Ein Turm aus Asche

Von George R. R. Martin. Das Original „This Tower of Ashes“ wurde 1974 verfaßt und erstmals in der Aprilausgabe 1976 von Analog Annual veröffentlicht. Die deutsche Übersetzung von Tony Westermayr erschien 1979 im GRRM-Sammelband „Lieder von Sternen und Schatten“ und ist auch im neueren GRRM-Sammelband „Traumlieder I“ (Heyne 2014, ISBN 978-3-453-31611-9) enthalten.

Mein Turm ist aus Mauersteinen erbaut, kleinen, rußgrauen Mauersteinen, verbunden durch eine schimmernd-schwarze Mörtelsubstanz, die meinem unkundigen Auge auf sonderbare Weise wie Obsidian erscheint, obwohl es ganz offensichtlich kein Obsidian sein kann. Er steht an einem Arm der Dürren See, sieben Meter hoch und absackend, der Waldrand ist nur Meter entfernt.

Ich fand den Turm vor fast vier Jahren, als Squirrel und ich Port Jamison mit dem silbrigen Flugwagen verließen, der jetzt ausgebrannt und überwachsen im Unkraut vor meiner Türschwelle liegt. Bis heute weiß ich fast nichts über das Bauwerk, aber ich habe meine Theorien.

Zum einen glaube ich nicht, dass der Turm von Menschen erbaut wurde. Er ist eindeutig älter als Port Jamison, und, wie ich oft denke, als der menschliche Raumflug. Die Mauersteine (die seltsam klein sind, weniger als ein Viertel der Größe normaler Ziegelsteine), sind verbraucht und verwittert und alt, und sie zerbröckeln unter meinen Füßen. Überall ist Staub, und ich weiß, woher er kommt, denn mehr als einmal habe ich von der Brüstung am Dach einen Stein herausgestemmt und ihn beiläufig zu dünnem, schwarzem Pulver zerdrückt. Ich habe ihn in meiner bloßen Faust zerdrückt. Wenn von Osten der Salzwind heranweht, lässt der Turm einen Helmbusch aus Asche flattern.

Im Inneren sind die Mauersteine in besserem Zustand, da Wind und Regen sie nicht so stark angegriffen haben, aber trotzdem ist der Turm alles andere als angenehm. Das Innere ist ein einziger Raum voll Staub und Echos, ohne Fenster; das einzige Licht kommt von der kreisrunden Öffnung in der Dachmitte. Eine Wendeltreppe, aus dem gleichen Mauerwerk wie das übrige, ist Teil der Wand. Sie führt im Kreis herum und immer wieder herum, wie das Gewinde einer Schraube, bis sie Dachhöhe erreicht. Squirrel, der für eine Katze ziemlich klein ist, bewältigt die Treppe mühelos, aber für Menschenfüße ist sie eng und unbequem.

Aber trotzdem steige ich sie hinauf. Jede Nacht komme ich aus den kühlen Wäldern zurück, die Pfeile sind schwarz vom verkrusteten Blut der Traumspinnen, der Beutel ist schwer von ihren Giftsäcken, und ich stelle den Bogen weg und wasche mir die Hände und steige dann zum Dach hinauf, um die letzten Stunden bis zur Morgendämmerung zu verbringen. Auf der anderen Seite der schmalen Salzrinne brennen die Lichter von Port Jamison auf der Insel, und von dort oben ist es nicht die Stadt meiner Erinnerung. Nachts sind die kantigen schwarzen Gebäude in ein romantisches helles Leuchten gehüllt; die Lichter, ganz rauchiges Orangerot und gedämpftes Blau, sprechen von Rätseln und stummem Leid und mehr als ein wenig Einsamkeit, während die Sternenschiffe vor den Sternen steigen und stürzen wie die unermüdlich schwirrenden Glühwürmchen meiner Kindheit auf der Alten Erde.

„Es gibt Geschichten dort drüben“, sagte ich einmal zu Korbec, bevor ich es besser wusste. „Hinter jedem Licht sind Leute, und jede Person hat ein Leben, eine Geschichte. Nur führen sie alle ihr Leben, ohne uns je zu berühren, sodass wir die Geschichten nie erfahren werden.“ Ich glaube, dass ich dann gestikulierte; ich war natürlich ziemlich betrunken.

Korbec antwortete mit einem Lächeln, das seine Zähne entblößte, und einem Kopfschütteln. Er war ein mächtiger, dunkler, schwerer Mann mit einem Bart wie aus verknotetem Draht. Jeden Monat kam er in seinem verbeulten schwarzen Flugwagen aus der Stadt, um mir das, was ich zum Leben brauchte, zu bringen und das Gift abzuholen, das ich gesammelt hatte, und jeden Monat stiegen wir zum Dach hinauf und betranken uns. Ein Lastwagenfahrer, mehr war Korbec nicht; ein Verkäufer verbilligter Träume und gebrauchter Regenbogen. Aber er bildete sich ein, er sei ein Philosoph und Menschenkenner.

„Machen Sie sich nichts vor“, sagte er damals zu mir. „Ihnen entgeht überhaupt nichts. Das Leben ergibt miserable Geschichten, wissen Sie. Richtige Geschichten dagegen, die haben meistens eine Handlung. Sie fangen an und laufen so ein bißchen, und wenn sie aufhören, sind sie vorbei, außer es schreibt einer Fortsetzungen. Im Leben gibt es das nicht, die Leute laufen nur so herum und schwätzen und machen immer weiter. Da hört nie etwas auf.“

„Die Leute sterben“, sagte ich. „Das ist Ende genug, möchte ich meinen.“

Korbec gab ein lautes Geräusch von sich. „Sicher, aber haben Sie schon mal erlebt, dass einer zur rechten Zeit stirbt? Nein, kommt nicht vor. Die einen kippen um, bevor ihr Leben so richtig angefangen hat, die anderen mitten in der besten Zeit. Andere treiben sich noch herum, nachdem alles schon lange vorbei ist.“

Wenn ich oben allein sitze, Squirrel warm auf meinem Schoß, ein Glas Wein neben mir, denke ich oft an Korbecs Worte und die schwerfällige Art, wie er sie aussprach; seine rauhe Stimme war seltsam sanft. Er ist kein kluger Mann, dieser Korbec, doch in jener Nacht, glaube ich, sagte er etwas Wahres, vielleicht, ohne es selbst zu wissen. Aber der ermattete Realismus, den er mir damals anbot, ist das einzige Gegenmittel, das es gegen die Träume gibt, die von Spinnen gewoben werden.

Aber ich bin nicht Korbec, noch kann ich es sein, und während ich seine Wahrheit erkenne, kann ich sie doch nicht leben.

*   *   *

Am späten Nachmittag war ich im Freien, um Zielschießen zu üben, und trug nichts als meinen Köcher und eine Hose mit abgeschnittenen Beinen, als sie kamen. Es wurde schon dunkel, und ich machte mich locker für meinen nächtlichen Ausflug in den Wald – selbst in dieser frühen Zeit lebte ich schon von der Abend- bis zur Morgendämmerung, wie die Traumspinnen es tun. Das Gras fühlte sich gut an meinen nackten Sohlen an, der doppelt geschweifte Silberholzbogen in meiner Hand noch besser, und ich schoss treffsicher.

Dann hörte ich sie kommen. Ich blickte über die Schulter zum Ufer und sah den dunkelblauen Flugwagen am östlichen Horizont rasch größer werden. Gerry, natürlich, das erkannte ich am Geräusch; sein Flugwagen gab schon seltsame Laute von sich, seit ich ihn kannte.

Ich drehte ihnen den Rücken zu, spannte ganz ruhig die Sehne und traf ins Schwarze.

Gerry landete im Unkraut vor dem Sockel des Turms, ganz in der Nähe meines Flugwagens. Crystal war bei ihm, schlank und ernst, ihr langes goldenes Haar schimmerte rötlich in der Nachmittagssonne. Sie stiegen aus und kamen auf mich zu.

„Stellt euch nicht in die Nähe der Zielscheibe“, sagte ich, während ich den nächsten Pfeil einlegte und den Bogen spannte. „Wie habt ihr mich gefunden?“ Das Schwirren des Pfeils in der Zielscheibe untermalte meine Frage.

Sie machten einen weiten Bogen um meine Schussbahn.

„Du hast einmal erwähnt, du hättest diese Stelle von der Luft aus entdeckt“, sagte Gerry, „und wir wussten, dass du nirgends in Port Jamison warst. Ein Versuch schien sich zu lohnen.“ Er blieb einen Meter vor mir stehen, die Hände auf den Hüften; er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte: groß, schwarzhaarig und in sehr guter körperlicher Verfassung. Crystal trat zu ihm heran und legte eine Hand leicht auf seinen Arm.

Ich ließ den Bogen sinken und drehte mich zu ihnen um.

„Also gut, ihr habt mich gefunden. Warum?“

„Ich habe mir Sorgen um dich gemacht, Johnny“, sagte Crystal leiste. Aber als ich sie ansah, wich sie meinem Blick aus.

Gerry legte den Arm um ihre Hüfte, ganz besitzergreifend, und in mir flammte etwas auf.

„Davonlaufen ist noch nie eine gute Lösung gewesen“, erklärte er mir. Seine Stimme war voll von dem eigenartigen Gemisch aus freundschaftlicher Sorge und herablassender Arroganz, mit dem er mir monatelang begegnet war.

„Ich bin nicht davongelaufen“, sagte ich gepresst. „Verdammt! Ihr hättet auf keinen Fall kommen sollen.“

Crystal sah Gerry tieftraurig an, und es war klar, dass sie plötzlich genau dasselbe dachte. Gerry zog nur die Brauen zusammen. Ich glaube nicht, dass er jemals begriffen hat, warum ich sagte oder tat, was ich sagte oder tat; sooft wir über das Thema sprachen, was nur selten vorkam, erklärte er mir mit vager Verwirrung, was er getan hätte, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären. Es erschien ihm unendlich seltsam, dass irgendjemand in derselben Lage auch nur auf den Gedanken kommen konnte, etwas anderes zu tun.

Sein Stirnrunzeln berührte mich nicht, aber den Schaden hatte er schon angerichtet. In dem Monat meines selbst gewählten Exils im Turm hatte ich versucht, mit meinen Handlungen und Stimmungen ins Reine zu kommen, und es war alles andere als leicht gewesen. Crystal und ich waren lange Zeit zusammen gewesen – beinahe vier Jahre -, als wir auf Jamisons Welt kamen, auf der Fährte einzigartiger silberner und Obsidian-Artefakte, die wir auf Baldur entdeckt hatten. Ich hatte sie während der ganzen Zeit geliebt und liebte sie immer noch, selbst jetzt, nachdem sie mich wegen Gerry verlassen hatte. Wenn es mir gut ging, schien es mir, dass der Impuls, der mich aus Port Jamison vertrieben hatte, edel und uneigensüchtiger gewesen war. Ich wollte einfach, dass Crys glücklich war, und sie konnte dort mit mir nicht glücklich sein. Meine Wunden waren zu tief, und ich war nicht sonderlich geschickt darin, sie zu verbergen; meine Gegenwart legte den Dämpfer der Schuld auf die neugeborene Freude, die sie mit Gerry gefunden hatte. Und da sie es nicht ertragen konnte, einen radikalen Schnitt vorzunehmen, fühlte ich mich gezwungen, ihn selbst durchzuführen. Für sie beide. Für Crystal.

Das redete ich mir jedenfalls gern ein. Aber es gab Stunden, da schrumpfte das moralische Mäntelchen, dunkle Stunden voller Abscheu vor mir selbst. Waren das die wahren Gründe? Oder zielte ich nur darauf ab, mir in einem Anfall zorniger Unreife selbst wehzutun und sie damit zu bestrafen – wie ein trotziges Kind, das aus Rache mit Selbstmordgedanken spielt?

Ich wusste es nicht. Einen Monat lang war ich zwischen den beiden Meinungen hin und her gependelt, während ich mich bemühte, mich selbst zu verstehen und zu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Ich wollte mich für einen Helden halten, entschlossen, dem Glück der Frau, die ich liebte, ein Opfer zu bringen. Aber Gerrys Worte machten deutlich, dass er das ganz und gar nicht so sah.

„Warum musst du immer alles so dramatisieren?“ fragte er mit störrischer Miene. Er war von Anfang an entschlossen gewesen, sehr zivilisiert zu sein, und schien sich fortwährend über mich zu ärgern, weil ich mich nicht zusammenreißen und meine Wunden heilen wollte, damit wir alle Freunde sein konnten. Nichts ärgert mich so sehr wie seine Verärgerung; ich glaubte, dass ich, wenn man alles in Betracht zog, mit der Situation recht gut fertig wurde, und nahm die Unterstellung übel, dass dem nicht so sei.

Aber Gerry hatte den Entschluss gefasst, mich zu bekehren, und mein vernichtender Blick auf ihn war vergeudet.

„Wir werden hierbleiben und uns offen aussprechen, bis du bereit bist, mit uns nach Port Jamison zurückzufliegen“, erklärte er mir in seinem entschiedensten „Jetzt-werde-ich-aber-grimmig“-Ton.

„Lass den Scheiß“, sagte ich, drehte mich abrupt um und riss einen Pfeil aus meinem Köcher. Ich legte ihn ein, spannte und ließ los – viel zu schnell. Der Pfeil verfehlte das Ziel um fast einen halben Meter und bohrte sich in das weiche, dunkle Mauerwerk meines zerfallenden Turms.

„Wo sind wir hier überhaupt?“ fragte Crys und starrte den Turm an, als sähe sie ihn zum ersten Mal. Möglich, dass das zutraf – dass es des Anblicks meines im Stein steckenden Pfeils bedurfte, um sie auf das uralte Bauwerk aufmerksam zu machen. Aber eher war es wohl ein bewusster Themenwechsel, dazu bestimmt, den Streit zu dämpfen, der sich zwischen Gerry und mir anbahnte.

Ich ließ den Bogen wieder sinken und ging zur Zielscheibe, um die verschossenen Pfeile zu holen.

„Ich bin mir selbst nicht ganz sicher“, sagte ich etwas besänftigt und bemüht, ihr Stichwort aufzunehmen. „Ein Wachturm, glaube ich, nichtmenschlichen Ursprungs. Jamisons Welt ist nie gründlich erforscht worden. Es könnte hier einmal eine intelligente Rasse gegeben haben.“ Ich ging um die Zielscheibe herum zum Turm und riss den letzten Pfeil aus dem bröckelnden Mauerwerk. „Vielleicht gibt es sie immer noch. Wir wissen sehr wenig von den Dingen, die auf dem Festland vorgehen.“

„Ein verdammt düsterer Aufenthaltsort, wenn du mich fragst“, warf Gerry ein und besah sich den Turm. „Könnte jeden Augenblick einstürzen, so wie das aussieht.“

Ich lächelte ihn gedankenverloren an. „Der Gedanke ist mir schon gekommen. Aber als ich hier eintraf, war mir das völlig gleichgültig.“

Ich bereute sofort, das gesagt zu haben; Crys zuckte merklich zusammen. Das war die ganze Geschichte meiner letzten Wochen in Port Jamison gewesen. Sosehr ich mich auch anstrengte, ich schien nur zwei Möglichkeiten zu haben: Ich konnte lügen oder ihr wehtun. Beides behagte mir nicht, und so war ich hier. Aber sie waren auch da, und die ganze unmögliche Situation hatte sich wieder eingestellt.

Gerry hatte wieder einen Kommentar parat, aber loswerden konnte er ihn nicht. Im nächsten Augenblick kam nämlich Squirrel aus dem Unkraut gesprungen und lief auf Crystal zu.

Sie lächelte ihn an und kniete nieder; und dann war er bei ihr, leckte ihr die Hand und kaute an ihren Fingern. Squirrel war offensichtlich guter Dinge. Das Leben rund um den Turm gefiel ihm. In Port Jamison war sein Leben durch Crystals Ängste, es könnten ihn Gassenfaucher fressen oder Hunde jagen oder Kinder aufhängen, eingeengt gewesen. Hier draußen ließ ich ihn frei laufen, was ihm sehr viel mehr behagte. Das Gebüsch um den Turm war von Peitschenmäusen überlaufen, einheimischen Nagetieren mit unbehaartem Schwanz von der dreifachen Länge des Körpers. Der Schwanz stach ein bisschen, aber das störte Squirrel nicht, obwohl er jedes Mal, wenn er getroffen wurde, eine Schwellung bekam und missmutig reagierte. Es machte ihm Spaß, den ganzen Tag Peitschenmäuse zu jagen. Squirrel hatte sich immer schon für einen großen Jäger gehalten, und eine Schüssel Katzenfutter zu erbeuten, erfordert keine Geschicklichkeit.

Er war noch länger bei mir, als Crystal es gewesen war, aber während unserer gemeinsamen Zeit hatte sie ihn entsprechend lieb gewonnen. Ich argwöhnte oft, dass Crystal noch früher zu Gerry gegangen wäre, hätte sie der Gedanke, Squirrel verlassen zu müssen, nicht so bedrückt. Nicht dass er eine große Schönheit gewesen wäre. Er war ein kleiner, magerer, zerzaust aussehender Kater mit Ohren wie ein Fuchs, einem Fell von schmutzig-graubrauner Farbe und einem langen, buschigen Schwanz, der ihm zwei Nummern zu groß war. Der Freund, der ihn mir damals auf Avalon schenkte, hatte mir ernsthaft mitgeteilt, Squirrel sei der illegitime Abkömmling einer genetisch manipulierten Psi-Katze und eines räudigen streunenden Katers. Aber wenn Squirrel die Gedanken seines Besitzers lesen konnte, schenkte er ihnen nicht viel Aufmerksamkeit. Wenn er Zuneigung wollte, tat er Dinge wie schnurstracks an dem Buch emporzuklettern, das ich gerade las, es wegzustoßen und mich ins Kinn zu beißen. Wenn er seine Ruhe haben wollte, war es gefährlicher Leichtsinn, ihn streicheln zu wollen.

Als Crystal vor ihm kniete und ihn streichelte und Squirrel ihre Hand beschnupperte, schien sie wieder ganz die Frau zu sein, mit der ich auf Reisen gewesen, die ich geliebt, mit der ich endlos gesprochen und jede Nacht geschlafen hatte, und plötzlich wurde mir klar, wie sehr sie mir gefehlt hatte. Ich glaube, ich lächelte; ihr Anblick, selbst unter diesen Umständen, schenkte mir immer noch eine von Wolken verdunkelte Freude. Vielleicht ist es albern und dumm und rachsüchtig von mir, die beiden fortschicken zu wollen, dachte ich, nachdem sie von so weit gekommen sind, um mich zu sehen. Crys war Crys geblieben, und Gerry konnte kaum so schlimm sein, wenn sie ihn liebte.

Während ich sie stumm beobachtete, traf ich plötzlich eine Entscheidung. Ich würde ihnen erlauben, hierzubleiben, und wir konnten sehen, was sich ergab.

„Es wird bald dunkel“, hörte ich mich sagen. „Habt ihr Hunger?“

Crys hob den Kopf, während sie Squirrel weiterstreichelte, und lächelte. Gerry nickte.

„Na gut“, sagte ich, ging an ihnen vorbei, blieb unter der Tür stehen, drehte mich um und winkte sie herein. „Willkommen in meiner Ruine.“

Ich drehte die elektrischen Lampen an und kümmerte mich um das Abendessen. Damals waren meine Schränke noch gut gefüllt; ich hatte noch nicht begonnen, vom Wald zu leben. Ich taute drei große Sandraci auf, silberschalige Krustentiere, nach denen die Jamie-Fischer unerbittlich schleppfischten, und servierte sie mit Brot, Käse und Weißwein.

Das Tischgespräch war höflich und behutsam. Wir sprachen über gemeinsame Freunde in Port Jamison, Crystal erzählte mir von einem Brief gemeinsamer Bekannter auf Baldur, den sie bekommen hatte, Gerry ließ sich über Politik und die Bemühungen der Port-Polizei aus, den Handel mit Traumgift zu unterbinden.

„Der Rat fördert die Entwicklung eines Super-Insektizids, das die Traumspinnen ausrotten würde“, berichtete er mir. „Eine Sättigungsberieselung der nahen Küste würde das meiste an Nachschub unterbinden, glaube ich.“

„Gewiss“, sagte ich, vom Wein ein wenig beschwipst und ein bisschen pikiert über Gerrys Dummheit. Wieder einmal hatte ich mich, während ich ihm zuhörte, dabei ertappt, dass ich an Crystals Geschmack zu zweifeln begann. „Ganz egal, welche anderen Auswirkungen das auf das Ökosystem haben könnte, oder?“

Gerry zuckte mit den Achseln. „Festland“, sagte er nur. Er war durch und durch Jamie, und die Bemerkung war zu übersetzen mit „Wen stört’s?“. Die Zufälle der Geschichte hatten bei den Bewohnern von Jamisons Welt eine einzigartig gleichgültige Haltung gegenüber dem einen großen Kontinent ihres Planeten erzeugt. Die meisten der ursprünglichen Siedler waren von Alt-Poseidon gekommen, wo das Meer seit Generationen das Dasein bestimmt hatte. Die reichhaltigen, wimmelnden Meere und friedlichen Archipele ihrer neuen Welt hatten sie weit mehr angezogen als die dunklen Wälder des Festlands. Ihre Kinder wuchsen mit derselben Einstellung heran, mit Ausnahme einer Handvoll, die mit dem Verkauf von Träumen illegale Gewinne machte.

„Tu das nicht einfach mit einem Achselzucken ab“, sagte ich.

„Denk doch realistisch“, erwiderte er. „Das Festland nützt keinem etwas, außer den Spinnen-Leuten. Wem könnte es schaden?“

„Verdammt, Gerry, sieh dir diesen Turm an! Wo kommt er her, sag mir das! Ich sage dir, da draußen in diesen Wäldern könnte es Intelligenz geben. Die Jamies haben sich nicht einmal die Mühe gemacht, nachzuforschen.“

Crystal nickte über ihrem Weinglas.

„Johnny könnte recht haben“, sagte sie mit einem Blick auf Gerry. „Deshalb bin ich hergekommen, wenn du dich erinnerst. Die Artefakte. In dem Laden auf Baldur hieß es, sie wären von Port Jamison aus verschifft worden. Der Mann konnte sie nicht weiter zurückverfolgen. Und die Kunstfertigkeit – ich gehe seit Jahren mit der Kunst fremder Wesen um, Gerry. Ich kenne die Arbeiten der Fyndii, von Damush, und ich habe alle anderen gesehen. Das war etwas ganz anderes.“

Gerry lächelte nur.

„Das beweist gar nichts. Es gibt zum Kern hin andere Rassen, Millionen von ihnen. Die Entfernungen sind zu groß, also hören wir nicht sehr oft von ihnen, außer vielleicht aus dritter Hand, aber es ist nicht ausgeschlossen, dass immer wieder einmal eines ihrer Kunstprodukte durchsickert.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich möchte wetten, dass irgendein früher Siedler den Turm errichtet hat. Wer weiß, vielleicht hat es vor Jamison einen anderen Entdecker gegeben, der seinen Fund nie gemeldet hat. Vielleicht hat er das hier gebaut. Aber intelligente Wesen auf dem Festland nehme ich euch nicht ab.“

„Jedenfalls so lange nicht, bis ihr die verdammten Wälder ausräuchert und sie alle herauskommen und ihre Speere schwenken“, sagte ich griesgrämig.

Gerry lachte, und Crystal lächelte mich an. Und plötzlich, ganz plötzlich, erfüllte mich der überwältigende Wunsch, in diesem Streit Sieger zu bleiben. Meine Gedanken besaßen die an den Rändern verschwimmende Klarheit, die nur der Wein verschaffen kann, und es schien alles so logisch zu sein. Ich hatte so eindeutig recht, und hier bot sich mir die Gelegenheit, Gerry als den Provinzler zu entlarven, der er war, und bei Crystal Boden gutzumachen.

Ich beugte mich vor.

„Wenn ihr Jamies jemals nachschauen würdet, könntet ihr vielleicht intelligente Wesen finden“, sagte ich. „Ich bin erst einen Monat auf dem Festland und habe schon viel entdeckt. Du hast überhaupt keine Vorstellung von der Schönheit, deren Vernichtung du so munter predigst. Hier draußen gibt es eine ganze Ökologie, eine andere als auf den Inseln, Arten über Arten, von denen man viele vermutlich noch gar nicht kennt. Aber was weißt du davon? Was wisst ihr alle davon?“

Gerry nickte. „Dann zeig es mir doch.“ Er stand plötzlich auf. „Ich bin immer lernbereit, Bowen. Warum nimmst du uns nicht mit und zeigst uns alle Wunder des Festlands?“

Ich glaube, Gerry wollte auch Punkte sammeln. Er rechnete vermutlich nicht damit, dass ich ihn beim Wort nehmen würde, aber es war genau das, was ich mir wünschte. Draußen war es dunkel geworden, und wir hatten uns im Licht meiner Lampen unterhalten. Über uns leuchteten die Sterne durch das Loch in meinem Dach. Der Wald würde jetzt lebendig sein, unheimlich und schön, und ich war plötzlich begierig darauf, dort zu sein, mit dem Bogen in der Hand, in einer Welt, in der ich eine Kraft und ein Freund war und Gerry nur ein tollpatschiger Tourist.

„Crystal?“ fragte ich.

Sie wirkte interessiert. „Könnte Spaß machen. Wenn es ungefährlich ist.“

„Bestimmt“, sagte ich. „Ich nehme meinen Bogen mit.“

Wir standen beide auf, und Crys machte einen glücklichen Eindruck. Ich erinnerte mich an die Zeiten, als wir gemeinsam in die Wildnis Baldurs gezogen waren, und plötzlich fühlte ich mich sehr glücklich, erfüllt von der Gewissheit, dass alles gut werden würde. Gerry war nur Teil eines bösen Traums. Sie konnte ihn nicht wirklich lieben.

Zuerst suchte ich die Ernüchterer heraus; ich fühlte mich gut, aber nicht gut genug, um in den Wald hinauszugehen, solange mir vom Wein noch schwindlig war. Crystal und ich schluckten sie sofort, und Sekunden später begann die alkoholische Wärme zu vergehen. Gerry winkte jedoch ab, als ich ihm die Tablette hinhielt.

„So viel habe ich nicht getrunken“, sagte er. „Ich brauche das nicht.“

Ich zuckte die Achseln und dachte, dass sich das Ganze immer besser anließ. Wenn Gerry in betrunkenem Zustand durch den Wald stolperte, musste das Crystal gegen ihn einnehmen.

„Wie du willst“, sagte ich.

Sie waren beide eigentlich nicht für die Wildnis angezogen, aber ich hoffte, dass das nicht problematisch werden würde, weil ich nicht wirklich vorhatte, sie tief in den Wald hineinzuführen. Es wird ein kurzer Ausflug sein, dachte ich: meiner Fährte ein Stück folgen, ihnen den Staubhaufen und die Spinnenkluft zeigen, vielleicht eine Traumspinne für sie erlegen. Nichts dabei, kurz hinein und wieder hinaus.

Ich zog einen dunklen Overall und schwere Wanderstiefel an, nahm meinen Köcher, gab Crystal eine Lampe für den Fall, dass wir von den Blaumoosgebieten abirrten, und griff nach meinem Bogen.

„Brauchst du den wirklich?“ fragte Gerry sarkastisch.

„Zum Schutz“, erwiderte ich.

„So gefährlich kann es nicht sein.“

Nicht, wenn du dich auskennst, dachte ich, aber das sagte ich ihm nicht.

„Warum bleibt ihr Jamies dann auf euren Inseln?“

Er lächelte. „Ich vertraue einem Laser mehr.“

„Ich pflege einen Todeswunsch. Ein Bogen gibt der Beute eine gewisse Chance.“

Crys zeigte mir ein Lächeln gemeinsamer Erinnerung. „Er jagt nur Raubtiere“, sagte sie zu Gerry.

Ich verbeugte mich.

Squirrel schien damit einverstanden zu sein, meine Burg zu bewachen. Gelassen und meiner Sache sehr sicher, schnallte ich ein Messer um und führte meine Ex-Ehefrau und ihren Liebhaber in die Wälder von Jamisons Welt hinein.

Wir gingen hintereinander, nah zusammen, ich voraus mit dem Bogen, dann Crys, hinter ihr Gerry. Crys knipste die Lampe an, als wir uns auf dem Weg machten, und ließ den Lichtstrahl über den Pfad wandern, während wir uns durch den dichten Hain von Dornpfeilen schlängelten, der vor dem Meer wie eine Mauer aufragte. Hoch und kerzengerade, mit krustig-grauer Rinde, manche so dick wie mein Turm, erkletterten sie eine absurde Höhe, bevor sie ihr mageres Geäst ausbreiteten. Hier und dort drängten sie sich zusammen und quetschten den Pfad zwischen ihnen ein, und im Dunkeln standen wir plötzlich vor mehr als einer scheinbar unüberwindlichen Barriere aus Holz. Aber Crys fand immer wieder den Weg, mit mir einen halben Meter voraus, damit sie das Licht auf die Stelle richten konnte.

Nach zehn Minuten begann sich das Aussehen des Waldes zu verändern. Boden und Luft waren hier trockener, der Wind kühl, aber ohne Salzgeruch; die wasserhungrigen Dornpfeile hatten der Luft fast die ganze Feuchtigkeit entzogen. Sie wuchsen hier niedriger und weniger dicht, die Zwischenräume waren größer und leichter auszumachen. Andere Pflanzenarten tauchten auf: verkümmerte kleine Koboldbäume, weit gedehnte Pseudoeichen, zierliche Ebenfeuer, deren rote Adern im dunklen Holz hell pulsierten, wenn Crystals wandernder Lichtstrahl sie erfasste.

Und Blaumoos.

Zuerst nur wenig; hier ein knotiges Geflecht, das von einem Koboldast herabbaumelte, dort ein kleiner Fleck am Boden, der sich häufig am Rücken eines Ebenfeuers oder eines verdorrenden, allein stehenden Dornpfeils hinauffraß. Dann mehr und immer mehr, dicke Teppiche unter unseren Füßen, moosige Decken auf dem Laub darüber, schwere Ranken, die von den Ästen herabhingen und im Wind tanzten. Crystal ließ den Lichtstrahl umherwandern, fand immer größere und dichtere Ansammlungen des weichen blauen Schwamms, und an den Rändern begann ich das Leuchten wahrzunehmen.

„Genug“, sagte ich, und Crys schaltete die Lampe aus.

Die Dunkelheit währte nur einen Moment, bis sich unsere Augen an eine schwächere Beleuchtung gewöhnt hatten. Ringsum war der Wald von einer schwachen Strahlung durchdrungen, während uns das Blaumoos mit seinem sanften Leuchten umhüllte. Wir standen seitlich auf einer kleinen Lichtung, unter einem schimmernd schwarzen Ebenfeuer, aber selbst die Flammen in seinem rot geäderten Holz wirkten in dem schwachen blauen Licht kühl. Das Moos hatte den ganzen Unterwuchs übernommen, alle Gräser verdrängt und das nahe Gebüsch in verschwommene blaue Strandbälle verwandelt. Es kletterte an den Stämmen der meisten Bäume hoch, und als wir durch die Äste zu den Sternen hinaufsahen, bemerkten wir, dass andere Kolonien dem Wald eine leuchtende Krone aufgesetzt hatten.

Ich lehnte meinen Bogen vorsichtig an die dunkle Flanke des Ebenfeuers, bückte mich und hielt Crystal eine Handvoll Licht hin. Als ich es unter ihr Kinn hob, lächelte sie mich wieder an. Ihre Züge waren vom kühlen Zauber in meiner Hand weicher gezeichnet. Ich erinnere mich, dass ich mich sehr gut fühlte, sie zu dieser Schönheit geführt zu haben.

Aber Gerry grinste mich nur an.

„Ist es das, was wir gefährden werden, Bowen?“ fragte er. „Einen Wald voll Blaumoos?“

Ich ließ das Moos fallen. „Du findest es nicht hübsch?“

Gerry zuckte die Achseln. „Sicher ist es hübsch. Es ist aber auch ein Schwamm, ein Parasit mit der gefährlichen Neigung, alle anderen Pflanzenarten zu überrennen und zu verdrängen. Auf Jolostar und dem Barbis-Archipel wuchs Blaumoos einmal sehr dicht, weißt du. Wir haben alles ausgerissen; es kann in einem Monat eine gute Getreideernte verschlingen.“ Er schüttelte den Kopf.

Und Crystal nickte. „Er hat recht, weißt du“, sagte sie.

Ich sah sie lange an und fühlte mich plötzlich sehr nüchtern. Schlagartig dämmerte mir, dass ich mir ganz unüberlegt eine neue Fantasiewelt aufgebaut hatte. Hier draußen, in einer Welt, die ich allmählich zu der meinen gemacht hatte, einer Welt voll Traumspinnen und Zaubermoos, hatte ich geglaubt, auf irgendeine Weise meinen längst zerronnenen eigenen Traum wieder einfangen zu können, meine lächelnde, kristallene Seelengenossin. In der zeitlosen Wildnis des Festlands sollte Crys uns beide in einem neuen Licht sehen und wieder begreifen, dass ich es war, den sie liebte.

So hatte ich ein schönes Netz gewoben, glitzernd und verlockend wie die Falle irgendeiner Traumspinne, und Crys hatte die hauchdünnen Fäden mit einem einzigen Wort zerrissen. Sie gehörte ihm, nicht mehr mir, nicht jetzt, nie mehr. Und wenn Gerry mir dumm oder gefühllos oder allzu praktisch eingestellt erschien, nun, vielleicht waren es eben diese Eigenschaften, die Crys veranlasst hatten, ihn zu erwählen. Vielleicht aber auch nicht – ich hatte kein Recht, nachträgliche Bedingungen für ihre Liebe zu stellen, und es mochte durchaus sein, dass ich sie nie begreifen würde.

Ich streifte die letzten Flocken von leuchtendem Moos ab, während Gerry nach der großen Lampe Crystals griff und sie wieder anknipste. Mein blaues Wunderland löste sich auf, weggesengt von der grellen weißen Wirklichkeit seines Lichtstrahls.

„Was nun?“ fragte er lächelnd. Er war doch nicht so betrunken.

Ich griff nach meinem Bogen. „Kommt mit“, sagte ich schnell und knapp.

Die beiden wirkten begierig und interessiert, aber meine Stimmung war völlig umgeschlagen. Der ganze Ausflug schien plötzlich sinnlos zu sein. Ich wünschte mir, dass sie fort sein mochten, dass ich mit Squirrel wieder in meinem Turm allein wäre. Ich war niedergedrückt…

…und sank noch tiefer. Im moosüberwachsenen Inneren des Waldes stießen wir auf einen dunklen, schnellen Wasserlauf, und das grelle Licht der Lampe erfasste ein einzelnes Eisenhorn, das zum Trinken gekommen war. Blitzschnell hob es den Kopf, bleich und erschrocken, dann hetzte es zwischen den Bäumen davon; einen flüchtigen Augenblick lang glich es ein wenig dem Einhorn der Legende auf der Erde. Alte Gewohnheit ließ mich einen Blick auf Crystal werfen, aber ihre Augen suchten die Gerrys, als sie lachte.

Später, als wir einen felsigen Hang erstiegen, klaffte in der Nähe die Öffnung einer Höhle; dem Geruch nach war es das Lager eines Waldfauchers.

Ich drehte mich um, um sie zu warnen, entdeckte aber nur, dass ich meine Zuhörerschaft verloren hatte. Sie waren zehn Schritte hinter mir, unten an dem Felsen, gingen ganz langsam, hielten sich an den Händen und sprachen leise miteinander.

Dumpf, zornig und wortlos wandte ich mich wieder ab und stieg weiter über den Hügel. Wir sprachen nicht mehr miteinander, bis ich den Staubhaufen gefunden hatte.

Ich blieb davor stehen, mit den Stiefeln drei Zentimeter tief im dünnen grauen Staub, und sie kamen hinter mir heraufgekeucht.

„Los, Gerry“, sagte ich. „Benutze hier deine Lampe.“

Das Licht streifte umher. Der Hügel war hinter uns, felsig und hier und dort von dem verschwommenen kalten Feuer der im Blaumoos erstickenden Vegetation beleuchtet. Aber vor uns war nur Öde, eine weite, leere Ebene, schwarz und verwüstet und leblos, den Sternen geöffnet. Gerry bewegte die Lampe hin und her, schob die Grenzen des Staubs in der Nähe zurück, bis der Lichtstrahl verblasste, wenn er in die graue Ferne hineinstach. Das einzige Geräusch stammte vom Wind.

„Und?“ fragte er schließlich.

„Befühle den Staub“, sagte ich. Diesmal gedachte ich mich nicht zu bücken. „Und wenn du wieder am Turm bist, zerdrücke einen von meinen Mauersteinen und befühle auch ihn. Es ist dasselbe, eine Art pulvriger Asche.“ Ich holte weit mit dem Arm aus. „Ich würde meinen, dass hier einmal eine ganze Stadt gestanden hat, die nun ganz zu Staub zerfallen ist. Vielleicht war mein Turm ein Vorposten der Leute, die sie gebaut haben, verstehst du?“

„Die verschwundenen Intelligenzwesen der Wälder“, sagte Gerry, immer noch lächelnd. „Nun, ich gebe zu, dass es auf den Inseln nichts dergleichen gibt. Aus gutem Grund. Wir lassen Waldbrände nicht ungezügelt rasen.“

Waldbrände? Komm mir doch nicht damit! Waldbrände verwandeln nicht alles in dünnen Staub, es gibt immer ein paar geschwärzte Stümpfe oder etwas in dieser Art.“

„So? Vermutlich hast du recht. Aber all die verfallenen Städte, die ich kenne, haben wenigstens noch ein paar Steine aufeinander liegen, damit die Touristen Aufnahmen machen können“, sagte Gerry. Der Lichtstrahl zuckte über den Staubhaufen hin und her und tat ihn als belanglos ab. „Alles, was du hast, ist eine Menge Kehricht.“

Crystal sagte nichts.

Ich trat den Rückweg an, und sie folgten mir schweigend. Mit jedem Augenblick verlor ich an Boden; es war Idiotie gewesen, sie hierher zu führen. In diesem Moment beschäftigte mich nichts mehr als der Gedanke, so schnell wie möglich zu meinem Turm zurückzukehren, sie nach Port Jamison zurückzuschicken und mein Exildasein wieder aufzunehmen.

Als wir über den Hügel in den Blaumoos-Wald zurückgekehrt waren, hielt mich Crystal auf.

„Johnny“, sagte sie.

Ich blieb stehen, sie holten mich ein, Crys deutete mit dem Finger voraus.

„Mach das Licht aus“, sagte ich zu Gerry. Im schwächeren Licht des Mooses war es leichter zu erkennen: das verschlungene, schillernde Netz einer Traumspinne, das von den tief hängenden Ästen einer Pseudoeiche schräg herabführte. Die moosigen Stellen, die rings um uns sanft leuchteten, waren nichts dagegen; jede Netzfaser war so dick wie mein Kleinfinger, ölig und hell, überströmend von den Farben des Regenbogens.

Crys trat einen Schritt darauf zu, aber ich griff nach ihrem Arm und hielt sie zurück.

„Die Spinnen sind hier irgendwo“, sagte ich. „Geh nicht zu nah heran. Papa Spinne verlässt das Netz nie, und Mama klettert nachts in den Bäumen herum.“

Gerry blickte ein wenig sorgenvoll nach oben. Seine Lampe blieb dunkel, und plötzlich schien er nicht mehr alles zu wissen. Die Traumspinnen sind gefährliche Raubtiere, und ich nahm an, dass er noch nie eine außerhalb eines Schaukastens gesehen hatte. Auf den Inseln gab es sie nicht.

„Ziemlich großes Netz“, sagte er. „Die Spinnen müssen ordentlich groß sein.“

„Ordentlich“, sagte ich und hatte sofort einen Einfall. Ich konnte es ihm erheblich unbehaglicher machen, wenn ein gewöhnliches Netz wie dieses ihn schon beunruhigte. Und er hatte mir den ganzen Abend über Unbehagen bereitet.

Wir gingen vorsichtig um das Netz herum, ohne einen seiner Bewacher zu sehen. Ich führte sie zur Spinnenkluft.

Sie war ein großes V im sandigen Boden, früher vielleicht einmal ein Bachbett, jetzt aber trocken und überwuchert. Die Kluft ist bei Tag kaum sehr tief, aber bei Nacht sieht sie eindrucksvoll genug aus, wenn man von den bewaldeten Hängen auf beiden Seiten hinunterblickt. Der Grund ist ein dunkles Gewirr aus Gestrüpp, belebt von kleinen, flackernden Phantomlichtern; höher hinauf neigen sich alle möglichen Bäume in den Einschnitt, um einander in der Mitte beinahe zu berühren. Ein Baum überbrückt den Spalt sogar. Ein uralter, verfaulender Dornpfeil, durch Mangel an Feuchtigkeit verdorrt, war vor langer Zeit umgestürzt und bildete eine natürliche Brücke. Die Brücke war von Blaumoos überwuchert und leuchtete.

Wir gingen hintereinander auf den schwach beleuchteten, gewölbten Stamm hinaus, und ich deutete hinunter.

Mehrere Meter unter uns hing ein glitzerndes, vielfarbiges Netz von Hang zu Hang, jeder Strang des Geflechts war so dick wie ein Kabel und schimmernd von klebrigen Ölen. Es schnürte die unteren Bäume zu einer verkrümmten, verflochtenen Umarmung zusammen und bildete ein glänzendes Zauberdach über der Schlucht. Es war wunderschön; am liebsten hätte man die Hand ausgestreckt und es berührt.

Und natürlich spannen die Traumspinnen es genau deshalb. Sie waren nächtliche Raubwesen, und die hellen Farben ihrer Netze, die nachts lodern, sind ein wirksamer Köder.

„Sieh nur“, sagte Crystal, „die Spinne.“ Sie deutete hinüber.

In einer der dunkleren Ecken des Netzes, halb verborgen durch das Gewirr eines Koboldbaums, der aus dem Gestein wuchs, saß sie. Ich konnte sie undeutlich durch das Netzfeuer und Mooslicht hindurch erkennen, ein mächtiges, achtbeiniges weißes Ding vom Umfang eines großen Kürbis. Regungslos. Wartend.

Gerry schaute sich wieder unsicher um, blickte hinauf in die Zweige einer verkrümmten Pseudoeiche, die halb über uns herabhingen.

„Das Weibchen muss irgendwo in der Nähe sein, oder?“

Ich nickte. Die Traumspinnen von Jamisons Welt sind nicht direkt Zwillingsgeschöpfe der Arachniden auf der Alten Erde. Das Weibchen ist wahrhaftig das tödlichere Wesen, aber weit davon entfernt, das Männchen zu fressen, nimmt es dieses für das ganze Leben in eine dauerhafte, besondere Partnerschaft auf. Denn es ist das träge, schwere Männchen, das die Spinndrüsen besitzt, das Netz aus leuchtendem Feuer spinnt und es mit seinem Öl klebrig macht, das die von Licht und Farben angelockte Beute bindet und fesselt. Inzwischen streift das kleinere Weibchen durch das dunkle Geäst, den Giftsack gefüllt mit dem zähflüssigen Traumgift, das strahlende Visionen und Ekstase und schließlich Schwärze bringt. Sie sticht Wesen vom Vielfachen ihrer Größe und schleppt sie schlaff zurück zum Netz, um sie dem Vorrat einzuverleiben.

Die Traumspinnen sind nichtsdestotrotz sanfte, barmherzige Jäger. Wenn sie lebende Nahrung bevorzugen, schadet das nichts; das Opfer genießt es vermutlich sogar, verzehrt zu werden. Die Jamie-Volksweisheit behauptet, das Opfer der Spinne stöhne vor Lust, wenn es verschlungen wird. Wie alle Volksweisheiten übertreiben sie immens. Aber die Wahrheit ist, dass sich die Opfer nie wehren.

Nur wehrte sich in dieser Nacht etwas im Netz unter uns.

„Was ist das?“ fragte ich blinzelnd.

Das schillernde Netz war keineswegs leer – der halb verzehrte Kadaver eines Eisenhorns lag nicht weit unter uns, und eine große schwarze Fledermaus war knapp dahinter mit grellbunten Fasern gefesselt – aber nicht sie beobachtete ich. Bei den Bäumen auf der Westseite, gegenüber der männlichen Spinne, war etwas gefangen und flatterte. Ich erinnere mich, kurz das Zucken blasser Glieder gesehen zu haben, große, leuchtende Augen und etwas Schwingenähnliches. Aber ich konnte es nicht deutlich erkennen.

Das war der Augenblick, in dem Gerry ausrutschte.

Vielleicht war es der Wein, der ihn unsicher machte, oder das Moos unter unseren Füßen, oder die Wölbung des Baumstamms, auf dem wir standen. Vielleicht wollte er nur um mich herumgehen und sehen, was ich anstarrte. Jedenfalls rutschte er aus und verlor das Gleichgewicht, schrie auf und lag plötzlich fünf Meter unter uns gefangen im Netz. Das ganze Gefüge bebte unter der Wucht seines Aufpralls, aber es geriet nicht in Gefahr, zu zerreißen – Traumspinnennetze sind schließlich stabil genug, um Eisenhörner und Waldfaucher zu fangen.

„Verdammt!“ schrie Gerry. Er sah albern aus; ein Bein war durch die Fasern des Netzes hinabgestoßen, die Arme waren halb versunken und hoffnungslos verfangen, nur Kopf und Schultern waren wirklich frei von dem klebrigen Zeug. „Das klebt so. Ich kann mich kaum bewegen.“

„Nicht rühren“, sagte ich. „Es wird nur noch schlimmer. Ich überlege, wie ich hinuntersteigen und dich losschneiden kann. Ich habe mein Messer.“

Ich schaute mich um und suchte nach einem Ast, auf dem man hinauskriechen konnte.

John.“ Crystals Stimme klang gepresst, angespannt.

Die männliche Spinne hatte ihr Versteck hinter dem Koboldbaum verlassen und bewegte sich schwerfällig auf Gerry zu; ein plumpes, weißes Etwas, das Klage um die übernatürliche Schönheit seines Netzes erhob.

„Verdammt“, sagte ich. Ich war nicht ernsthaft beunruhigt, aber es war ärgerlich. Das große Männchen war die größte Spinne, die ich je gesehen hatte, und es schien eine Schande zu sein, sie zu töten. Aber ich hatte kaum eine andere Wahl. Die männliche Traumspinne besitzt kein Gift, aber sie ist eine Fleischfresserin, und der Biss kann durchaus tödlich sein, zumal dann, wenn sie so groß ist. Ich durfte das Männchen nicht auf Beißweite an Gerry herankommen lassen.

Ruhig und bedächtig zog ich einen langen grauen Pfeil aus meinem Köcher und setzte ihn auf die Sehne. Es war Nacht, gewiss, aber ich machte mir keine ernsthaften Sorgen. Ich war ein guter Schütze, und das Ziel war durch die leuchtenden Fäden seines Netzes gut umrissen.

Illustration von Paul Sonju für die Veröffentlichung in „Songs the Dead Men Sing“.

Crystal kreischte.

Ich hielt kurz inne, verärgert darüber, dass sie in Panik geriet, wo ich doch alles unter Kontrolle hatte. Aber ich wusste natürlich die ganze Zeit, dass es nicht daran lag. Es war etwas anderes. Einen Augenblick lang konnte ich mir nicht vorstellen, was es sein mochte.

Als ich Crys‘ Blick folgte, sah ich es. Eine dicke weiße Spinne vom Umfang einer großen Männerfaust war von der Pseudoeiche auf die Brücke hinuntergesprungen, auf der wir standen, keine drei Meter entfernt. Zum Glück war Crystal hinter mir in Sicherheit.

Ich stand dort – wie lange? Ich weiß es nicht. Wenn ich einfach gehandelt hätte, ohne innezuhalten, ohne nachzudenken, wäre ich mit allem fertiggeworden. Ich hätte zuerst das Männchen erledigen sollen, mit dem Pfeil, den ich schussbereit hatte. Es wäre genug Zeit geblieben, einen zweiten Pfeil für das Weibchen zu ziehen.

Aber stattdessen erstarrte ich, gefangen in diesem dunklen, glitzernden Augenblick, einen zeitlosen Lidschlag lang, den Bogen in der Hand, und doch unfähig zu handeln.

Es war plötzlich alles so kompliziert. Das Weibchen krabbelte auf mich zu, schneller, als ich es für möglich gehalten hätte, und es schien um so vieles schneller und tödlicher zu sein als das langsame, weiße Ding unter mir. Vielleicht sollte ich das Weibchen zuerst töten. Ich mochte verfehlen, und dann brauchte ich Zeit, um mein Messer oder einen zweiten Pfeil zu ziehen.

Nur würde dann Gerry gefesselt und hilflos vor den Kiefern des Männchens liegen, das sich ihm unerbittlich näherte. Er konnte sterben. Crystal würde mir das nie vorwerfen können. Ich musste mich selbst retten, und sie, das würde sie verstehen. Und ich würde sie wiederbekommen.

Ja.

NEIN!

Crystal schrie, sie schrie, und plötzlich war alles ganz klar, und ich wusste, was das alles zu bedeuten hatte und warum ich hier in diesem Wald war und was ich tun musste. Es gab einen Augenblick grandioser Erhabenheit. Ich hatte die Gabe verloren, sie glücklich zu machen, meine Crystal, aber nun war diese Macht für einen Moment erstarrter Zeit zu mir zurückgekehrt, und ich konnte Glück geben oder vorenthalten, für immer. Mit einem einzigen Pfeil konnte ich eine Liebe beweisen, der Gerry nichts entgegenzusetzen hatte.

Ich glaube, ich habe gelächelt. Ich bin überzeugt davon.

Und mein Pfeil flog dunkel durch die kühle Nacht und fand sein Ziel in der aufgedunsenen weißen Spinne, die über ein Lichtnetz kroch.

Das Weibchen hatte mich erreicht, und ich unternahm nichts, um es wegzustoßen oder zu zertreten. Ich spürte einen scharfen, stechenden Schmerz an meinem Knöchel.

Glitzernd und vielfarbig sind die Netze, die Traumspinnen weben.

Nachts, wenn ich aus den Wäldern zurückkehre, säubere ich sorgfältig meine Pfeile und klappe mein großes Messer mit der scharfen, schmalen Klinge auf, um die Giftsäcke auseinanderzuschneiden, die ich gesammelt habe. Ich schlitze sie der Reihe nach auf, wie ich sie zuvor aus den reglosen weißen Körpern der Traumspinnen geschnitten habe, und dann lasse ich das Gift in eine Flasche laufen, für den Tag, an dem Korbec herüberfliegt, um sie abzuholen.

Danach stelle ich den Miniaturkelch hinaus, kunstvoll gewirkt aus Silber und Obsidian, und fülle ihn mit dem schweren, schwarzen Wein, den sie mir aus der Stadt bringen. Ich rühre mit meinem Messer um, immer wieder, bis die Klinge wieder hell glänzt und der Wein ein wenig dunkler ist als zuvor. Und ich steige hinauf aufs Dach.

Dann fallen mir oft Korbecs Worte ein, und mit ihnen meine Geschichte. Crystal, meine Liebe, und Gerry, und eine Nacht voller Lichter und Spinnen. Es erschien alles so richtig in diesem kurzen Augenblick, als ich auf der moosbewachsenen Brücke stand, einen Pfeil in der Hand, und die Entscheidung traf. Und es ist alles so falsch geworden…

…von dem Augenblick an, als ich nach einem Monat Fieber und Visionen erwachte, um mich im Turm wiederzufinden, in den Crys und Gerry mich gebracht und in dem sie mich gesund gepflegt hatten. Meine Entscheidung, mein erhabener Entschluss, war nicht so endgültig, wie ich geglaubt hatte.

Manchmal frage ich mich, ob es wirklich eine Wahl gewesen ist. Wir sprachen oft darüber, während ich wieder zu Kräften kam, und was Crys mir erzählt, ist nicht das, woran ich mich erinnere. Sie sagt, wir hätten das Weibchen überhaupt nicht gesehen, bis es zu spät gewesen sei; dass es lautlos auf meinen Nacken herabgefallen sei, gerade als ich den Pfeil abschoss, der das Männchen tötete. Dann habe sie, so sagt sie, das Weibchen mit der Stablampe zerschmettert, die Gerry ihr zum Halten gegeben hatte, und ich sei hinabgestürzt ins Netz.

Ich habe tatsächlich eine Wunde am Nacken und keine an meinem Knöchel. Und was sie sagt, klingt wahr. Denn ich habe die Traumspinnen in den langsam verrinnenden Jahren seit jener Nacht kennengelernt, und ich weiß, daß die Weibchen verstohlene Mörderinnen sind, die sich auf ihr ahnungsloses Opfer herabfallen lassen. Sie stürmen nicht wie wutentbrannte Eisenhörner über umgestürzte Baumstämme; es ist nicht die Art der Spinnen.

Und weder Crystal noch Gerry haben irgendeine Erinnerung an ein blasses, geflügeltes Wesen, das im Netz gezappelt hätte.

Dabei erinnere ich mich genau daran… so wie ich mich an die weibliche Spinne erinnere, die während der endlosen Jahre, in denen ich erstarrt dort stand, auf mich zuhuschte… aber es heißt, dass der Biss einer Traumspinne seltsame Auswirkungen auf das Gemüt hat.

Das könnte es natürlich sein.

Manchmal, wenn Squirrel hinter mir die Treppe heraufkommt, die rußigen Mauersteine mit seinen acht weißen Beinen streifend, geht mir plötzlich auf, wie verkehrt das alles ist, und ich weiß, dass ich zu lange in den Träumen verweilt habe.

Und doch sind die Träume oft besser als das Erwachen, die Geschichten um so vieles schöner als das Leben.

Crystal kehrte nicht zu mir zurück, damals nicht und nie. Sie verließen mich, als ich gesund war. Und das Glück, das ich ihr mit der Entscheidung gebracht habe, die keine war, und dem Opfer, das keines war, mein Geschenk an sie für immer – es hielt weniger als ein Jahr. Korbec berichtete mir, dass sie und Gerry im Bösen auseinandergegangen sind und sie inzwischen Jamisons Welt verlassen hat.

Ich denke, das ist Wahrheit genug, wenn man einem Mann wie Korbec glauben kann. Ich mache mir nicht allzu viele Gedanken darüber.

Ich töte weiter Traumspinnen, trinke Wein, streichle Squirrel. Und jede Nacht ersteige ich diesen Ascheturm, um zu den fernen Lichtern hinüberzublicken.

*   *   *   *   *   *   *   *

Als Ergänzung folgt hier noch ein von mir – Lucifex – übersetzter Auszug aus der Seite von George R. R. Martins THOUSAND WORLDS Wiki über This Tower of Ashes:

Themen:

This Tower of Ashes erforscht den schmalen Grat zwischen Lügen und der Wahrheit und echot im weiteren Sinne Martins wiederkehrende These über die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Die Geschichte zeichnet ein Porträt eines Mannes, der es vorzieht, sich selbst, sein Leben und die ihn umgebenden Menschen gemäß eines bestimmten Narrativs zu sehen, und sich vom wirklichen Leben distanziert, wenn es diesem Narrativ widerspricht. Am Beginn der Geschichte sinniert John betrunken, daß die Menschen von Port Jamison Geschichten sind, wozu ihm der ergraute Spinnengifthändler Korbec widerspricht und behauptet: „Das Leben [von Menschen] ergibt miserable Geschichten“ und „die Leute laufen nur so herum und schwätzen und machen immer weiter. Da hört nie etwas auf.“ John antwortet, daß er, während er diese Wahrheit erkennt, „sie dennoch nicht leben kann“. Dies ist Johns fataler Fehler und die warnende Botschaft im Kern von This Tower of Ashes. Wie Priscilla Zorzi von The Fandomentals hervorhebt, liebt jeder Träume, und „selbst die Opfer der Spinnen sterben kampflos, weil Fantasien so süß sind.“ Aber wir bezahlen einen hohen Preis, wenn wir nicht fähig sind, unsere Fantasien loszulassen, und es ist wichtig, sich dieser Tatsache bewußt zu sein.

Anmerkungen des Autors:

Martin schrieb This Tower of Ashes während einer emotional schmerzlichen Zeit seines Lebens. Seine Freundin hatte ihn gerade mit seinem besten Freund verlassen. Er verliebte sich prompt in eine andere Frau, zu der er eine starke Verbindung spürte, aber die Beziehung endete abrupt, als sie sich in einen anderen verliebte. Martin behauptet, daß die Geschichte „aus all dem entstand.“

*     *     *

Nachwort / Kommentar von Lucifex zu dieser Portion „Fridays for Fiction“:

Fantasie als solche hat sicher ihren Wert, sonst hätte sich die Fähigkeit dazu nicht entwickelt, die bei manchen mehr und bei manchen weniger ausgeprägt ist, und dafür spricht auch, daß es das Bedürfnis nach fantasieanregenden Geschichten über alle Zeiten und Kulturen hinweg gegeben hat, von primitiven Völkern wie den Buschmännern bis zu uns heutigen Weißen. Aber die oben hervorgehobene Kernaussage von Ein Turm aus Asche, daß wir einen Preis dafür bezahlen, wenn wir unsere Fantasien nicht loslassen können – solche Fantasien, die uns zu Fehlern verleiten oder uns davon abhalten, das Richtige zu tun und vergebliche Bemühungen aufzugeben -, kann ich leider aus später Einsicht bestätigen. Dabei hat diese Geschichte, die ich kürzlich aus einer geeigneten Stimmung heraus zum ersten Mal seit Langem wieder bis zum Schluß gelesen habe, eine gewisse katalytische Wirkung gehabt.

Zu den Fantasien, die wir loslassen sollten und oft so schwer können, gehören wie im Fall von John Bowen jene, die sich um das Zurückgewinnen einer verlorenen Liebe drehen (ich habe mich da sehr wiedererkannt, auch wenn meine nicht so rühmlichen Motive andere waren als seine). Prepper-Fantasien gehören auch dazu, und auch die habe ich früher zu viel gehabt und zu lange nicht losgelassen. Oder die Fantasie, mit „As der Schwerter“ und später „Morgenwacht“ wirklich etwas zu bewirken, wo mir spätestens nach den ersten drei Jahren hätte klar sein sollen, daß da nicht mehr draus wird. Ich wüßte noch mehr aus meinem Bereich, aber das behalte ich für mich. Auch unter euch wird so mancher Fantasien haben, denen er zu lange nachgejagt hat, und vielleicht liefert Ein Turm aus Asche da einen Anstoß zur Einsicht.

Aber wie John Bowen „bin ich nicht Korbec, noch kann ich es sein“, und ich weiß noch nicht, wie weit ich selbst diese Einsichten leben kann.

Zum Abschluß präsentiere ich zwei Lieder von Jack’s Angels, einer kurzlebigen österreichischen Folkgruppe (1966 – 1968), die bis in die 1970er sehr populär war; als erstes „My Fantasy’s Kingdom“:

„Over the Sea“ beschreibt eine passive Erwartungsfantasie (gewissermaßen eine weibliche, positivere Variante von John Bowens Turm aus Asche), von der man/frau sich von einem aktiven Streben nach Erfüllung abhalten lassen kann:

My house sits on a hill
Looking way out
Over the sea
Cargo boats from afar
Come to the shore
From over the sea
One day soon they will bring
Someone to me
Maybe someday he’ll come
And he will keep me company

Still I sit on my hill
Looking way out
Over the sea
Tossing pebbles up high
Watching them fall
Into the sea
Grasses grow tall on this hill
And in the breeze waving
Just I sing this: Are you
Sailing this way?

Happy day
I would be happy if you
Came to me now
From over the sea
If you come, please bring me
Candy and things
From over the sea
I’ll take you by the hand
Climb up this hill
And we’ll look at the sea
And watch the birds
Flying free
Over the sea
Over the sea
Over the sea
Over the sea…

*     *     *

Weitere auf „Morgenwacht“ veröffentlichte Texte (zwei Geschichten und ein Essay) von George R. R. Martin:

Die Männer der Station Greywater

Mit dem Morgen kommt der Niedergang der Nebel

Bat Durston, oder: Das Herz im Widerstreit

Ein Auszug aus GRRMs SF-Kurzgeschichte Der Weg von Kreuz und Drachen, die auch im Tausend-Welten-Universum spielt, ist in meinem Artikel Das Gewicht der Dunkelheit zitiert.

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

6 Kommentare

  1. War einmal nach Pause aus den bekannte Gründen zur freiwilligen Zwangsweiterbildung.
    Interessant und mir neu zum Thema Rasse: Die Divertikulose des Dickdarmes mit und ohne den üblichen Komplikationen findet bei den „Kaukasiern“ in 95% der Fälle in der linken Bauchhälfte statt. Bei den Schlitz … äh, Ostasiaten* mit nur geringerer Quote aber in der rechten solchen.
    *Nicht falsch verstehen, ich schätze diese sehr.
    Greulich wahrzunehmen war, nur nebenbei, die Coronagläubigkeit der lieben Kollegen.

  2. wordpress ist ist ein Schwein.

  3. Der Kommentar war vermutlich für diesen oder diesen Strang gedacht, oder?

    • Mit dem Eingeben von Texten läuft es heute noch mehr als gestern irgendwie dys. WordPress …
      Und wie der gestrige hierher geraten ist, weiß der Geier.
      Hoffentlich werde ich den Müßiggang über die Feiertage für einen längeren Aufsatz nutzen, vor allem über das Overton-Fenster und die sowietrussische Kommunalka …
      Kann sein, mein subversives Internetcafe muß ab Mittwoch mal wieder dichtmachen.
      Nebenbei, die Geschichte „Ein Turm aus Asche“ ist einsame Spitze.

  4. Ich bin schon neugierig auf Deinen Aufsatz, hildesvin. Vielleicht stelle ich den dann auch als Artikel ein.

    Ja, „Ein Turm aus Asche“ gehört zu meinen Favoriten unter GRRMs SF-Kurzgeschichten, zusammen mit Die Männer der Station Greywater und Mit dem Morgen kommt der Niedergang der Nebel. „Sandkönige“ ist aber auch recht gut, auf seine eigene fiese Art. Das war eben sein „Manrealm“-Kosmos, den ich ab dem ersten Werk, das ich von GRRM gelesen habe, „Die Flamme erlischt“, zu lieben gelernt habe. (Seltsamerweise ist „Greywater“ in keinem der später erschienenen Sammelbände veröffentlicht worden.)

    In seinem Sammelband TRAUMLIEDER I, in dem u. a. „Ein Turm aus Asche“ und „Am Morgen fällt der Nebel“ (die oben verlinkte Geschichte unter geändertem Titel) enthalten sind, schreibt GRRM in seinem Essay „Das Licht der fernen Sterne“ über seinen Zugang zur SF ab seiner Kindheit und Jugend:

    Fans schreiben von einem „sense of wonder“ und streiten sich darüber, wie er zu definieren sei. Für mich ist der sense of wonder das Gefühl, das mich überkam, als ich im Gras neben dem Kill van Kull lag und über das Licht der fernen Sterne sinnierte. Sie ließen mich immer ganz groß und ganz klein erscheinen. Es machte mich sehr traurig, aber gleichzeitig fühlte ich mich seltsam berührt und auch ein bisschen erhaben.

    Die Science Fiction kann mir dieses Gefühl ebenfalls geben.

    Über die Entstehung von „Ein Turm aus Asche“ schreibt er im selben Essay:

    Als ich 1974 „Ein Turm aus Asche“ schrieb, hatten sich meine Lebensumstände gravierend verändert. Mein Ersatzdienst bei VISTA war vorbei, und ich organisierte an den Wochenenden Schachturniere, um meine Schreibeinkünfte aufzubessern. Ich hatte mit dem Roman angefangen, der später zu „Die Flamme erlischt“ wurde, das Manuskript aber beiseite gelegt, und es würde zwei Jahre dauern, bevor ich mich wieder dranwagte. Meine große Liebe hatte mich verlassen und war mit einem meiner besten Freunde abgezogen. Diese Wunde war noch frisch und blutete schrecklich, da verliebte ich mich erneut, diesmal in eine Frau, mit der ich so viele Gemeinsamkeiten hatte, dass ich dachte, ich würde sie schon mein ganzes Leben lang kennen. Aber diese Beziehung war fast schon zu Ende, bevor sie begonnen hatte, quasi über Nacht, als sie sich in jemand anderen verknallte.

    Das Ergebnis war „Ein Turm aus Asche“. Ben Bova kaufte die Story für Analog, publizierte sie jedoch in Analog Annual, einer Originalanthologie vom Taschenbuchverlag Pyramid. Die Idee dahinter war, Taschenbuchleser für das Magazin zu begeistern. Ob das funktionierte oder nicht, kann ich nicht sagen, aber mir wäre es lieber gewesen, wenn meine Geschichte im Magazin Analog veröffentlicht worden wäre. Eine Lektion habe ich am Anfang meiner Karriere gelernt: Eine Kurzgeschichte gehört in ein Magazin. Wenn jemand außer Ben Bova „Ein Turm aus Asche“ gelesen hat, soll er sich bei mir melden.

    Ich, ich!

  5. Eine Information für Diskophile: die Alben der österreichischen Folkgruppe Jack’s Angels, von denen ich die Lieder „My Fantasy’s Kingdom“ und „Over the Sea“ als Videos oben im Anhang zu „Ein Turm aus Asche“ eingefügt habe, kann man in darauf spezialisierten Läden (bzw. Online-Händlern) noch als LPs ergattern (als CDs gab es sie nie).

    „Restless“ (1967, darauf enthalten: „Over the Sea“) und „Believe in a World“ (1966) sind bestellt, und „Our Fantasy’s Kingdom“ (1967, darauf enthalten: „My Fantasy’s Kingdom“) habe ich kürzlich erhalten und darauf weitere Lieder wiederentdeckt, die ich von Alfred Komareks Ö3-Radiosendung „Melodie exclusiv“ noch kannte, aber nicht mehr mit Jack’s Angels in Verbindung gebracht hatte.

    Hier ein paar der Lieder aus „Our Fantasy’s Kingdom“, von denen es auf YouTube Videos gibt:

    It Takes So Long (Jordon, arr. Jack Grunsky):

    The Early Riser (Jack Grunsky):

    Good Night Sweet Dream (Jack Grunsky):

    The Last Thing on My Mind (Tom Paxton, arr. Jack Grunsky, mit einer zusätzlichen Strophe, die es im Original und in anderen Coverversionen – außer jener von Judy Collins – nicht gibt):

    Fare Thee Well (Gude, arr. Grunsky, Fotos im Video aus Gibraltar):

    Settle Down (Settle, arr. Grunsky, Fotos im Video aus Honfleur in der Normandie):

    Hier zum Vergleich noch Tom Paxtons Originalfassung von „The Last Thing on My Mind“ (1964)…

    It’s a lesson too late for the learning
    Made of sand, made of sand.
    In the wink of an eye my soul is turnin‘
    In your hand, in your hand.

    Are you going away with no word of farewell
    Will there be not a trace left behind?
    Well, I could’ve loved you better, didn’t mean to be unkind
    You know that was the last thing on my mind.

    You’ve got reasons a plenty for goin‘
    This I know, this I know
    For the weeds have been steadily growin‘
    Please don’t go, please don’t go.

    Are you going away with no word of farewell
    Will there be not a trace left behind?
    Well, I could’ve loved you better, didn’t mean to be unkind
    You know that was the last thing on my mind.

    As I lie in my bed in the mornin‘
    Without you, without you.
    Each song in my breast dies a bornin‘
    Without you, without you.

    Are you going away with no word of farewell
    Will there be not a trace left behind?
    Well, I could’ve loved you better, didn’t mean to be unkind
    You know that was the last thing on my mind
    That was the last thing on my mind.

    …sowie die Version von Judy Collins, in der sowohl dieselbe Zusatzstrophe wie in jener von Jack’s Angels enthalten ist („as we walk on my thoughts keep a-tumblin‘, round and round / Underneath our feet the subway rumblin‘“) als auch die letzte von Tom Paxton, die bei Jack’s Angels fehlt:

    …und eine der anderen Coverversionen, hier von Peter, Paul & Mary:

    P.S.: Auf der B-Seite der Single „Jack’s Angels“ gibt es auch eine deutsche Version von „Over the Sea“ mit dem Titel „Weit übers Meer“, hier leider in schlechter Tonqualität:

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