Im freien Fall durch den Mars

Von Larry Niven (hier wiedergegeben auch als Heranführung an das Thema der Mikro-Black-Holes, das in meinem kommenden SF-Roman Feuerfall eine bedeutende Rolle spielen wird). Das Original „The Hole Man“ wurde erstmals 1973 veröffentlicht, und die deutsche Fassung „Im freien Fall durch den Mars“ (übersetzt von Tony Westermeyer) ist in  Jerry Pournelles Sammelband „Black Holes“ (1980) enthalten:

Von dieser Kurzgeschichte gibt es eine 10:30 min. lange englischsprachige Bild/Text-Videoadaptation von Leonardo Amézquita, der auch den Erzähltext spricht und das Video für den Unterricht über Schwarze Löcher und Zeitmaschinen an der Universidad nacional de Colombia produziert hat:

Naturgemäß kann das Video bei dieser Länge nur eine sehr vereinfachte, geraffte Wiedergabe der Geschichte im Stil eines „Graphic Novel“ sein, ist aber wegen der Bilder interessant.

Und hier ist die textliche Vollversion aus der deutschen Taschenbuchausgabe (Bild von mir eingefügt):

Eines Tages wird es den Mars nicht mehr geben. Andrew Lear sagt, es wird mit einem heftigen Beben beginnen und Stunden oder Tage später ganz plötzlich enden. Er muß es wissen. Das Ganze ist seine Schuld.

Lear meint auch, daß es Jahre bis Jahrhunderte dauern kann, bis es passiert. Deshalb bleiben wir, Lear und wir anderen. Wir studieren den Stützpunkt der fremden Wesen, so gut wir können, während der Kern der Welt, auf der wir stehen, langsam zerfressen wird. Das reicht durchaus, um einem Alpträume zu bescheren.

*     *     *

Es war Lear, der den Stützpunkt fand. Wir hatten den Mars erreicht, vierzehn Mann im engen, bauchigen Lebenssystem der „Percival Lowell“. Wir kreisten in einer Umlaufbahn, ließen uns Zeit, korrigierten unsere Karten und hielten Ausschau nach Dingen, die den Mariner-Sonden im Lauf von dreißig Jahren entgangen sein mochten.

Unter anderem registrierten wir Maskons. Diese Massekonzentrationen unter den Mondmaria waren fast mit Gewißheit durch ziemlich große Asteroiden entstanden, Felsberge, lautlos vom Himmel herabfallend, bis sie mit der Energie von Tausenden von Kernverschmelzungsbomben aufprallten. Der Mars fliegt seit vier Milliarden Jahren durch den Asteroidengürtel. Er würde größere und stärkere Maskons besitzen. Sie mußten unsere Umlaufbahn beeinflussen.

Andrew Lear arbeitete also angestrengt und beobachtete die Schreiber, während wir den Mars umkreisten. Neben dem Schiff rotierte eine Apparatur. In der dünnen Hülle befand sich ein belastetes Doppelhebelsystem, täuschend einfach: ein Masse-Detektor. Die Schreiber registrierten seine Zuckungen.

Über Sirbonis Palus begannen sie seltsame Kurven zu zeichnen.

Ein anderer hätte vielleicht geflucht und sich bemüht, das Ding zu reparieren. Andrew Lear dachte gründlich nach, dann übermittelte er das Signal, mit dem die Rotation des Apparats gestoppt wurde.

Er mußte rotieren, um eine stationäre Masse zu registrieren.

Aber jetzt zeigte er schlichte Sinuswellen an.

Lear hastete zu Kapitän Childrey.

Hastete? Es war eher Trapezartistik. Lear zog sich an Handgriffen entlang, stieß sich von Wänden ab, bremste mit ausgestreckten Händen oder Füßen. Im freien Fall voranzukommen ist mühsam, wenn man es eilig hat, und Lear war ein vierzigjähriger Astrophysiker, kein Athlet. Er keuchte nicht schlecht, als er die Steuerkugel erreichte.

Childrey – der ein Athlet war – wartete mit geduldigem, ein wenig verächtlichem Lächeln, während Lear nach Atem rang. Er hielt Lear ohnehin für einen Verrückten. Lears Worte bestätigten ihn in seiner Meinung nur.

„Schwerkraft für die Übertragung von Signalen? Doktor Lear, würden Sie vielleicht so freundlich sein und mich mit Ihren seltsamen Ideen verschonen? Ich habe zu tun, wie alle hier.“

Ganz ungerecht war das nicht. Lear konnte sich für die ausgefallensten Dinge begeistern. Schwerkraft-Generatoren. Schwarze Löcher. Er fand, wir sollten nach Dyson-Sphären suchen: Sterne, die völlig von einer künstlichen Hülle umgeben waren. Er glaubte, daß Masse und Trägheit zwei verschiedene Dinge seien, daß es möglich sei, die Trägheit aus einem Raumfahrzeug sozusagen abzusaugen, damit es in wenigen Minuten auf Beinahe-Lichtgeschwindigkeit beschleunigen kann. Er war ein großäugiger Träumer, und in der Aufregung neigte er dazu, vom Thema abzuschweifen.

„Sie verstehen mich nicht“, sagte er zu Childrey. „Schwerkraftstrahlung ist schwerer zu blockieren als elektromagnetische Wellen. Strukturierte Schwerkraftwellen wären leicht wahrzunehmen. Die fortgeschrittenen Zivilisationen in der Galaxis verständigen sich vielleicht alle mit Hilfe von Schwerkraft. Manche modulieren unter Umständen sogar Pulsare – rotierende Neutronensterne. Das war der Fehler vom Projekt Ozma: man suchte nur nach Signalen im elektromagnetischen Spektrum.“

Childrey lachte.

„Sicher, Ihre kleinen Freunde gebrauchen Neutronensterne, um Ihnen Botschaften zu senden. Was hat das mit uns zu tun?“

„Da, sehen Sie!“ Lear zeigte ihm den dünnen, fast gewichtslosen Papierstreifen, den er aus dem Schreiber gerissen hatte. „Das habe ich über Sirbonis Palus erhalten. Wir sollten dort landen.“

„Wir landen im Mare Cimmerium, wie Sie ganz genau wissen. Die Landefähre ist schon bereit. Doktor Lear, wir haben dieses Gebiet vier Tage lang vermessen. Es ist flach. Es liegt in einem grün-braunen Bereich. Wenn nächsten Monat der Frühling kommt, werden wir feststellen, ob es da Leben gibt. Und alle wollen es so, außer Ihnen!“

Lear hielt ihm den Streifen immer noch vor die Nase. „Bitte. Noch einen Umlauf über Sirbonis Palus.“

Childrey entschied sich für den zusätzlichen Umlauf. Vielleicht überzeugten ihn die Sinuswellen, vielleicht auch nicht. Er machte uns in Lears Namen gern Schwierigkeiten, um ihn als Narren zu entlarven.

Aber beim nächsten Überflug zeigte sich auf Sirbonis Palus eine winzige, kreisrunde Erscheinung. Und Lears Massedetektor erzeugte wieder Sinuswellen.

*     *     *

Die fremden Wesen waren fort. In den ersten Monaten unseres Aufenthalts rechneten wir jeden Moment mit ihrer Rückkehr. Die Maschinen im Stützpunkt liefen glatt und fehlerlos, so als seien die Eigentümer nur einmal kurz vor die Tür gegangen.

Der Stützpunkt war ein umgestülpter Kuchenteller, zwei Stockwerke hoch, ohne Fenster. Die Luft im Inneren konnte man atmen, wie die Luft auf der Erde in drei Meilen Höhe, aber mit mehr Sauerstoff. Die Luft auf dem Mars ist viel dünner und giftig. Sie stammten also eindeutig nicht vom Mars.

Die Wände waren dick und tief zerfressen. Gegen den Innendruck neigten sie sich nach innen. Das Dach war dünner, gerade schwer genug, damit der Druck es trug. Wände wie Decke bestanden aus geschmolzenem Marsstaub.

Die Heizung funktionierte noch – das System dafür lieferte auch die Beleuchtung: Gitter in der Decke, die ziegelrot glühten. Der Stützpunkt war fast um fünf Grad zu warm. Wir fanden die Schalter beinahe eine ganze Woche lang nicht: sie befanden sich hinter abgesperrten Tafeln. Das Luftsystem blies böige Winde durch den Stützpunkt, bis wir die Ventilatoren verstellten.

Wir errieten aus dem, was sie hinterlassen hatten, eine ganze Menge über sie. Sie mußten von einer Welt gekommen sein, die kleiner war als die Erde, in naher Umlaufbahn um einen roten Zwergstern. Um nah und warm genug zu sein, mußte der Planet durch Gezeiten festgehalten werden, so daß er dem Stern immer nur eine Seite zuwandte. Die fremden Wesen mußten sich auf der hellen Seite entwickelt haben, bei ständigem, rotem Tag, während von der Nachtseite über die Grenze unaufhörlich Winde pfiffen.

Und sie kannten keine Privatsphäre. Die einzigen Eingänge mit Türen waren die Luftschleusen. Das zweite Stockwerk war ein sechseckiges Metall-Flechtwerk. Es sonderte einen von den Freunden darunter nicht ab. Der Schlafraum war ein riesengroßes, mit Quecksilber gefülltes Wasserbett, von Wand zu Wand. Die Zimmer waren zu klein und überfüllt, Möbel und Maschinen zu nah an den Eingängen, so daß wir uns zu Anfang ständig Ellbogen und Knie anschlugen. Die Decken waren in beiden Stockwerken nur 1,80 m hoch, so daß wir dazu neigten, gebückt zu gehen, selbst wenn wir klein genug waren, um aufrecht stehen zu können. Gewohnheit. Aber Lear war gerade groß genug, um sich den Kopf anzuschlagen, wenn er irgendwo schnell aufstand.

Wir vermuteten, daß sie kleiner sein mußten als die Menschen. Aber ihre gepolsterten Bänke schienen in Größe und Form für Menschen geschaffen zu sein. Vielleicht waren es ihre Gehirne, die sich unterschieden: sie brauchten psychisch keinen Ellbogenraum.

Im Schiff war es schon schlimm genug gewesen. Und jetzt das. Im Stützpunkt griff sofort Platzangst um sich. Wir waren alle äußerst reizbar.

Zwei von uns hielten es nicht aus.

*     *     *

Lear und Childrey gehörten nicht auf denselben Planeten.

Für Childrey war Ordentlichkeit ein innerer Zwang. Davon hatte er genug für uns alle. In den langen Monaten an Bord der „Percival Lowell“ war es Childrey gewesen, der uns Gymnastik hatte treiben lassen. Er gestattete nicht, daß jemand auch nur ein einziges Mal nicht an den Übungen teilnahm. Wir gaben es schließlich auf, uns drücken zu wollen.

Schön und gut. Die Übungen erhielten uns am Leben.

Nach einem Monat auf dem Mars war Childrey jedoch der einzige, der in der Hitze des fremden Stützpunkts noch immer voll angekleidet erschien. Manche von uns faßten das als Rüge auf, und vielleicht war es auch eine, weil Lear als erster sein Hemd endgültig ausgezogen hatte. In der Messe untersuchte Childrey jedesmal sein Besteck nach Wasserflecken und legte es dann genau parallel nebeneinander.

Auf der Erde wären Andrew Lears Gewohnheiten nicht mehr gewesen als eine Charaktereigenschaft. In der Eile zog er zwei verschiedenfarbige Socken an. Er ignorierte ein, zwei Tage den Geschirrspüler, wenn er mit interessanten Dingen beschäftigt war. Er zog ein Haus vor, das „bewohnt“ aussah. Ein armes Dienstmädchen, das versucht hätte, sein Arbeitszimmer aufzuräumen. Er hätte hinterher nie wieder etwas finden können.

Er war ein begabter, aber einseitiger Mensch. Große Märsche mit Rucksack oder Tiefseetauchen hätten seine Gewohnheiten vielleicht verändert – man lernt dabei, auch das Banalste nicht zu vergessen -, aber dergleichen hätte ihn nie verlockt. Eine Expedition zum Mars hatte er einfach nicht ausschlagen können. Schade, weil Ordnung im Weltraum über Leben und Tod entscheiden kann.

In einem Druckanzug läßt man seine Hosentür nicht offen.

Einen Monat nach der Landung ertappte Childrey Lear eben dabei.

Die „Hosentür“ an einem Druckanzug ist ein weicher Gummischlauch über die Genitalien. Sie führt zu einer Blase mit einer Federklammer. Man öffnet die Klammer, wenn man sie gebrauchen will, dann schließt man sie wieder und öffnet einen Außenhahn, um die Blase in das Vakuum zu entleeren.

Lear machte gern lange Spaziergänge. Er liebte die Marswüste: den harten violetten Himmel und den weichen Schleier aus wirbelndem orangerotem Staub, den scharfrandigen, nahen Horizont, die endlose Leere. Mehr noch, er brauchte viel Platz um sich. Er verbrachte seine ganze Arbeitszeit mit dem Kommunikator der fremden Wesen, die Decke zu nah über dem Kopf, alles andere zu nah an seinen knochigen Ellenbogen.

Er kam von einem Spaziergang zurück und begegnete Childrey, der hinauswollte. Childrey bemerkte, daß der Ablaufhahn an Lears Anzug offen war, die Feder gebrochen. Lear war stundenlang unterwegs gewesen. Hätte er seine Notdurft verrichten müssen, wäre er durch das vom Vakuum zerrissene Fleisch verblutet.

Wir erfuhren nie alles, was Childrey draußen zu ihm gesagt hatte, aber Lear kam mit dunkelroten Ohren herein und murmelte vor sich hin. Er wollte mit keinem sprechen.

Die Psychologen von der NASA hätten sie nicht beide auf diesen kleinen Planeten schicken sollen. Hinterher ist man immer klüger, nicht? Aber Lear und Childrey waren beide jeweils die Besten, was ihre Fähigkeiten anging, verbunden mit der Gesundheit, die sie brauchten, um die Expedition zu überstehen. Es gab Astrophysiker, die so tüchtig und berühmt waren wie Lear, aber sie waren um Jahrzehnte älter. Und Childrey hatte tausend Stunden im Weltraum verbracht. Er war als einer der letzten auf dem Mond gewesen. Einzeln war jeder von uns der bestmögliche Kandidat. Es war wirklich schade.

*     *     *

Die fremden Wesen hatten den Kommunikator in Betrieb gelassen, wie alles andere im Stützpunkt. Er mußte ungeheuer schwer sein, nach den dicken Stützsäulen zu schließen, die schräg geneigt darunterstanden. Es war ein riesenhafter Tank, so groß, daß das Dach sich ein wenig hochwölben mußte, damit er Platz hatte. Damit blieb Lear ungefähr ein Quadratmeter Raum über dem Kopf.

Selbst Lear hatte keine Ahnung, warum man den Kommunikator ins Obergeschoß verlegt hatte. Er sendete durch das Untergeschoß oder durch einen ganzen Planeten. Lear erfuhr das, als er es ausprobierte, nachdem er genug davon verstand. Er strahlte eine Punkt-Strich-Punkt-Botschaft durch den ganzen Mars zum Masse-Detektor an Bord der „Lowell“ hinauf.

Lear hatte neben dem Kommunikator einen Masse-Detektor auf einer vibrationsfreien Plattform aufgebaut. Der Detektor erzeugte so spitze Wellen, daß manche von uns glaubten, sie könnten die Schwerkraftstrahlung aus dem Kommunikator spüren.

Lear war in das Ding verliebt.

Er versäumte Mahlzeiten. Wenn er aß, dann wie ein halbverhungerter Wolf.

„Im Innern ist eine schwere Punkt-Masse“, berichtete er uns mit vollem Mund zwei Monate nach der Landung. „Die Maschine benützt elektromagnetische Felder, um sie mit hoher Geschwindigkeit vibrieren zu lassen. Schaut her!“ Er griff nach einer Tube Thunfischpastete und hielt sie vor sich hin. Er ließ sie schnell vibrieren. „Jetzt erzeuge ich Schwerkraftwellen. Aber sie sind zu verschwommen, weil die Tube zu groß ist, und ihre Amplitude ist fast Null. In der Maschine befindet sich etwas sehr Dichtes und Massives, und es braucht eine ungeheure Feldstärke, um es da festzuhalten.“

„Was ist es denn?“ fragte jemand. „Neutronium? Wie im Kern eines Neutronensterns?“

Lear schüttelte den Kopf und schob den nächsten Bissen in seinen Mund. „Bei der Größe wäre Neutronium nicht stabil. Ich glaube, es ist ein Quanten-Schwarzes-Loch. Ich weiß noch nicht, wie man die Masse mißt.“

„Ein Quanten-Schwarzes Loch?“ sagte ich.

Lear nickte zufrieden. „Glück für mich. Ich war nämlich gegen die Mars-Expedition. Wir könnten für unser Geld viel mehr herausholen, wenn wir die Asteroiden erforschen würden. Unter anderem hätten wir herausfinden können, ob es da draußen wirklich Quanten-Schwarze-Löcher gibt. Aber das hier ist schon eingefangen!“ Er stand auf und duckte sich rechtzeitig. Er stellte sein Tablett ab und machte sich wieder an die Arbeit.

Ich erinnere mich, daß wir einander am Eßtisch anstarrten. Dann wurde gelost… und ich verlor.

*     *     *

An dem Tag, als Lear seinen Abflußhahn offengelassen hatte, war von Childrey die Anweisung gekommen, daß er ohne Begleitung den Stützpunkt nicht verlassen durfte.

Lear war die Einsamkeit auf diesen Wanderungen kostbar gewesen. Aber es war noch schlimmer. Childrey hatte ihm eine Liste von Begleitern gegeben, die in Frage kamen: ein halbes Dutzend Männer, bei denen Childrey sich darauf verlassen konnte, daß sie dafür sorgen würden, daß Lear sich und andere nicht in Gefahr brachte. Naturgemäß waren es jene Männer, die sich die Methode zum Überleben im Weltraum am strengsten antrainiert hatten, die am stärksten zu Childreys Pedanterie neigten und Lears Lebensweise am wenigsten verstehen konnten. Lear hätte sich ebensogut Childrey selbst als Begleiter aussuchen können.

Er ging fast nie mehr hinaus. Ich wußte genau, wo ich ihn finden konnte.

Ich stand unter ihm und schaute durch das Gitterwerk hinauf. Er hatte die Schutzwände um den Schwerkraftwellen-Generator fast schon ganz demontiert. Was sich im Innern zeigte, glich an einer Stelle Computerbauteilen, an den meisten Stellen elektromagnetischen Spulen, und dazu gab es eine quadratische Anordnung von Druckknöpfen, die einer Schreibmaschinentastatur ähnlich sah. Lear benützte einen magnetischen Induktionssensor, um die Schaltungen zu verfolgen, ohne die Isolierung zu entfernen.

„Wie kommen Sie voran?“ rief ich hinauf.

„Schlecht“, antwortete er. „Die Isolierung scheint hundertprozentig perfekt zu sein. Ich habe Angst davor, sie zu öffnen. Niemand kann sagen, wieviel Energie da durchfließt, wenn eine so starke Abschirmung nötig ist.“ Er lächelte hinunter. „Ich will Ihnen etwas zeigen.“

„Was denn?“

Er legte einen Hebel über einer stumpfgrauen runden Platte um.

„Das ist ein Mikrofon. Ich habe eine Weile gebraucht, um es zu finden. Ich bin Andrew Lear und spreche zu jedem, der mich hört.“ Er schaltete ab, riß Papier aus dem Masse-Indikator und zeigte mir Ausschläge zwischen glatten Sinuswellen. „Da. Der Klang meiner Stimme in Schwerkraft-Strahlung. Er wird nicht verschwinden, bis er den Rand des Universums erreicht hat.“

„Lear, Sie haben vorhin von Quanten-Schwarzen Löchern gesprochen. Was ist ein Quanten-Schwarzes-Loch?“

„Hm. Sie wissen, was ein Schwarzes Loch ist.“

„Denke doch.“ Lear hatte uns während der Monate an Bord der „Lowell“ mit dem Thema ausführlich vertraut gemacht.

Wenn ein nicht allzu massiver Stern seinen Nuklearbrennstoff verbraucht hat, schrumpft er zu einem weißen Zwergstern zusammen. Ein schwererer Stern – etwa vom 1,44fachen der Sonne und größer – kann seinen Brennstoff verbrauchen und in sich zusammenfallen, bis er einen Durchmesser von zehn Kilometern hat und nur noch aus dichtgepackten Neutronen besteht: die dichteste Masse in diesem Universum.

Aber ein großer Stern geht noch weiter. Wenn ein wirklich großer Stern seine Lebensspanne beendet…, wenn der Strahlungsdruck in ihm nicht mehr groß genug ist, um die Außenschichten gegen die eigene, ungeheure Schwerkraft des Sterns stabil zu erhalten…, dann kann er ganz in sich zusammenstürzen, bis die Schwerkraft größer ist als alle anderen Kräfte, bis er über den Schwarzschild-Radius hinauskomprimiert wird und praktisch das Universum verläßt. Was dann damit geschieht, ist problematisch. Der Schwarzschild-Radius ist die Grenze, jenseits derer nichts aus dem Schwerkraft-Schacht dringen kann, nicht einmal Licht.

Der Stern ist dann verschwunden, aber die Masse bleibt: ein lichtloses Loch im Weltraum, vielleicht ein Loch in ein anderes Universum.

„Ein kollabierender Stern kann ein Schwarzes Loch hinterlassen“, sagte Lear. „Es könnte größere Schwarze Löcher geben, ganze Galaxien, die in sich zusammengestürzt sind. Aber es gibt jetzt keinen anderen Weg mehr, auf dem sich noch ein Schwarzes Loch bilden kann.“

„Und?“

„Es gab eine Zeit, als sich Schwarze Löcher aller Größen bilden konnten. Das war beim Urknall, bei der Explosion, mit der das sich ausdehnende Universum begann. Die Kräfte bei diesem Knall könnten kleine örtliche Materiewirbel über den Schwarzschild-Radius hinauskomprimiert haben. Was zurückblieb – jedenfalls die kleinsten davon -, nennen wir Quanten-Schwarze-Löcher.“

Ich hörte hinter mir ein deutliches Lachen, als Kapitän Childrey auftauchte. Der Umfang des Kommunikators mußte ihn vor Lears Blicken verborgen haben, und ich hatte ihn nicht hereinkommen hören.

„Wie groß ist das Ding, von dem Sie sprechen? Könnte ich es aufheben und Ihnen nachwerfen?“

„Sie würden in einem dieser Größe verschwinden“, sagte Lear ernsthaft. „Ein Schwarzes Loch von der Masse der Erde hätte einen Durchmesser von nur einem Zentimeter. Nein, ich spreche von Objekten ab 10-5 Gramm aufwärts. Es könnte eines im Kern der Sonne geben –“

„Hu!“

Lear gab sich Mühe. Er ließ sich nicht gern auf den Arm nehmen, aber er wußte nicht, wie man dergleichen unterbindet. Ernst zu bleiben, war nicht die Lösung, aber auch das wußte er nicht.

„Sagen wir 107 Gramm Masse und 10-11 Zentimeter Durchmesser. Es würde täglich ein paar Atome schlucken.“

„Na, wenigstens wissen Sie, wo Sie es finden können“, meinte Childrey. „Jetzt brauchen Sie sich nur noch auf den Weg zu machen.“

Lear nickte, immer noch ernsthaft. „Es könnte Quanten-Schwarze Löcher in Asteroiden geben. Ein kleiner Asteroid könnte ein Quanten-Schwarzes-Loch ganz leicht einfangen, vor allem, wenn es geladen ist. Ein Schwarzes Loch kann nämlich eine Ladung besitzen –“

„Ge-nau.“

„Wir brauchten nur einen kleinen Asteroiden mit dem Massedetektor zu prüfen. Wenn er mehr Masse hat, als ihm zusteht, schieben wir ihn weg und stellen fest, ob er ein Schwarzes Loch zurückläßt.“

„Man müßte aber winzig kleine Augen haben, um etwas so Kleines zu sehen. Und außerdem – was würden Sie damit anfangen?“

„Man verleiht ihm eine Ladung, wenn es nicht schon eine hat, und elektromagnetische Felder. Man kann es vibrieren lassen, um Schwerkraft zu erzeugen; dann manipuliert man es mit Strahlung. Ich glaube, ich habe hier eins“, sagte er und tätschelte den Kommunikator.

„Ge-nau“, sagte Childrey und ging lachend hinaus.

*     *     *

Binnen einer Woche war Lear im ganzen Stützpunkt als der Mann mit dem Loch bekannt, mit dem Schwarzen Loch zwischen den Ohren.

Es hatte nicht komisch geklungen, als Lear mir davon erzählt hatte. Die unausschöpfbare Vielfalt des Universums… Aber wenn Childrey über Lears Schwarzes Loch seine Witze machte, mußte man lachen.

Wohlgemerkt: Childrey verstand nichts von dem falsch, was Lear gesagt hatte. Childrey war nicht dumm. Er hielt Lear nur für verrückt. Er wäre nicht damit durchgekommen, unter gebildeten Leuten Witze über Lear zu reißen, wenn er nicht genau gewußt hätte, was er tat.

Inzwischen ging die Arbeit weiter.

Es gab Tümpel von Marsstaub, faszinierendes Zeug, so dünn, daß es sich wie zähflüssiges Öl verhielt, und knietief. Hindurchzuwaten war nicht gefährlich, aber sehr mühsam, und wir ersparten es uns möglichst. Eines Tages watete Brace in einen der nächstgelegenen Tümpel hinaus und begann unter dem Staub herumzutasten. Verdacht, sagte er. Er zog ein paar verwitterte Behälter aus einer Art Kunststoff herauf. Die fremden Wesen hatten die Tümpel als Abfallhalden gebraucht.

Mit der chemischen Analyse der Werkstoffe im Stützpunkt hatten wir wenig Glück gehabt. Sie waren praktisch unzerstörbar. Wir erfuhren mehr über die chemische Zusammensetzung der fremden Besucher selbst. Sie hatten Spuren auf den Bänken und auf dem gemeinsamen Wasserbett hinterlassen. Die Spuren enthielten die meisten chemischen Bestandteile des Protoplasmas, aber Arsvey fand keine DNS. Nicht verwunderlich, sagte er. Es mußte noch andere organische Riesenmoleküle geben, die sich als Erbfaktoren-Träger eignen.

Die fremden Wesen hatten bändeweise Aufzeichnungen hinterlassen. Die Schrift war natürlich ein Rätsel, aber wir studierten die Fotografien und Zeichnungen. Vieles befaßte sich mit Anthropologie!

Die fremden Wesen hatten die Erde während der Ersten Eiszeit studiert.

Keiner von uns war Anthropologe, und das war wirklich schade. Wir erfuhren nie, ob wir etwas Neues gefunden hatten. Alles, was wir tun konnten, war, das Zeug zu fotografieren und zur „Lowell“ hinaufzufunken. Eines stand fest: die fremden Wesen waren vor sehr langer Zeit wieder abgezogen, und sie hatten die Beleuchtungs- und Luftsysteme laufen und den Kommunikator eine Trägerwelle senden lassen.

Für uns? Für wen sonst?

Die Alternative war, daß der Stützpunkt einige sechshunderttausend Jahre abgeschaltet gewesen war und sich wieder eingeschaltet hatte, als die Annäherung der „Lowell“ an den Mars registriert worden war. Lear glaubte nicht daran.

„Wenn die Energie im Kommunikator abgeschaltet worden wäre, gäbe es jetzt die Masse dort nicht mehr“, sagte er. „Die Felder müssen erhalten bleiben, um sie an ihren Platz zu bannen. Sie ist kleiner als ein Atom; sie würde durch alles Feste hindurchstürzen.“

Das Energiesystem im Stützpunkt war also die ganze Zeit über in Betrieb gewesen. Was, zum Teufel, konnte es sein? Und wo? Wir spürten ein paar Kabeln nach und stellten fest, daß es sich unter dem Stützpunkt befand, unter einigen Metern zu Lava geschmolzenem Marsstaub. Wir versuchten nicht, uns dort hindurchzugraben.

Die Quelle war vermutlich geophysikalischer Natur: ein Loch bis tief in den Kern des Planeten. Die fremden Wesen hatten so ein Loch vielleicht graben wollen, um Kernproben zu entnehmen. Danach mußten sie einen Generator aufgestellt haben, um die Temperaturunterschiede zwischen Kern und Oberfläche zu nutzen.

Inzwischen verbrachte Lear einige Zeit damit, die Energiequellen im Kommunikator aufzuspüren. Er fand einen Weg, die Trägerwelle abzuschalten. Nun war die Masse, so es eine Masse war, im Innern zum Stillstand gekommen. Es war seltsam, aus dem Masse-Detektor gerade Linien kommen zu sehen, statt die spitzen Ausschläge der Sinuswellen.

Wir waren schlecht ausgerüstet dafür, uns diese Reichtümer zunutze zu machen. Wir waren ausgestattet, den Mars zu erforschen, nicht für Proben einer Zivilisation von einem anderen Stern. Lear war die Ausnahme. Er war in seinem Element, und es gab nur eine Kleinigkeit, die sein Glück störte.

*     *     *

Ich weiß nicht mehr, worüber der letzte Streit ging. Ich beschäftigte mich mit einem anderen Projekt.

Die Landefähre enthielt noch Treibstoff. Die NASA hatte uns Treibstoff genug für längere Schwebezeiten gegeben, während wir nach einer passenden Stelle für die Landung suchten. Nach einer hitzigen Diskussion hatten wir uns darauf geeinigt, mit der Fähre aufzusteigen und bei geringem Schub neben dem nächsten Staubtümpel zu schweben.

Es klappte sehr gut. Der Staub erhob sich in einer großen, weißen Wolke und entfernte sich in Richtung Horizont. Der Boden des Tümpels war mit Abfall von einer anderen Welt bedeckt. Und nicht nur das! Arsvey brüllte Brace an, er solle wegfliegen. Zum Glück behielt Brace die Nerven, kippte uns auf die Seite und steuerte uns in weitem Bogen davon. Die Schubflamme berührte die Skelette nicht.

Wir arbeiteten dort stundenlang sehr vorsichtig. Hier ging es wieder um eine Fähigkeit, auf die keiner von uns Anspruch erheben konnte, aber wir hatten davon gelesen, wie vorsichtig ein Archäologe sein mußte, und wir taten, was wir konnten. Spuren von Wasser hatten Gelegenheit gehabt, den Staub hier und dort in Zement zu verwandeln, so daß einige Skelette mit dem Gestein verbacken waren. Aber ein paar konnten wir herauslösen. Wir legten sie auf Tragbahren und trugen sie zurück. Das eine zerfiel sofort, als die Luft in die Schleuse zischte. Das andere ließen wir draußen.

Die fremden Wesen hatten nicht die Gewohnheit gehabt zu baden. Wir hatten eine Badewanne mit sehr hohen Seitenwänden aufgestellt, in einem Zimmer, das die Wesen für irgendein unvorstellbares Ritual reserviert gehabt hatten. Ich hatte meinen Druckanzug ausgezogen und war auf dem Weg zur Wanne, todmüde und voller Hoffnung, daß niemand darin Platz genommen hatte.

Ich hörte die Stimmen, bevor ich sie sah.

Lear brüllte.

Childrey brüllte nicht, aber seine Stimme trug weit. Sie klang höhnisch. Er stand zwischen den Stützsäulen, die Hände in die Hüften gestemmt, mit weiß schimmerndem Gebiß, den Kopf zurückgelegt, um Lear zu beobachten.

Er verstummte. Eine Zeitlang rührte sich keiner von beiden, dann gab Lear einen angewiderten Laut von sich. Er wandte sich ab und drückte einen der Knöpfe der Tastatur.

Childrey machte ein entgeistertes Gesicht. Er schlug sich auf den rechten Schenkel und starrte die blutige Hand an, bevor er wieder zu Lear hinaufschaute. Er begann mit einer Frage.

In der geringen Schwerkraft brach er langsam zusammen. Ich erreichte ihn, bevor er am Boden lag. Ich schnitt seine Hose auf und knotete ein Taschentuch über den blutigen Punkt. Es war ein kleines Loch, aber das Fleisch darüber war in einer Linie mit seiner Leistengegend aufgeworfen.

Childrey versuchte zu sprechen. Seine Augen waren weit geöffnet. Er hustete, und aus seinem Mund kam Blut.

Ich bin wohl erstarrt. Wie anders, wenn ich nicht sagen konnte, was geschehen war? Ich sah einen blutigen Punkt an seiner rechten Schulter, riß das Hemd auf und entdeckte eine zweite, winzige Wunde.

Der Arzt kam.

Childrey brauchte zum Sterben eine Stunde, aber der Arzt hatte schon viel früher aufgegeben. Zwischen der Wunde in seiner Schulter und der im Oberschenkel war Childreys Fleisch in einer Linie aufgerissen, die durch einen Lungenflügel und seinen Magen verlief, zum Teil auch durch die Därme. Die Obduktion ergab ein winziges, scharf umrandetes Loch, das sich durchs Hüftgelenk gebohrt hatte.

Wir suchten und fanden ein Loch im Boden unter dem Kommunikator. Es hatte die Größe einer Bleistiftmine und war mit Staub verstopft.

„Ich habe einen Fehler gemacht“, sagte Lear zu uns bei der gerichtlichen Untersuchung. „Ich hätte diesen Knopf nie berühren dürfen. Er muß die Felder abgeschaltet haben, die die Masse an ihrem Platz festhielten. Sie ist einfach hindurchgestürzt. Kapitän Childrey war genau darunter.“

Und sie war durch ihn hindurchgefegt und hatte seine Masse mitgenommen.

„Nein, nicht ganz“, sagte Lear. „Ich vermute, daß es eine Masse von 1014 Gramm war. Das ergibt einen Durchmesser von nur 10-6 Angström, viel kleiner als ein Atom. Viel kann sie nicht mitgenommen haben. Der Schaden bei Childrey wurde angerichtet durch Gezeitenwirkungen, als sie hindurchschoß. Sie haben ja gesehen, wie das Material des Bodens pulverisiert wurde.“

Es war wohl kein Wunder, daß von Mord gesprochen wurde.

Lear tat das mit einem Achselzucken ab. „Mord womit? Childrey glaubte nicht daran, daß sich im Kommunikator ein Schwarzes Loch befand. Wie die meisten von euch.“ Er lächelte plötzlich. „Könnt ihr euch vorstellen, wie sich ein Prozeß abspielen würde? Zuerst müßte der Ankläger den Geschworenen klarmachen, was ein Schwarzes Loch ist. Dann, was ein Quanten-Schwarzes-Loch ist. Danach muß er erklären, warum er die Mordwaffe nicht vorweisen kann, und wo er sie gelassen hat, im freien Fall durch den Mars! Und wenn er so weit gekommen ist, ohne daß ihn das Gelächter aus dem Gerichtssaal gejagt hat, muß er immer noch erklären, wie ein Ding, das kleiner ist als ein Atom, jemanden verletzen kann!“

Aber habe Doktor Lear nicht gewußt, daß das Ding gefährlich sei? Habe er die enorme Masse nicht an ihrem Verhalten erkennen können?

Lear spreizte die Hände. „Meine Herren, wir haben es mit mehr Variablen als nur mit der Masse zu tun. Mit der Feldstärke etwa. Ich hätte die Masse an der Energie erkennen können, die erforderlich war, um sie dort festzuhalten, aber hat irgendjemand von uns damit gerechnet, daß die fremden Wesen ihre Skalen nach dem metrischen System eichen würden?“

Aber sicherlich müsse es doch Sicherheitsvorkehrungen gegeben haben, die das zufällige Abschalten der Felder verhinderten. Lear müsse sie umgangen haben.

„Ja, wahrscheinlich war das der Fall, unabsichtlich. Ich habe ziemlich viel herumgefummelt, um festzustellen, wie das Ganze funktioniert.“

Damit hatte es sein Bewenden. Ganz offenkundig konnte es ein Strafverfahren nicht geben. Kein gewöhnlicher Richter, keine normale Jury würde überhaupt begreifen können, wovon die Anwälte sprachen. Ein paar Dinge wurden gar nicht erwähnt.

Zum Beispiel Childreys letzte Worte. Ich hätte sie wiederholt oder auch nicht, wenn ich danach gefragt worden wäre. Sie lauteten: „Na gut, dann zeigen Sie’s mir doch mal! Zeigen Sie’s mir, oder geben Sie zu, daß es so etwas gar nicht gibt!“

Als die Verhandlung beendet war, sagte ich leise zu Lear: „Das war die ausgefallenste Mordwaffe der Geschichte.“

Er flüsterte: „Wenn Sie das vor einem Dritten gesagt hätten, könnte ich Sie wegen Verleumdung verklagen.“

„So? Wirklich? Werden Sie einer Jury erklären, wovon Sie glauben, daß ich behauptet hätte, es wäre geschehen?“

„Nein, diesmal lasse ich Ihnen das noch durchgehen.“

„Mensch, Sie sind selbst nicht ganz davongekommen. Was wollen Sie jetzt untersuchen? Das einzige bekannte Schwarze Loch im ganzen Universum, und Sie haben es sich durch die Finger schlüpfen lassen.“

Lear runzelte die Stirn. „Sie haben recht. Zum Teil wenigstens. Aber ich wußte schon so viel davon, wie ich überhaupt erfahren konnte, so, wie alles lief. Und jetzt… Ich habe die Vibration gestoppt und dann mit dem Detektor die Masse der ganzen Apparatur gemessen. Das Schwarze Loch ist nicht mehr da. Ich kann die Masse des Schwarzen Lochs bestimmen, indem ich die Masse des Kommunikators allein messe.“

„Oh.“

„Und ich kann die Maschine öffnen, um zu sehen, was sich im Inneren befindet. Wie man sie bedient hat. Verdammt, am liebsten möchte ich wieder ein Sechsjähriger sein.“

„Was? Warum denn?“

„Tja… mit der Zeit bin ich mir noch nicht im klaren. Die mathematischen Berechnungen sind schwierig. Entweder in ein paar Jahren oder ein paar Jahrhunderten wird es zwischen der Erde und dem Jupiter ein Schwarzes Loch geben. Groß genug, um es zu studieren. Ich rechne mit vierzig Jahren.“

Als ich begriff, was er meinte, wußte ich nicht, ob ich lachen oder schreien sollte.

„Lear, Sie können doch nicht glauben, daß etwas, das so klein ist, den ganzen Mars verschlucken kann?“

„Na ja, vergessen Sie nicht, daß es alles schluckt, was in seine Nähe kommt. Ein Atomkern hier, ein Elektron dort… und es wartet nicht einfach darauf, daß Atome hineinstürzen. Seine Schwerkraft ist ungeheuerlich groß, und es fällt durch den Kern des Planeten hin und her und nimmt Materie in sich auf. Je mehr es vertilgt, desto größer wird es, und das Volumen nimmt mit der dritten Potenz der Masse zu. Früher oder später, ja, wird es den Mars in sich aufnehmen. Bis dahin wird es einen Durchmesser von knapp einem Millimeter haben – groß genug, damit man es sehen kann.“

„Kann das innerhalb von dreizehn Monaten passieren?“

„Bevor wir abfliegen? Hm.“ Lear starrte vor sich hin. „Das glaube ich nicht. Ich muß mich damit befassen. Die mathematischen Berechnungen sind schwierig…“

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Anhang von Lucifex:

Im Sammelband „Black Holes“ erläutert Jerry Pournelle gleich im Anschluß an diese Geschichte in seinem Essay „Haarige schwarze Löcher sind eigentlich unbehaart“, wie er und Larry Niven später von Stephen Hawkings damals neuer Theorie der Hawking-Strahlung erfuhren. Durch diese Strahlung, die am Ereignishorizont entsteht, verlieren Schwarze Löcher Energie und somit Masse, und wenn sie nicht mindestens ebenso viel Masse aus ihrer Umgebung aufnehmen, schrumpfen sie.

Dieser Effekt ist besonders bei Schwarzen Löchern geringer Masse bedeutsam, da sie eine geringe Ausdehnung, d. h. einen kleineren Schwarzschildradius haben. Die den Ereignishorizont umgebende Raumzeit ist entsprechend stärker gekrümmt. Die Lebensdauer eines Schwarzen Loches ist proportional zur dritten Potenz seiner ursprünglichen Masse und beträgt bei einem Schwarzen Loch mit der Masse unserer Sonne ungefähr 1064 Jahre. Je kleiner ein Schwarzes Loch ist, umso höher ist seine Temperatur und aufgrund stärkerer Hawking-Strahlung verdampft es umso schneller. Sobald seine Masse tausend Tonnen unterschreitet, explodiert es innerhalb einer Zehntelsekunde in einem Röntgenblitz mit der Energie mehrerer Millionen Megatonnen TNT-Äquivalent.

Hier ist ein Scan der Tabelle in „Haarige schwarze Löcher sind eigentlich unbehaart“, in der die Lebensdauern von Schwarzen Löchern verschiedener Massen dargestellt sind:

Mit 1014 Gramm, also 1 Milliarde Tonnen, hätte das winzige Schwarze Loch im Kommunikator der Außerirdischen auf dem Mars eine Lebensdauer von ca. 3 Milliarden Jahren, wäre also schon lange verdampft, wenn es ein nach dem Urknall entstandenes primordiales Schwarzes Loch wäre. Deshalb, so Pournelle, könne es solche kleinen Schwarzen Löcher heute nicht geben, und er sei froh, daß er keine Geschichte über sie veröffentlicht hat.

Abgesehen davon, daß die Außerirdischen ein primordiales Schwarzes Loch gefunden haben könnten, das ursprünglich größer war und seither auf eine Milliarde Tonnen geschrumpft ist, gibt es inzwischen auch neuere Überlegungen, die in „Spektrum der Wissenschaft“ 12-2020 dargelegt werden („Grenzfall für Schwarze Löcher“ ab S. 58): Diesen zufolge erzeugt bei elektrisch geladenen Schwarzen Löchern diese Ladung einen zweiten Ereignishorizont innerhalb des von der Schwerkraft erzeugten, und wenn der äußere Horizont bei seiner Schrumpfung den inneren erreicht, kann das Schwarze Loch laut dieser Theorie nicht mehr weiter verdampfen, wird also zu einem „extremalen“ Schwarzen Loch:

Da das Schwarze Mikro-Loch in Lears Kommunikator elektrisch massiv geladen war, damit es durch Magnetfelder gestützt und in Vibration versetzt werden konnte, wäre es also denkbar, daß es sich um ein solches „extremales“ Schwarzes Loch handelte, das nicht mehr weiter schrumpfen konnte, wodurch die Geschichte wieder gerettet wäre.

Die Außerirdischen müßten dafür entweder ein primordiales Schwarzes Loch gefunden haben, das gerade auf diese Masse geschrumpft war und in einigen weiteren Jahrmillionen verdampft wäre und das sie durch Zuführung einer ausreichenden Menge von Protonen oder Elektronen so stark positiv oder negativ aufgeladen hätten, daß sein wachsender innerer Horizont den schrumpfenden äußeren Ereignishorizont aufgefangen und einen weiteren Masseverlust durch Hawking-Strahlung gestoppt hätte. Oder sie müßten eine Möglichkeit gefunden haben, ein winziges Schwarzes Loch zu erzeugen und dieses sofort mit genügend elektrischer Ladung zu versehen, daß es nicht gleich wieder verdampft wäre, und dann hätten sie es mit Materie mit einem Protonen- oder Elektronenüberschuß füttern und auf die gewünschte Masse mästen können (Letzteres erst nach dem Transport zum Bestimmungsort).

Und den Mars hätte es trotzdem fressen können: bei dem Druck im Inneren eines Planeten hätte es mehr Masse aufgenommen, als es zerstrahlen könnte, und mit zunehmender Masse wäre auch die abgegebene Hawking-Strahlung immer geringer geworden.

Hier noch ein paar Info-Links und zwei Videos:

Gravitationswellen, Hawking-Strahlung, Schwarzes Loch, Primordiale Schwarze Löcher, Schwarze Mikro-Löcher (Micro Black Hole), Ereignishorizont, Neue Dimensionen für Schwarze Löcher (Artikel), Schwarzschildradius

PBS Space Time – „What If (Tiny) Black Holes Are Everywhere?“ (16 min.):

PBS Space Time – „What Happens If A Black Hole Hits Earth?“:

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Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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