
Von Jack Vance. Die Originalfassung dieses Science-Fiction-Romans erschien ursprünglich unter dem vom Autor vorgesehenen Titel „The Domains of Koryphon“ als Zweiteiler in „Amazing Science Fiction“ (Ausgaben August + Oktober 1974); für die erste Hardcover-Veröffentlichung 1975 ersetzten die Verleger diesen Titel durch den fortan verwendeten, „The Gray Prince“. Leser, die meinen Kopfbeitrag Morgenwacht: Wenn alles dunkel ist, macht Licht! kennen, in dem ich ausführlich daraus zitiert habe, werden wissen, daß der Roman eine Art „Totem-Geschichte“ meines Blogs ist. Als Lesestoff zum Abschluß des Jahres verwirkliche ich nun meine schon länger erwogene Idee, ihn zur Gänze als Vierteiler zu präsentieren (aus der inzwischen vergriffenen und nur noch in Gebrauchtexemplaren erhältlichen deutschen Ausgabe von 1979, Übersetzung von Lore Strassl).
Zuvor erschienen:
Der Graue Prinz (1): Valtrinas Party
Der Graue Prinz (2): Heimkehr nach Morgenwacht
Kapitel 6
Schaine und Elvo ritten auf zwei Kriptiden aus. Kelse bestand darauf, daß sie Schußwaffen mitnähmen und sich von zwei Ranch-Uldras begleiten ließen, was Schaine gar nicht gefiel. Aber während sie südwärts zu den Skaws ritten, sah sie doch ein, daß die Vorsichtsmaßnahmen gut gemeint waren. „Wir befinden uns gar nicht so weit vom Retentum entfernt“, sagte sie zu Elvo Glissam. „Und Sie wissen, was alles passieren kann.“
„Ich beschwere mich nicht“, versicherte er ihr.
Im Schatten des großen Skaws – ein spitz zulaufender, etwa fünfundsechzig Meter hoher Sandsteinfelsen mit Schichten in Beige, Hellgelb, Rosa und Grau – machten sie Rast. Morgenwacht war unter den bleichen Grüngummibäumen und den dunkleren transstellaren Eichen kaum zu sehen. Jenseits davon schob die noch dunklere Linie des Feenwalds sich bis zum Horizont. Westlich schlang der Chip-chap sich in Mäandern durch das Tal und verschwand südlich außer Sicht, wo er in den Massakersee mündete.
„Als wir noch klein waren“, erklärte Schaine, „kamen wir oft hier heraus zu einem Picknick oder um nach Turmalinen zu suchen. Dort drüben ist ein Graben im Pegmatit… Da hat übrigens der Erjin Kelse angefallen.“
Elvo sah sich um. „Hier?“
„Auf dem Pegmatit. Kelse und Tortilla kletterten den Felsen hoch. Der Erjin kam aus der Kluft und stieg den Jungen nach. Er erwischte Kelse und zog ihn hinunter. Ich hörte den Lärm und rannte herbei, um zu helfen, aber da hatte Tortilla den Erjin bereits erschossen. Er lag da, wo Sie jetzt stehen, in seinen letzten Zuckungen. Kurgech kam sofort herbeigelaufen, als er den Schuß hörte. Er verband Kelses Arm und Bein und trug ihn nach Hause. Tortilla wurde der große Held. Für etwa eine Woche.“
„Was geschah dann?“
„Oh – es gab einen großen Streit. Ich wurde nach Tanquil verbannt. Tortilla zog sich aufs Retentum zurück, und jetzt ist er der Graue Prinz.“ Schaine blickte sich um. „Ich glaube, es gefällt mir hier doch nicht mehr… Armer Kelse.“
Elvo Glissam blickte unruhig über die Schulter. „Kommen oft Erjinen hierher?“
„Hin und wieder, wenn sie sich für unsere Rinderherden interessieren. Aber unsere Aos sind besser als Spürhunde. Sie können Fährten verfolgen, die ein anderer überhaupt nicht sieht. Das haben die Erjinen zu fühlen bekommen und daraus gelernt. Jetzt bleiben sie hauptsächlich in der Wildnis.“
Als sie nach Morgenwacht zurückkehrten, sahen sie Gerd Jemaszes alten, klapprigen Dacy-Flugwagen auf dem Landeplatz. Kelse und Gerd beschäftigten sich so intensiv in der Bibliothek, daß sie sich erst zum Dinner in der Großen Halle sehen ließen. Nach Morgenwacht-Sitte trugen alle Abendkleidung. Für zufällige Besucher wurde immer passende Kleidung bereitgehalten, wie Gerd und Elvo sie jetzt trugen. Es ist wirklich wahr, dachte Schaine, daß diese Tradition feierlich stimmt. Es war eine Sache des Geschmacks, der Ästhetik. Straßenkleidung und Ungezwungenheit hätten ganz einfach nicht zu den hochlehnigen Stühlen, dem riesigen Tisch aus Umbraholz, dem Kronleuchter von den Zitschen Glaswerken in Gilhaux auf Darybant und den alten vererbten Gedecken gepaßt. Heute hatte Schaine sich besondere Mühe mit ihrem Aussehen gegeben. Sie trug ein einfaches dunkelgrünes langes Kleid und eine Hochfrisur nach Art der Pharistaner Nymphen mit einem großen facettierten Smaragd auf der Stirn.
Reyona Werlas-Madduc hatte bereits mit Hermina Lingolet gespeist. So saßen an der großen Tafel nur die vier, die den 150-Kilometer-Marsch durch die Öde verband. Als sie ihren Wein tranken, lehnte Schaine sich zurück und betrachtete die Männer durch halbgeschlossene Lider. Um sie objektiver beurteilen zu können, stellte sie sich vor, sie wären alle Fremde. Kelse, dachte sie, sah viel älter aus, als er den Jahren nach war. Er würde nie ein so stattlicher und beeindruckender Mann werden wie ihr Vater. Sein Gesicht war schmal, die Züge scharf geschnitten, und um seinen Mund hatten sich tiefe Falten eingegraben. Im Gegensatz zu ihm sah Elvo Glissam ausgeglichen und innerlich zufrieden aus, als kenne er keine Sorgen. Gerd Jemasze wirkte, in Schaines objektiver Betrachtung, erstaunlich elegant. Er drehte den Kopf, und ihre Blicke trafen sich. Schaine empfand, wie üblich, eine Spur von Abneigung oder Herausforderung, oder einer ähnlichen, unbestimmbaren Emotion. Gerd Jemasze senkte die Augen und griff nach seinem Weinglas. Schaine war sowohl amüsiert als auch erstaunt, daß er sich ihrer Gegenwart bewußt geworden war, obgleich er sie ihr Leben lang ignoriert hatte.
„Der Satzungsentwurf geht nun von Domäne zu Domäne“, sagte Kelse. „Wenn er allgemeine Anerkennung findet, was wir annehmen, werden wir, ipso facto, eine politische Einheit.“
„Und was, wenn es nichts wird mit der allgemeinen Zustimmung?“ fragte Schaine.
„Das wäre äußerst unwahrscheinlich. Wir haben mit jedem bereits gesprochen.“
„Und wenn ihnen die Gliederung eurer Satzung nicht gefällt und sie auf Änderungen bestehen?“
„Unser Entwurf hat keine Gliederung und ist auch keine normale Satzung. Er ist lediglich eine Erklärung unseres gemeinsamen Zieles, ein Einverständnis, sich dem Willen der Mehrheit zu beugen. Das ist der erste Schritt, den wir unternehmen müssen. Danach erst können wir eine detailliertere Gliederung aufstellen.“
„Ihr müßt also jetzt warten. Wie lange?“
„Zwei Wochen, vielleicht auch drei.“
„Lange genug jedenfalls“, meinte Gerd Jemasze, „um die Tatsachen hinter Uther Madducs ‚großartigem Witz‘ herauszufinden.“
Elvo Glissam war sofort interessiert. „Und wie beabsichtigen Sie das zu tun?“
„Ich folge seiner Route. Irgendwo entlang des Weges werde ich schon entdecken, was er so erheiternd fand.“
„Und was ist diese Route?“ erkundigte sich nun Schaine.
„Von Morgenwacht aus flog er fünfhundert Kilometer nach Norden und siebenundzwanzig nach Nordosten – also genau zu Palga Depot Nr. 2. Dort landete er.“ Gerd Jemasze holte Uther Madducs Notizbuch hervor. „Hört euch das an:
Niemand wagt es, die Palga zu überfliegen. Ein erstaunliches Paradoxon! Die Windläufer, so sanftmütig, so friedfertig, werden beim Anblick eines Flugzeugs zu Besessenen. Sie eilen zu den alten Lichtkanonen und schießen den Luftwagen ab. Ich fragte Filisent: ‚Weshalb schießt ihr auf die Flugwagen?‘
‚Weil sie blaue Räuber sein können.‘
‚Oh‘, sagte ich. ‚Wann haben die Uldras euch denn zum letzten Mal überfallen?‘
‚Nicht, solange ich selbst mich zurückerinnern kann, auch nicht zu meines Vaters Zeit‘, erwiderte er. ‚Trotzdem muß es so sein. Wir dulden keine Flieger in unserer Luft.‘
Er gestattete mir, seine Kanone zu betrachten. Sie ist ein wahres Kunstwerk. Ich frage mich, wer wohl eine so wirkungsvolle Waffe hergestellt haben mochte. Filisent konnte mir wenig darüber sagen. Die Kanone mit ihren schönen und wunderlichen Ziselierungen ist ein Erbstück, das immer vom Vater auf den Sohn weitergegeben worden war, und niemand konnte sich mehr an ihren Ursprung erinnern. Sie mag sehr wohl mit der ersten, lange vergessenen Forschungsexpedition nach Koryphon gelangt sein. Wer kann das schon wissen?“
Gerd Jemasze blickte auf. „Er schrieb dies offenbar ein paar Tage nachdem er am Depot Nr. 2 gelandet war. Bedauerlicherweise kommt nicht mehr viel nach. Die Palga, steht noch hier, ist ein ungemein erstaunliches Land und Filisent ein ungemein erstaunlicher Bursche. Wie alle Windläufer ist er ein sehr geschickter und leidenschaftlicher Dieb, deshalb muß man ständig auf sein Eigentum aufpassen. Aber ansonsten ist er ein guter Kerl. Er besitzt eine Bark und siebenunddreißig Parzellen Land, die er während des Dahinsegelns bestellt. Wie eng verbunden diese Menschen doch mit Wind, Sonne, Wolken und Regen sind! Sie am Steuerruder zu sehen, mit den geblähten Segeln über ihnen und den rollenden großen Rädern, erinnert an Gläubige während eines religiösen Rituals. Fragst du sie jedoch, ob dreimal zwei sechs ist, starren sie dich verständnislos an. Fragst du sie über die Erjinen, wer sie zähmt und wie, wird ihr Blick noch verwirrter. Und fragst du sie, wie sie für ihre schönen Räder, das Segeltuch und die Metallteile für ihre Wagen bezahlen, bedenken sie dich mit einem Blick, der dir sagt, daß sie dich für nicht ganz bei Trost halten.“
Gerd Jemasze drehte die Seite um.
„Hier ist ein Teil, den er Notizen für eine Abhandlung nennt: Srenki: diese erstaunliche und schreckliche Kaste, oder ist es ein Kult? Das Wissen kommt zu dem Kind durch sich wiederholende Träume. Es wird blaß und dünn und unruhig und wandert schließlich von seinem Wagen weg. Es führt seine erste böswillige Tat aus. Danach konzentriert es sich, in diesem seltsamen, ruhigen Land, auf sich selbst und zieht die elementare Schlechtigkeit aller anderen auf sich. Und diese wiederum betrachten die so entstandene Kreatur des Grauens voll Mitleid und Nachsicht. Srenki gibt es nicht viele, in der ganzen Palga vielleicht nicht mehr als hundert, allerhöchstens aber zweihundert. Es ist nicht leicht zu verstehen, wie furchtbar und tief die Saat des Bösen in ihnen verwurzelt sein muß.“
Niemand sprach, als Gerd Jemasze wieder von dem Notizbuch aufblickte. Nach einer Weile des Schweigens blätterte er weiter. „Das hier ist das letzte. Er schreibt: Der Mann heißt Poliamides. Ich habe ihn mit Kurgechs Trick hereingelegt, daraufhin hat er zugegeben, daß er das Erjinen-Trainingslager gesehen hat. ‚Dann bring mich hin‘, befehle ich ihm. Er weigert sich. Ich drehe den Kristall, und meine Stimme kommt zu ihm aus dem Himmel innerhalb seines Gehirns: ‚Bring mich hin!‘ Jetzt ist meine Stimme die eines sonnenäugigen Gottes! Poliamides findet sich mit dem Unvermeidlichen ab, obgleich er weiß, daß er dadurch eine Million Schicksale in eine chaotische Brühe taucht. ‚Wohin und wie weit?‘ frage ich. ‚Geradeaus und dann noch ein gutes Stück.‘ ‚Nun ja, wir werden sehen.‘“
Wieder blätterte Gerd Jemasze weiter. „Danach kommt noch eine Seite mit Zahlen, die ich nicht deuten kann, und das ist so ziemlich alles, abgesehen von der letzten Seite. Zuerst zwei Worte: Pracht! Wunder! Und dann: Von aller bittersüßen Ironie ist dies das Größte! Wie langsam doch die Glocken der Jahrhunderte schlagen! Wie stark und süß ist die Gerechtigkeit ihrer Töne! Und dann ein letzter Absatz: Die Lage ist so klar, daß eine Demonstration wohl kaum nötig ist; doch dieser wundervolle Beweis existiert, und wenn irgend jemand es wagt, unser Recht und unsere Gerechtigkeit in Zweifel zu ziehen, kann und werde ich ihn an die Wand seiner eigenen doktrinären Absurdität nageln.“
Gerd Jemasze klappte das Notizbuch zu und warf es auf den Tisch. „Das ist alles. Er kehrte zum Sturdevant zurück. Der Autopilot zeigte an, daß er direkt nach Morgenwacht zurückflog. Zwei Tage später wurde er über dem Dramalfo ermordet.“
„Weshalb er wohl ursprünglich zur Palga ist?“ fragte Elvo Glissam. „Um zu handeln?“
„Seltsamerweise auf eine Mission, die auch Ihrem Herzen nahe ist“, erwiderte Kelse. „Im vorigen Frühjahr besuchte er Tante Val und interessierte sich für ihre Erjinen. Niemand schien auch nur eine Ahnung zu haben, wie sie gezähmt werden, also flog Vater zur Palga hoch, um es herauszufinden.“
„Und hat er es herausgefunden? Ist das sein ‚großartiger Witz‘?“
Kelse zuckte die Achseln. „Das wissen wir nicht.“
„Die Palga muß eine bemerkenswerte Landschaft sein.“
„Ich erinnere mich an seltsame Geschichten“, erzählte Schaine. „Die Hälfte davon sind sicher reine Fabelmärchen. Babys werden untereinander ausgetauscht, nach der Theorie, daß ein von seinen eigenen Eltern aufgezogenes Kind zu sehr verwöhnt wird.“
„Erinnerst du dich an unsere alte Kinderschwester Jamie?“ fragte Kelse. „Sie erschreckte uns zu Tode mit ihren Gutenachtgeschichten über die Srenki.“
„Und wie ich mich an sie erinnere!“ versicherte ihm Schaine. „Eines Abends erzählte sie uns, wie die Windläufer ihre Toten an die Bäume hängen, damit die wilden Hunde nicht an sie herankönnen. Wenn man dort durch einen Wald geht, grinst von jedem Baum ein Gerippe auf einen herab.“
„Und nicht nur Leichen hängen sie an die Bäume“, warf Jemasze ein. „Auch die kranken alten Großeltern wandern die Äste hoch, damit man sich die Mühe erspart, extra zum Wald mit ihnen zurückzukehren, wenn sie auf normale Weise das Zeitliche gesegnet haben.“
„Welch reizende Leute“, murmelte Elvo Glissam. „Also was beabsichtigen Sie zu tun?“
„Ich fliege zum Depot Nr. 2 und werde dort auf die eine oder andere Weise Uther Madducs Spur schon entdecken.“
Kelse schüttelte den Kopf. „Es ist zuviel Zeit vergangen. Du wirst sie nie finden.“
„Ich nicht, aber Kurgech.“
„Kurgech?“
„Er möchte mitkommen. Er war nie oben auf der Palga und sagte, ihn interessierten die Windwagen.“
„Ich würde auch gern mitkommen, wenn ich Ihnen behilflich sein kann, oder zumindest nicht zur Last falle“, sagte Elvo Glissam.
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