeiden können. Wäre sie bei mir geblieben, wenn ich ihr meine Zweifel am Weitermachen wie bisher anvertraut hätte? Hätte ich mich auf dem Flug von Sanorr nach Seyouinn eindeutiger zu ihr bekennen und ihr mein volles Vertrauen aussprechen sollen, oder war es vielmehr ein Fehler gewesen, ihr die Freiheit zu geben und ihr zu vertrauen?

Aber bei dem Kampf hatte sie uns unterstützt, und auch wenn sie mir erhalten geblieben wäre, wenn ich sie als Sklavin in Besitz genommen hätte, so wäre sie dann für mich doch nicht dieselbe gewesen. Hegoak ebaki banizkiowenn ich ihr die Flügel gestutzt hätte… Vom Bett aus aktivierte ich den Wandbildschirm und rief aus den Musikdateien, die ich herüberkopiert hatte, ein Video mit Mikel Laboas Lied Txoria Txori in einer Duettversion von Maite Itoiz und John Kelly auf, in dem es zu Bildern aus dem hundertdreißig Lichtjahre entfernten Baskenland mit eingeblendetem Text in Euskara und Englisch präsentiert wurde.

Hegoak ebaki banizkio
nerea izango zen,
ez zuen aldegingo.
Bainan, honela
ez zen gehiago txoria izango
eta nik…
txoria nuen maite.

Auf Deutsch hieß das – ohne die Zeilenwiederholungen im Originaltext:

Wenn ich ihr die Flügel gestutzt hätte
Wäre sie mein gewesen
Sie wäre nicht fortgeflogen.
Aber so
Wäre sie kein Vogel mehr gewesen;
Doch ich…
Liebte, was ein Vogel war.

Txoria txori – der Vogel ist ein Vogel… Ich spielte anschließend auch die Version von Joan Baez ab, durch die ich dieses Lied kennen- und liebengelernt hatte, und sang innerlich mit wie ihr Publikum in der Stierkampfarena von Bilbao. Mit dem Gefühl, daß ich doch richtig entschieden hatte, schaltete ich ab und wartete auf den Schlaf.

*     *    *

Fortsetzung: Kapitel 9 – Im Trident Sietch

Anhang des Verfassers:

Nachfolgend habe ich wieder Links und Videos zum obigen Kapitel gesammelt, zuerst die Links in der Reihenfolge, wie die Begriffe im Kapitel vorkommen:

HD 102117 Uklun (Yenkru, die Sonne von Nayotakin und Yuryul), Spin-Orbit-Resonanz, Gezeitenheizung, Elektromagnetischer Impuls (EMP) / High Altitude EMP (HEMP), Bremsstrahlung, Mikel Laboa (baskischer Liedermacher, Schöpfer des Liedes Txoria txori)

So sehen die zeitgenössischen Xhankh-Patrouillenkreuzer aus, die eine nur in Details weiterentwickelte Version von Schiffen wie die Kherthuk aus dem Lwaong-Krieg sind (unter den ovalen Beulen an der vorderen Rumpfkugel befinden sich die ausklappbaren Laserwaffen):

Das ist Merton Wieners „blaue Shiksa-Göttin“, benannt nach der nordgallischen Jagdgöttin Arduinna (links vorne der der Vorderrumpf mit dem Großteil der Waffen, Influx-Antriebe und Energiespeicher, rechts hinten der dickere Habitatrumpf):

Wie bei den gängigen Xhankh-Sternenschiffen, von deren Grundkonstruktion die Arduinna eine glattere, elegantere Abwandlung nach Mervindos Vorgaben ist, sind die Feldgeneratorringe des Warpantriebs in die beiden Rümpfe integriert (drei vorn, vier hinten). Die Decks sind senkrecht zur Schiffslängsachse angeordnet, und das Heck enthält zwei Eindockschächte für die spindelförmigen Beiboote.

Arduinna Orion 2

Hier von rechts („FF-20“ paßt aber nur zufällig zu „Feuerfall ‘20“)…

…und hier in der Draufsicht:

Die bewegliche Bewaffnung besteht aus zwei kurzen Teilchenstrahlern beiderseits des Vorderrumpfs und zwei Gaußkanonen (Kinetics) beiderseits des Hinterrumpfs. Dazu kommen noch vier starre, großkalibrige Gaußkanonen mit 30 m Länge im Vorderrumpf und vier lange Teilchenstrahler, die vom Bug bis zum Hinterende des Verbindungshalses reichen und vor den Galciv-Behörden geheimgehalten werden müssen.

In diesem Video von Jared Owen – „How does the Gyro-X Car work?“ – wird gezeigt und erklärt, wie ein gyroskopisch stabilisiertes Zweiradfahrzeug (wie die am Anfang dieses Kapitels erwähnten) funktioniert:

Und hier sind noch zwei weitere Videos von „Txoria txori“, die Originalfassung des Autors mit spanischen Untertiteln…

…und eine Orchester- und Chorversion:

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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