Eine Science-Fiction-Geschichte von Deep Roots alias Lucifex.
Zuvor erschienen: Teil 1 und das Glossar
Kapitel 3) Schlangenaugen
Fünf Tage nach dem Start vom Mars erreichte die Ace of Swords das knapp zwanzig Lichtjahre entfernte Sonnensystem von Delta Pavonis und ging in den Sublichtwarp über. Durch die Eigentümlichkeiten des Überlicht-Warpfluges war es notwendig, dies bereits weit von den inneren Planeten entfernt und oberhalb der Ebene der Ekliptik zu tun, denn im Überlichtflug war es nicht möglich, aus der Warp-Blase hinauszusehen, und da unvorhersehbare geringe örtliche Variationen der Raumzeitstruktur entlang der Flugroute entsprechende Richtungs- und Geschwindigkeitsabweichungen bewirken konnten, ließ sich die Position bei Ende des Warpfluges nur sehr ungefähr bestimmen. Wenn der solcherart verzerrte Kurs davor zufällig ausreichend nahe an einem Planeten oder Planetoiden vorbeigeführt hatte, konnte die Abweichung sogar sehr groß werden und unerfreuliche Überraschungen mit sich bringen. Ronald Brugger hatte zwar unterwegs in Tagesabständen Beobachtungshalte auf Unterlichtgeschwindigkeit zur Kurskorrektur eingelegt, aber diese Vorsichtsmaßnahme war dennoch notwendig. Nach einer letzten Positionsbestimmung berechnete das Schiff den Endanflugkurs zum gewünschten Zielplaneten und flog mit ständig sinkender Sublichtwarpgeschwindigkeit dorthin.
Pavonia war der vierte Planet des G8-Sterns Delta Pavonis, einer Sonne, die sich bereits im Ansatz der Entwicklung zum Roten Riesen befand. Der dritte Planet war aufgrund dessen bereits eine ausgedörrte, tote Welt, aber Pavonia hatte dies ein für Leben ausreichend warmes Klima beschert. Allerdings hatte der Planet bei seiner Entstehung einen deutlich geringeren Masseanteil an Wasser bekommen als die Erde, mit der Folge, daß seine Oberfläche fast zur Hälfte vom Land bestimmt wurde und es nur eine Anzahl seichter, voneinander getrennter Meeresbecken gab. Was andernfalls Ozeanböden gewesen wären, waren hier weite, von riesigen Flußsystemen durchzogene Tiefländer.
Es war diese Welt gewesen, wo irdische Raumexpeditionen erstmals Nachkommen von Menschenpopulationen vorgefunden hatten, die von den Lwaong auf Welten außerhalb der Erde verpflanzt worden waren. In den Jahrtausenden seither hatten diese sich an die verschiedenen Lebensräume ihrer neuen Welt angepaßt und sich zu vielen verschiedenen Völkern entwickelt, die zur Zeit ihrer Entdeckung auf primitivem bis vorindustriellem Kulturniveau gelebt hatten. Da zu dieser Zeit die Solare Föderation noch nicht existiert hatte, war man sich uneinig gewesen, welcher zukünftige politische Status dieser Völker anzustreben sei. Dies hatte eine Bewegung neo-zionistischer Juden ausgenützt, um in einem unbewohnten, semiariden Gebiet Pavonias am Unterlauf des Heyong, eines Salzwasserstromes, in das tiefstgelegene Meer des Planeten einen neuen Judenstaat zu gründen, nachdem Israel Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts untergegangen war. Dieser neue Staat Astroel hatte sogleich eine Anzahl von Projekten anderer irdischer Gruppen gefördert, die auf Pavonia Stadtstaaten errichteten, welche sich mit einzelnen Eingeborenenvölkern nach dem Prinzip zusammentaten: wir bringen euch moderne Errungenschaften und vertreten euch gegenüber den Außenweltlern, und ihr tretet diese Souveränität an uns ab, bei weitgehender innerer Autonomie für euch. In der Praxis lief es unter diesem moralischen Deckmantel angeblicher Kolonialismusverhinderung auf die Schaffung neuer Offshore-Paradiese für Finanzgeschäfte, Steuerflucht und noch viel zwielichtigere Geschäfte hinaus und wurde von den irdischen Eliten aus den gleichen eigennützigen Gründen wie früher geduldet. Um unverfängliche Gründe für Reisen dorthin zu schaffen, wurden auch Handel und Tourismus gefördert, und auch wenn Astroel und die anderen pavonischen Regime keine Piratenakte in ihrem System duldeten, war es ein offenes Geheimnis, daß sie Piraten stillschweigend einen sicheren Hafen boten.
Hier konnten sie ihre Schiffe warten, Versorgungsgüter aufnehmen, Hehler für ihre Beute finden, Lösegeldverhandlungen führen, ihr Geld anlegen, sich amüsieren, medizinische Behandlung bekommen und sich vielleicht irgendwann zur Ruhe setzen. Pavonia hatte eine ideale Lage als solch ein modernes, interstellares Port Royal: nahe genug an den belebteren interstellaren Routen und an den bewohnten Welten, aber weit genug von Sol entfernt, um von der Solaren Föderation in Ruhe gelassen zu werden.
Auf dieser Welt wollte Brugger Informationen über neueste Entwicklungen in Sachen Piraterie einholen, und so steuerte er als erstes ein astroelisches Orbitalkontrollschiff an, um vor der Landung die Einklarierungsformalitäten zu erledigen. Als er dieses Wachschiff erreichte, zog es auf seiner niedrigen Umlaufbahn gerade über sein Heimatterritorium hinweg, wo Bauten und Straßen an einem noch wasserführenden Mündungsarm des Heyong erkennbar waren. Brugger dockte sein Schiff an einem ausgefahrenen Zugangsarm an und begab sich hinüber, um die Einreise- und Zollbehörde aufzusuchen.
Nachdem er die Formalitäten erledigt und einen Imbiß gegessen hatte, ging er wieder in Richtung der Ace of Swords. Als er dabei an einem großen Panoramafenster vorbeikam, sah er draußen einen weiteren Orion-II-Raumjäger heranschweben. Ganz nah war er bereits, kurz davor, vom Andockarm erfaßt zu werden. Brugger wußte sofort, um welches Schiff es sich handelte, als er an der Seite des Vorderrumpfes die beiden roten Würfel mit den weißen Augen erkannte, die beide mit der Eins nach oben lagen. Es war die Snake Eyes, Elonard Sampsons Maschine.
Da er keinen Wert auf eine Begegnung mit Sampson und seinen Männern legte, ging er sofort an Bord, aktivierte Acey und legte vom Kontrollschiff ab. Es war ohnehin bereits der erste Planetenumlauf seit seiner Ankunft bald vollendet, sodaß es an der Zeit war, hinunterzugehen, wenn er in Saltport landen wollte. Sein Schiff ließ er gesichert im Orbit zurück und nahm stattdessen den kleinen roten Raumgleiter, den er im umgebauten Bombenschacht an der Rumpfunterseite mitführte. Er klinkte aus, manövrierte nach unten aus dem Schacht und leitete die Abstiegsbremsung ein. Bis zum Atmosphäreneintritt war die Geschwindigkeit bereits so weit verringert, daß die großzügig bemessenen Sichtscheiben die Reibungshitze problemlos vertrugen. Eine gute Viertelstunde später zog er über die Gegend hinweg, die er aus dem Orbit gesehen hatte, sah die Türme und Gewächshäuser und das karge Grün am Boden und machte eine Dreiviertelwendung nach Südwesten, bis die Raumhafengebäude von Saltport vor ihm lagen.
Diese waren im Mündungsdelta des Heyong errichtet worden, der aus dem höher gelegenen, größten Meer Pavonias weiter im Norden abfloß, um sich in das ebenfalls große, sehr salzige Dolung-Meer zu ergießen. Jetzt am Höhepunkt der Trockenzeit führte er nur noch wenig Wasser und auf dieser Seite des Deltas gar keines mehr, aber an den mächtigen Salzablagerungen, die teils auch vom Wind verfrachtet worden waren, war zu erkennen, wie stark er bei Hochwasser anschwellen konnte. An dem langgestreckten flachen Raumhafentrakt legten bei normalerem Wasserstand auch die Kreuzfahrtschiffe sowie die Fangboote der Eingeborenen an, die ihre Fänge an extremophilem Getier aus dem nahen Meer anlieferten. Den Gebäuden machte weder das Salz noch das Wasser etwas aus; sie waren dafür gebaut. An ihrer Oberseite öffneten sich die Landeschächte für die Raumfähren, die Passagiere und Fracht zwischen dem Planeten und seinem innersten Mond Eleazar beförderten, auf dem sich die für Personen und mittelgroße Raumschiffe dimensionierten Wurmlochportale der Verbindungen nach Epsilon Indi und Beta Hydri befanden. Auch die suborbitalen Raumschiffe, die die Routen zu anderen Teilen des Planeten bedienten, starteten und landeten in diesen Schächten.
Der rote Raumgleiter wich einem Lastenschweber aus, kurvte auf den Raumhafenturm zu und landete an dessen Fuß auf dem Salz. Brugger stieg aus und betrachtete den Himmel, der von einem Staubsturm über der südöstlich gelegenen Landmasse rot verfärbt worden war. Er nahm die Szenerie eine Weile in sich auf und genoß es, wieder unter freiem Himmel zu stehen und den Wind zu spüren. Dann wandte er sich um und marschierte über das knirschende Salz auf den nächstgelegenen öffentlichen Eingang zu, den ihm die Navifunktion seiner Poctronic anzeigte. Drinnen strebte er den Aufzügen des Turmes zu und fuhr zum großen Panoramarestaurant im fünfzigsten Stockwerk hinauf. Dieses Lokal, das Fifty Up, war eine gastronomische Berühmtheit von Pavonia und deshalb auch jetzt in der schwachen Saison einigermaßen gut besucht. Teils lag dies auch an den Forscherteams, die nach Pavonia kamen, seit auf der toten inneren Nachbarwelt Anzeichen für eine seit Jahrmillionen verschwundene Zivilisation entdeckt worden waren und man nun wissen wollte, ob diese Wesen vor ihrem Untergang auch nach Pavonia gekommen waren.
Brugger ließ sich einen kleinen Tisch in der Nordwestecke der hohen Fensterfront anweisen und eine Speisekarte geben. Er bestellte ein Safranrisotto mit frittierten Dolung-Salzgarnelen, Artischocken und gekochten Muscheln aus dem Heyong und studierte auf seiner Poctronic pavonische Nachrichtenportale und Online-Foren, während er wartete. Als das Essen kam, schaltete er das Gerät aus und widmete sich mit Behagen seiner Mahlzeit. Zwischen den Bissen ließ er seine Blicke über die Landschaft schweifen, sah sich die anderen Gäste an oder betrachtete eine der großen Bildschirmflächen, mit denen die durch das Rauminnere führenden Aufzugs- und Versorgungsschächte verkleidet waren und auf denen wechselnde Bilder verschiedener Sehenswürdigkeiten des Planeten gezeigt wurden. Gerade erschien eine Ansicht des großen Drachenreliefs von Iniye, das aus einer Felswand auf einer Insel weiter oben im Heyong-Strom herausgearbeitet worden war. Dieses hatte die ersten irdischen Forscher sehr in Erstaunen versetzt, weil gewisse Ähnlichkeiten zwischen seinen drei Jahrtausende alten Bildern und anderen Drachendarstellungen überall auf dem Planeten einerseits und Darstellungen von Drachen im ostasiatischen Kulturraum der Erde trotz aller stilistischen Unterschiede unverkennbar waren. Zwar waren die altpavonischen Kunstwerke von naturalistischerem Stil und gaben die Körperverdickung im Bereich der Hintergliedmaßen und die Proportionen der Beine und Arme der realen Vorbilder – der Lwaong, wie sich später herausstellte – realistischer wieder als die asiatischen Darstellungen mit ihren allzu schlangenhaft stilisierten Leibern und kurzen Beinen. Auffallende Übereinstimmungen gab es jedoch bei den Köpfen mit den Hörnern, den Ohren, dem Bart, den Fortsätzen an der Nase und dem differenzierten Gebiß, das eher dem eines Säugetiers ähnelte als dem eines Reptils. Als man dann von den Arrinyi Informationen über die Lwaong erhalten hatte, waren die Zusammenhänge klar geworden, auch zu Elementen der ostasiatischen Folklore, wie dem chinesischen Sprichwort, daß der Drache neun Söhne habe und jeder verschieden sei. Dieses entstammte einer fernen Erinnerung an die Untergliederung der Lwaong in zehn verschiedene biologische Formen, von denen nur die oberste Kaste Nachkommen zeugte: ein System, das Parallelen zu den Nacktmullen und den staatenbildenden Insekten auf der Erde hatte.
Mittlerweile hatte Brugger seine Mahlzeit beendet und Kaffee bestellt. Da sah er am fernen Ende des Restaurants Elonard Sampson und seine drei Besatzungsmitglieder aus dem Aufzugsschacht treten und sich umsehen. Seine Stimmung verdüsterte sich ein wenig, denn er und Sampson hatten während der Kriegszeit kein gutes Verhältnis zueinander gehabt, und auch danach war es nicht besser geworden. Sampson war fraglos ein fähiger Pilot, jedoch undiszipliniert und impulsiv und mehr auf die Pflege seines mojo bedacht als auf Kameradschaft. In die Staffel der Aces hatte er sich nicht wirklich eingefügt und auch bei der Schiffsbenennung mit Ace-Namen nicht mitgemacht, sondern seine Orion stattdessen Snake Eyes genannt. Nur wenige Männer waren mit ihm ausgekommen und hatten mit ihm fliegen wollen, und drei davon begleiteten ihn jetzt. Später war er aus der Staffel ausgegliedert und mit seinem Schiff für Sondermissionen eingesetzt worden. Gegenüber vorgesetzten Offizieren hatte er ein aufsässiges, oft an Insubordination grenzendes Verhalten gezeigt, und all diese Eigenschaften waren wohl auch der Grund gewesen, warum die Raumflotte ihn nach dem Krieg trotz ihrer Politik der ethnisch-rassischen Quoten nicht in ihrem Dienst behalten hatte. Daß man ihm trotz seines problematischen Wesens eine Piratenjagdlizenz erteilt und seinen Raumjäger überlassen hatte, ging wohl darauf zurück, daß man ihn los sein und auf eine Aufgabe ansetzen wollte, bei der er sein Potential nutzbringend einsetzen konnte.
Die vier waren nun auf Brugger aufmerksam geworden und kamen auf ihn zu. Sampson setzte sich ohne zu fragen zu ihm an den Tisch, und seine Begleiter nahmen sich freie Stühle von Nebentischen und taten es ihm gleich.
„Hallo Ron“, begann er und sah Brugger unverwandt in die Augen. „Immer noch der alte Weiße Ritter?“
Immer noch das alte ‚Schlangenaugen‘-Spielchen, dachte Brugger und hielt dem Blick stand. Laut sagte er: „Immer noch, Elonard. Und du hast deine Mühle immer noch nicht in Schießt-kleine-Fische-im-Faß umbenannt?“ Das war eine Anspielung auf Sampsons Vorliebe, Jagd auf relativ unbedeutende Piraten mit kleineren, schwach bewaffneten Schiffen zu machen, die im Vergleich zu den größeren, besser ausgestatteten Banden kleine Fische waren.
„Jemand muß ja auch das machen“, erwiderte Sampson. „Kleinvieh macht auch Mist, und es hat nicht so große Zähne. Das Großwild überlasse ich den Heldenspielern. Ich möcht’s ja noch erleben, daß ich genug Geld auf meinen Konten habe und mich dann auf irgendeinem gemütlichen Planeten zur Ruhe setzen kann.“
Brugger musterte sein Gegenüber. Sampson war ein stattlicher Mann mit mäßig dunklem Teint und leicht negroiden Gesichtszügen, dem man aber auch einen kleinen asiatischen Abstammungsanteil ansah. Zu Sampsons Linker saß ein drahtiger Kerl von euro-asiatischem Aussehen, rechts von ihm einer mit Stirnglatze und Habichtsnase, der überwiegend europäischer Abstammung zu sein schien und ‚Hawk‘ Roehlke genannt wurde, und daneben ein rattengesichtiger dunkler Typ, der seine Gene aus dem gesamten Raum vom Vorderen Orient bis Ostasien zusammengeklaubt zu haben schien. Brugger wußte jedoch, daß seine Mutter von einem der Völker Pavonias stammte.
„Und, hast du schon wieder neues Kleinwild in Aussicht?“ fragte er dann. Das gegenseitige Fixieren ging weiter.
„Derzeit nicht, aber vor kurzem haben wir bei Epsilon Eridani einen abgeschossen. Und du, Großer Weißer Jäger?“
„Noch keinen Elefanten gesehen. Muß erst die Boys zum Kundschaften ausschicken.“
In diesem Moment kam eine Kellnerin herbei und machte Bruggers ungebetene Tischgenossen darauf aufmerksam, daß auf der Ostseite des Restaurants ein Tisch freigeworden sei. Die vier erhoben sich, wandten sich grußlos ab und folgten ihr.
* * *
Am nächsten Tag war Bruggers Suche nach einer neuen Mission von Erfolg gekrönt. Er hatte den Auftrag bekommen, eine Geiselübergabe gegen Lösegeld abzuwickeln. Solche Aufgaben wurden ebenfalls von Leuten wie ihm erledigt und waren auf ihre eigene Weise gefährlich. In diesem Fall hatte er eine reiche junge Dame namens Alcyone Poledouris auszulösen, die an Bord eines kleinen Expeditions-Kreuzfahrtschiffes namens Mira im System von Eta Cassiopeiae unterwegs gewesen war, wo dieses von einer Piratenbande gekapert worden war. Das Schiff, die überlebenden Besatzungsmitglieder und die anderen Passagiere waren von den Piraten an eine größere Bande weiterverkauft worden, die die Rückkaufsverhandlungen mit den Schiffseignern und die Lösegeldverhandlungen mit den Angehörigen der Geiseln in die Hand nehmen würde. Alcyone Poledouris behielten sie, weil sie besondere Wünsche hatten.
Ihr Schiff war nämlich ein bewaffnetes Kurierschiff vom Typ Hermes III, das im Krieg der Raumflotte gehört hatte und verlorengegangen war. Die Piraten waren auf irgendeine Weise darangekommen und hatten es wieder betriebsfähig gemacht. Da dieser Typ sehr spät im Krieg eingeführt worden war, gab es kaum andere Verlustexemplare als potentielle Ersatzteilquellen, und weil er immer noch zum moderneren Flottenbestand gehörte, waren die wichtigen Ersatzteile für den Warpantrieb und die Antriebsregelung, die die Piraten brauchten, nicht für den Zivilmarkt freigegeben. Alcyone Poledouris war jedoch die Erbin von Poledouris Astrotech, der Herstellerfirma der Hermes-Baureihe, und daher bestand der Deal der Piraten mit Alcyones Großvater (ihre Eltern lebten nicht mehr) darin, daß eine Lieferung solcher kompakter Hochwertteile nach einer genauen Wunschliste auf irgendeine Weise aus der Produktion abgezweigt, als Ausschuß deklariert oder sonstwie „aus der Buchhaltung verlorengehen“ und ihnen im Austausch gegen die Gefangene übergeben werden sollte. Die Transaktion sollte auf Maanenia stattfinden, dem innersten Planeten von Van Maanens Stern.
Brugger veranlaßte die Übersendung der Teilesätze in mehreren Selbstschwebebehältern von genau für die Unterbringung in seinem Raumgleiter spezifizierten Größen über die Wurmlochverbindungskette bis zu Pavonias Mond Eleazar. Dann startete er nach ein paar Besorgungen vom Planeten zu seinem Schiff hinauf, ließ dieses auf Eleazar mit Wasser für die Massekonverter auftanken und wartete bis zum Eintreffen der Sendung. Nachdem er diese übernommen und verstaut hatte, hob er von dem Mond ab, nahm Kurs auf Van Maanens Stern und beschleunigte in dieser Richtung aus Pavonias Orbitalraum weg. Acey berechnete die Flugdaten für den Transit, fuhr nach Erreichen des ausreichenden Abstands vom Planeten die Warpantriebsanlage hoch und steuerte in zunehmendem Tempo in den interstellaren Raum hinaus.
Sechs Tage später sah Brugger den weißen Zwergstern vor sich. Maanenia näherte sich gerade dem sonnenfernsten Bahnabschnitt. Als die Ace of Swords den Planeten, der gebunden rotierte und deshalb nur aufgrund der Libration einen auf die Dämmerungszone um den neunzigsten östlichen und westlichen Längengrad beschränkten Tag/Nacht-Wechsel kannte, von der Tagseite her anflog, zeigte das Ortungssystem ein Raumschiff im Orbit an, das aber zu klein war, um eine Hermes III zu sein. Bei weiterer Annäherung stellte sich heraus, daß es eine Raumyacht älterer Bauart war, deren Abwärmeabstrahlung so gering war, daß wohl alle Bordsysteme außer dem Ortungssystem und der Funkanlage abgeschaltet waren, was weiters bedeutete, daß sich niemand an Bord befand. Vom Kurierschiff der Piraten war nirgendwo etwas wahrzunehmen.
Das war seltsam. Waren die Piraten nur mit dieser Yacht gekommen, weil ihr eigentliches Schiff technische Probleme hatte, und hatten sich allesamt auf die Oberfläche begeben? Wie wollten sie dann verhindern, daß Brugger die Yacht zerstörte, sobald er nach der Geiselübernahme wieder in den Orbit aufstieg? Oder lauerte ihre Hermes irgendwoanders verborgen, oder hatten sie sich auf andere Weise abgesichert?
Brugger konnte es nicht wissen. Die Abmachung sah ein Treffen bei den Lwaong-Ruinen bei den Koordinaten 25° Nord und 92° Ost vor. Dort ging gerade die Sonne unter, und bis zu seinem Eintreffen würde es schon recht dunkel sein. Er sollte allein in seinem Raumgleiter kommen und sein Schiff in fünf Kilometern Entfernung vom Treffpunkt hinter einem Bergrücken schwebend zurücklassen. Einer der Piraten würde seinerseits in einem Flugwagen kommen und nur Alcyone Poledouris mitbringen. Zur Durchführung des Austauschs würden beide Maschinen auf einer Waldlichtung landen.
Das barg viele unkalkulierbare Möglichkeiten für eine Falle. Brugger hatte ein ganz schlechtes Bauchgefühl, als er über dem blauglitzernden Tagseitenozean den Abstieg aus dem Orbit einleitete. Aber es half nichts, da unten wartete höchstwahrscheinlich eine verängstigte Frau, die altersmäßig seine Tochter sein konnte, und hoffte auf Rettung.
Ihm kam ein Lied aus The Turn Of A Friendly Card in den Sinn, I Don’t Wanna Go Home:
Go back home, you damn fool
Surely you know you can’t win
You should never have come near this place
You should have stayed on the outside, looking in.
It’s too late to turn back
Nobody asked you to try
But they blinded you with diamonds
And all the money that money can buy.
And I’m so afraid of being on my own
But I don’t wanna go home.
Am Horizont vor ihm kamen bereits die Landmassen des östlichen Dämmerungsstreifens in Sicht, zwischen denen sich die Wasserarme wanden, über die der Wasserüberschuß vom höherliegenden, eisbedeckten Nachtseitenozean zum Tagseitenozean abfloß. Die Landflächen dazwischen waren großteils von dunklem Dschungel bedeckt.
You can’t win, you damn fool
You drank all the wine from the cup
And your painted lady’s gone now
And you’re way back on the downside, looking up.
You can’t catch the monkey on your back
Nobody asked you to try
But for every heart they held a spade
And you lost more than money can buy!
And I’m so afraid of being on my own
But I don’t wanna go home.
Er verscheuchte diese Gedanken, während er die Küstenlinie überflog. Bald darauf sah er tief unter sich die Ruinen des Lwaong-Stützpunktes, und das Bild der Telekamera zeigte einen blauen Flugwagen, der auf einem ebenen Gebäudeteil parkte. Über dem bezeichneten Bergrücken kurvte Brugger ein, ließ das Schiff unter dessen Kammlinie sinken und brachte es in den Schwebezustand. Acey war schon mit allen Notfallanweisungen versehen, und so begab er sich durch den Wartungstunnel in der Rumpfunterseite zum ehemaligen Abwurfwaffenschacht und stieg in den bereits beladenen und aktivierten Gleiter. Dann ließ er sich in die hereinbrechende Nacht hinausfallen und flog in Begleitung einer kleinen Sensor- und Funkrelaisdrohne über den Bergkamm nach Süden. Im Osten näherte der Mond sich dem Horizont und tauchte in den Schatten des Planeten ein; nur noch sein oberstes Viertel war von der Sonne beschienen. So groß, wie er wegen seiner Nähe erschien, warf er aber immer noch einiges Licht auf die Landschaft.
Bei den Ruinen hatte der blaue Gleiter seinerseits inzwischen abgehoben und kam auf ihn zu. Auf der vereinbarten Funkfrequenz meldete sich eine Männerstimme:
„Pünktlich, Weltraumheld, das muß man dir lassen. Hast du alles dabei?“
„Ja.“ Brugger kurvte ein, als er den anderen passiert hatte, und hielt nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau. „Und meine Passagierin ist bei dir in der Maschine?“
Nach einem kurzen Moment kam eine Frauenstimme über Funk, der man trotz allen Bemühens um Festigkeit ein geringes Zittern anmerkte: „Ja, ich bin hier… Alcyone Poledouris. Danke, daß Sie gekommen sind.“ Sie klang angenehm, und Brugger fühlte sich in der Richtigkeit seiner Entscheidung bestätigt, trotz seines ‚Nackenhärchengefühls‘ herunterzukommen. Ihre Stimme zu hören, hatte eine persönliche Verbindung zwischen ihm und ihr hergestellt. Er würde sie keinesfalls im Stich lassen. Und jetzt spürte er auch bereits die anregende Anspannung einer potentiell bevorstehenden Auseinandersetzung, die es zu bestehen galt. Er war hellwach. Nicht, daß er ein Adrenalinjunkie war, aber…
Nun meldete sich wieder der Pirat. „Ich schlage vor, wir landen dort auf der breiten Kiesbank an der Flußbiegung – wo oberhalb davon dieser Baum übers Wasser hängt.“
Netter Versuch, dachte Brugger. „Und woher weiß ich, daß ihr dort keine Leute postiert habt?“ gab er zurück. „Ich bin als Zweiter hergekommen, habe also keine Gelegenheit für die Vorbereitung eines Hinterhalts gehabt, und daher bestimme ich, wo wir die Übergabe machen. Dort drüben, auf der Lichtung mit dem Felsbuckel dahinter – da landen wir.“ Das war auf der anderen Seite des Flusses, mit einem halben Kilometer Wald dazwischen. Falls die Kerle tatsächlich bei der Kiesbank versteckt waren, würde sie das lange genug aufhalten. Und die Sensordrohne würde sie registrieren, wenn sie Fluggeschirre benutzten.
„In Ordnung“, stimmte der Fremde nach kurzem Überlegen zu.
Die beiden Gleiter strebten dieser Lichtung zu und gingen an deren entgegengesetzten Rändern im Unterwuchs nieder. Brugger stieg aus und ging auf die andere Seite der Maschine, um dort die Tür zu öffnen. Dann aktivierte er den ersten Schwebebehälter, der auf dem rechten Sitz lag, und zog ihn ins Freie. Dasselbe tat er dann mit einem kleineren Exemplar, das sich im Fußraum befand.
Währenddessen hatte der andere Kerl, ein dunkelhaariger Europider, das Kanzeldach seiner Maschine nach vorn aufgleiten lassen und seiner Geisel befohlen, auszusteigen. Sie trug nur Dessous, während der Pirat eine dicke, hochgeschlossene Jacke anhatte, und als sie ausstieg, wurde erkennbar, daß sie auch barfüßig war. Währenddessen kletterte der Mann auf seiner Seite aus dem Gleiter und stellte sich dahinter auf. „Bleib da stehen“, sagte er zu seiner Gefangenen. Sie hielt inne und lehnte sich an die Maschine. Ihr Gesicht drückte Anspannung, Besorgnis und vorsichtige Hoffnung aus. Brugger erkannte sie als die hübsche, schlanke Brünette mit der üppigen Lockenmähne von den Bildern und Videos, die man ihm übermittelt hatte. Er sah auch, daß die Frau im kalten Nachtwind bereits bibberte. Das war womöglich ein Teil der Taktik des anderen und sollte ihn dazu bringen, aus Mitgefühl für sie bei der Abwicklung übereilt vorzugehen und dabei Fehler zu machen oder etwas zu übersehen. Sie tat ihm wirklich leid, denn auch er fröstelte ein bißchen in der unerwarteten Kälte, aber er drängte beides in den Hintergrund – das Kältegefühl und sein Mitleid – und zwang sich zu ruhigem Handeln.
Der Pirat rief nun über die Lichtung: „Los, laß jetzt den ersten Behälter zu mir herüberschweben. Den kleineren, der kommt in den Fußraum. Laß ihn auf dem linken Sitz landen, damit ich den Inhalt überprüfen kann.“ Mit einem Kontrollkästchen steuerte Brugger den Behälter über die Lichtung zu dem anderen Gleiter hinüber. Nachdem er auf dem Gleitersitz gelandet war, ging der Pirat vor den Bug seiner Maschine und sagte zu seiner Geisel: „Komm jetzt wieder zu mir her, Alcyone. Ich muß die Teile auf Echtheit überprüfen, und dabei kann ich nicht ständig auf dich achtgeben. Ich muß sichergehen, daß du nicht plötzlich zu ihm hinüberläufst, ehe ich die ganze Lieferung habe, und dazu werde ich dich fesseln.“
Sie sah angstvoll drein und öffnete den Mund, um zu protestieren, fügte sich dann aber. Zögernd ging sie zu ihm hin, drehte sich um und kreuzte die Hände hinter dem Rücken. Während der Kerl ihr einen Riemen um die Handgelenke schlang, schien sie mit einer Entscheidung zu ringen, als ob sie jeden Moment losrennen oder Brugger etwas zurufen wollte. „Bitte“, rief sie plötzlich und versuchte sich loszureißen, „Sie… uhmgh! UHHMF!“ Der Pirat, der das offenbar hatte kommen sehen, hatte ihr ein Taschentuch in den Mund gestopft und drückte es der sich nun heftig sträubenden Frau hinein. Brugger griff nach seiner Waffe, aber der andere rief ihm zu: „Steckenlassen! Sonst breche ich ihr den Hals!“ Er hielt sie mit einem Arm vor sich und bog ihr mit der anderen Hand, mit der er ihr das Taschentuch hineindrückte, den Kopf nach hinten und zur Seite. „Außerdem habe ich selber eine Waffe. Ich regle jetzt das mit ihr, und dann regeln wir zwei unser Geschäft, und dann kannst du sie haben.“ Brugger glaubte das zwar nicht mehr, denn das Verhalten der Frau deutete darauf hin, daß etwas faul war und sie das wußte oder zumindest ahnte. Weshalb sollte sie sonst so etwas versuchen, wenn sie damit rechnen konnte, gleich freigelassen zu werden? Aber er konnte momentan nichts unternehmen, denn der Kerl war hinter ihr zu gut gedeckt. In höchster Anspannung beobachtete er ihn und versuchte auch, Geräusche oder Bewegungen im Wald zu entdecken.
Der Bandit hatte die Knebelung inzwischen mit einem schwarzen Tuch komplettiert, das er der Frau zwischen die Zähne gezwängt und in ihrem Nacken verknotet hatte. Anschließend zwang er sie auf die Knie, stieß sie grob in Bauchlage und zerrte ihre Beine so hinter den Bug des Gleiters, daß er dahinter gedeckt war und trotzdem Brugger im Auge behalten konnte, während er auch die Füße der Geisel fesselte. Als er damit fertig war, ging er wieder zur anderen Seite des Cockpits, nahm ein Prüfgerät zur Hand und öffnete den Behälter. Jedes einzelne Stück darin testete er genau, wobei er weiterhin wachsam blieb und Brugger mit seitlich vom Körper abgespreizten Händen dastehen ließ, um Überraschungen vorzubeugen. Zuletzt schloß er den Behälter wieder, bugsierte ihn in den rechten Fußraum und schaltete sein Schwebesystem ab.
Als diese Prozedur mit allen Behältern durchgeführt worden war, auch mit dem dritten, der sich im Gepäckraum des Raumgleiters befunden hatte, und alle im blauen Gleiter verstaut waren, meinte Brugger: „So, jetzt ist es Zeit, daß du sie losmachst, wenigstens an den Füßen, damit sie zu mir kommen kann. Oder steig‘ einfach ein und flieg‘ weg. Mein Teil des Handels ist erfüllt.“
„Das ist er“, meinte der andere, beugte sich ins Cockpit seines Gleiters und betätigte mehrere Schalter.
In diesem Moment stieg von von den Ruinen eine Signalrakete laut zischend auf und explodierte hoch in der Luft mit einem satten Knall. Diese kurze Ablenkung genügte dem Fremden, um eine im Cockpit abgelegte Pistole zu nehmen und einen Laserschuß auf Brugger abzufeuern – jedoch hatte er zu hastig gezielt und knapp danebengeschossen. Brugger hörte hinter sich den typischen gedämpften Bums eines Blastertreffers in Holz, der weniger organisches Material verdampfte als einer in Fleisch. Im nächsten Moment hatte er schon seinen eigenen Blaster gezogen und auf seinen Gegner abgefeuert – und ebenfalls verfehlt. Während der Pirat sich noch hinter seinem Gleiter in Deckung duckte und zum nächsten Schuß anlegte, warf Brugger sich hin und schoß unter dem Gleiter hindurch auf sein Bein. Diesmal traf er – mit einem scharfen Krachen stach eine Plasmaflamme aus verdampftem Gewebe aus dem Schußkanal am Schienbein. Der Bandit kippte mit einem Aufschrei zur Seite und wurde so für Brugger zum Großteil unter dem Gleiter hindurch sichtbar. Ehe er noch etwas unternehmen konnte, hatte er schon zwei weitere Schüsse in Brust und Kopf erhalten und sein Leben ausgehaucht.
Brugger rappelte sich auf, achtete zunächst auf Anzeichen weiterer Gegner und steckte dann die Waffe weg, um zu der Frau hinzueilen. Noch während er sie von ihren Fesseln befreite, wurde von den Ruinen her ein leises Summen hörbar, das lauter wurde. Als die beiden in den Raumgleiter stiegen, erhob sich hinter dem Kuppeltrakt der Ruinen das Kurierschiff der Piraten – von der Stelle, wo aus der Luft nur ein eingestürzter Flachdachabschnitt zu sehen gewesen war. Offenbar befand sich darunter ein tiefer in den Untergrund führender Schacht, in dem das Schiff sich verborgen gehalten hatte.
Dieses drehte sich nun nach dem Passieren der Dachöffnung wieder in waagrechte Rumpflage und schwenkte zu der Lichtung herum. Brugger hob den Gleiter eilig vom Boden ab und wandte sich nach Norden. Keine Sekunde zu früh, denn in diesem Moment flammte der Stamm des Baumes zwischen ihnen und dem Schiff auf und zerplatzte unter dessen erstem Laserschuß mit einem Donnerschlag. Der nächste Blitz fuhr durch dichtes Ast- und Blattwerk und streifte, stark gedämpft und gestreut, das Heck des Gleiters. Die Schadensüberwachung ließ kurz einen Warnton mittlerer Stufe ertönen und zeigte die betroffene Stelle auf dem zugehörigen Bildschirm in Rot, das bald wieder auf Braun zurückging. Brugger steuerte den Gleiter unterhalb der Baumkronenhöhe durch den Wald, drückte ihn wenn nötig durch dichte Wedel baumfarnähnlicher Gewächse und hielt Ausschau nach dem feindlichen Schiff. Kurz konnte er die langgestreckte Eiform mit den drei großen Antriebswülsten um das dicke Heck und den drei kleineren hinter dem Bug durch einen dünneren Bereich des Baumkronendickichts erkennen; das Mondlicht glänzte auf seiner Rumpfoberseite. Schon blitzte ein weiterer Laserschuß auf und verwandelte einen dicken Ast über ihnen mit prasselndem Krachen in einen Funkenregen. Für die Piraten war die Lage ähnlich verzweifelt wie momentan für Brugger und seine Begleiterin, denn sie mußten verhindern, daß die beiden den schweren Raumjäger erreichten, gegen den sie praktisch chancenlos sein würden.
Nun waren sie offenbar auf Bruggers Sensordrohne aufmerksam geworden, denn ein grüner Laserblitz zuckte über den dunklen Himmel und verwandelte sie in einen glühenden Meteor, der funkensprühend in den Wald stürzte. Doch diese Unterbrechung der Funkverbindung kam längst zu spät, denn Brugger hatte Acey bereits alarmiert. Als dunkler Schatten kam die Ace of Swords über den nur noch gut drei Kilometer entfernten Bergrücken im Norden und nahm das Kurierschiff mit ihren zehn Flügellasern und den Kinetics unter Beschuß, worauf dieses schleunigst abdrehte und der Deckung eines tief in den Wald eingeschnittenen Flußlaufs zustrebte. Solange es noch in Sichtlinie war, feuerte es weiter mit seinem einzelnen, auf einem drehbaren Rumpfring gelagerten Laserturm zurück, und so lange mußte Brugger mit seinem Gleiter noch zwischen den Bäumen in Deckung bleiben, ehe er zum Eindocken im Schiff aufsteigen konnte. Für diese kurze Zeit klammerten die Piraten sich wohl noch an eine verzweifelte Hoffnung auf Entkommen, denn solange der Gleiter nicht wieder aufgenommen war, war ihr Gegner in seiner Geschwindigkeit beschränkt.
Schließlich gab Acey Entwarnung, und Brugger zog aus dem Wald hoch und übergab ihr die Endanflugsteuerung für das Rendezvousmanöver. Sobald der Gleiter eingeklinkt und die Schachtluke geschlossen war, stiegen seine Insassen aus und liefen eilig durch den Zugangstunnel nach vorn, während das Schiff auf Bruggers mündliche Anweisung hin bereits auf Maximalschub ging und hochzog. Am achteren Abschlußschott des Besatzungsteils hasteten sie die Steigleiter hinauf und kamen zwischen den drei rückwärtigen Sitzen im Kontrollraum heraus, wo schon die beiden Frontscheiben durch die hochgefahrenen Zusatzbildschirme abgedeckt waren, die immer verwendet wurden, wenn Gefahr von Strahlenbelastung im Innenraum bestand. Poledouris war erstaunt darüber, daß niemand an Bord war. Brugger klärte sie kurz darüber auf, wer „Acey“ war, nahm im rechten Vordersitz Platz und wies sie an, sich im linken anzuschnallen. Anschließend fuhr er auch die beiden Seitensichtschirme hoch, damit die Insassen nicht durch Reflexe gegnerischen Laserlichts auf den Flügelgondeln geblendet werden konnten, und hielt dann auf dem Ortungsschirm Ausschau nach dem Feind.
Dieser war bereits etwa sechs Kilometer voraus, und sein Vorsprung war nur deshalb nicht noch größer, weil er den Windungen des Flußtals gefolgt war, um dessen Deckung zu nutzen. Aus seinem stetig steigenden Schiff konnte Brugger ihn nun schon immer wieder kurz wahrnehmen, wenn er um einsehbare Flußbiegungen wischte. Die allgemeine Flugrichtung der Piraten ging nach Südost, und da der Verlauf des Flusses in den kartographischen Datenbanken verzeichnet war, folgte die Ace of Swords ihnen auf direkterem Weg. Die beiden Teilchenstrahlkanonen, die den Großteil ihrer Rumpflänge durchzogen und ihre Mündungen aus dem Bug streckten, waren in der Atmosphäre nicht einsetzbar, und die Kinetics würden auf diese Distanz entweder durch Luftreibung verglühen, ehe sie das Ziel erreichten, oder bei ausreichender Verringerung ihrer Geschwindigkeit eine zu lange Flugzeit haben, um ein immer nur kurz sichtbares, bewegliches Ziel zu treffen. Mit den Lasern blitzte Brugger ihnen jedoch in diesen kurzen Momenten immer wieder eine Salve hinterher. Er konnte sich bereits denken, was sie vorhatten.
„Wie heißen Sie eigentlich?“ fragte ihn seine Begleiterin.
„Ronald Brugger. Äh, Miss Poledouris – ich weiß leider die korrekte griechische Anrede nicht…“
„Bitte nennen Sie mich Alcyone. Und nochmals vielen Dank dafür, daß Sie mich da herausgeholt haben. Was wollten Sie mich eben fragen?“
„Gern geschehen. Für dich bin ich Ron. Sind außer den Piraten noch andere Leute in ihrem Schiff?“
„Niemand mehr. Da war zuletzt nur noch ich. Wirst du sie abschießen?“
„Ja. Dazu muß ich aber erst näher an sie herankommen. Im Weltraum wären sie auf diese Distanz schon erledigt, weil ich da neben den Lasern auch die Teilchenstrahler und die Kinetic-Kanonen einsetzen könnte. Aber hier in der Atmosphäre kann ich nur die Laser verwenden, und da wird deren gemeinsame Fokussierung auf einen möglichst kleinen Punkt am Ziel erschwert, weil sich die Vibrationen durch Luftunruhen auf die Lasermontagen übertragen. Außerdem streut die Luft das Laserlicht. Aber dasselbe Problem haben auch die anderen, nur noch mehr, weil ihr außen montierter Laserturm noch stärker vibrieren wird und nur einen Bruchteil der Gesamtleistung meiner zehn Laser hat.“
„Und können wir sie einholen?“
„Nicht leicht, aber früher oder später wahrscheinlich doch. Ihr Schiff hat eine günstigere Aerodynamik, aber meines ein etwas besseres Schubverhältnis. Siehst du da weit vorne das ansteigende Gelände mit den runden Bergkuppen links dahinter?“
Alcyone schaute hinaus. Von links schien der Mond, der aus dieser Höhe noch immer zu sehen war, in flachem Winkel über die Landschaft und ließ alle Erhebungen plastisch hervortreten. Sie sah die bezeichneten Bergkuppen, hinter denen es in der Ferne ständig wetterleuchtete. Dort regnete bereits ein Teil der über der heißen Tagseite aufgestiegenen Luftfeuchtigkeit an einer hohen Vulkankette in heftigen Gewittern ab. „Ja“, sagte sie.
„Davor verläuft ein tiefer, gewundener Fjord, durch den überschüssige Wassermassen aus dem Nachtozean in den Tagozean rauschen, der ein tieferes Niveau hat, weil dort mehr Wasser verdunstet, als hineinregnet oder durch Flüsse hineinfließt. Von hier ist er noch nicht zu erkennen, weil er so tief eingeschnitten ist. Der durchzieht diesen ganzen Landstreifen hier, und weiter im Südwesten münden noch Nebenarme ein. Außerdem stoßen etliche Flußschluchten wie diese hier von beiden Seiten hinzu. Ich vermute, daß sie uns in diesem unübersichtlichen Gewirr abhängen wollen, um dann weit genug davonzuziehen, daß sie unbeobachtet in den Weltraum aufsteigen und dann in den Warp gehen können, ehe wir sie einholen.“
„Aber du kannst doch oberhalb des Fjordeinschnitts fliegen, sodaß du den Windungen nicht folgen mußt und ihnen den Weg abschneiden kannst, oder?“
„Ja, das könnte ich. Aber dann müßte ich sie aus recht großer Überhöhung beschießen, und die Flügellaser haben nur einen begrenzten Schwenkwinkel, sodaß ich dann immer kurz in den Stechflug gehen müßte. Außerdem würde ich sie dann immer wieder aus der Ortung verlieren und nicht sehen, ob sie nicht in irgendeine Nebenschlucht abgebogen sind oder sich mit dem Schiff in einer Höhle oder unter einem Felsüberhang versteckt haben. Die unteren Gesteinsschichten sind nämlich aus Kalk, der von Ergußgesteinen überlagert wurde, und da gibt es etliche Höhleneingänge, wo sie das tun könnten. Aber ich kann etwas machen, womit sie nicht gerechnet haben.“
Ron startete eine weitere Sensordrohne und klinkte dann die beiden kleinen Robotjäger aus, die unter den Außenflügeln hingen und inzwischen fertig programmiert waren. „Die Sonde wird über dem allgemeinen Gelände auf direkterer Route vorausfliegen und einen eventuellen Ausbruch des Gegners nach oben registrieren“, erläuterte er. „Einer der Robotjäger wird sie begleiten und Gelegenheiten nutzen, das Schiff von oben mit seinem Laser und seiner Kinetic-Kanone zu beschießen. Der andere fliegt uns im Fjord voraus – durch seine bessere Wendigkeit kann er das – und wird unser Auge um die Kurven sein. Dadurch haben wir einen Vorteil bei der Zielauffassung, sobald wir auch in Sichtlinie zum Feind kommen. Und natürlich wird er den Kerlen ebenfalls einheizen, wann immer es geht.“
Mittlerweile war der Fjordeinschnitt bereits zu erkennen. Das Kurierschiff raste über das Ende des Flusses hinaus, der in Stromschnellen einem Wasserfall entgegenstürzte, und kurvte nach rechts unten weg. Die Ace of Swords zog nach rechts hoch, schnitt diesen Teil des Flugwegs ab und tauchte in den Fjord, der weit voraus eine Biegung nach links machte. In der Dunkelheit nur undeutlich sichtbar, wälzten sich unter ihnen reißende Wassermassen zum Tagseitenozean hin, wo auf dieser Seite gerade Ebbe war. Die Entfernung zum Gegner betrug jetzt nur noch gut drei Kilometer, und Ron nutzte das nicht nur für einen anhaltenden Laserbeschuß, sondern versuchte es auch mit den Kinetics. Weißglühende Geschoßbahnen flankierten die grünen Laserstrahlen, während von vorn die Antwort folgte, bis der Gegner gleich darauf um die Kurve außer Sicht kam. Sein Beschuß hatte den Rumpf links vorne erhitzt, aber sonst keinen Schaden angerichtet außer einem ausgefallenen Kamerachip, der sogleich automatisch durch ein Reserveexemplar ersetzt wurde. Die Trefferauswertung der automatischen Zielbeobachtung ergab, daß die Kinetics den Gegner erreicht hatten, ohne zu verglühen, und daß ein Teil davon auch getroffen hatte. Auch die Laser hatten bereits Wirkung erzielt: die Spektralanalyse zeigte verdampftes Schiffsmaterial an. Wie groß der Schaden tatsächlich war, ließ sich jedoch nicht feststellen.
Nun war die Kurve da; Acey zog hoch, rollte nach links und raste an der Hunderte Meter hohen Schluchtwand entlang wieder leicht abwärts. Alcyone sog erschrocken Luft ein. Kurz kam das andere Schiff wieder in Sicht; aus seiner Heckdüse leuchteten schwach die Restgase aus seinem Massekonverter, während seine MET-Antriebe nur Abwärme hinterließen. Dann verschwand es nach kurzem Schußwechsel um eine Rechtsbiegung, eine links an dieser Stelle einmündende Seitenschlucht ignorierend. Die Verfolger schnitten diese Ecke über den dazwischenliegenden Bergrücken hinweg ab und flogen dahinter wieder in den Fjord. Ohne kartographische Daten wären diese Stunts nicht möglich gewesen, auch nicht mit KI-gesteuerten Schiffen, die wie ein gutes Schlachtroß selbst auf ihren Weg achten konnten.
Erneut kamen die beiden Schiffe in Sichtlinie zueinander, diesmal jedoch zu kurz für einen Waffeneinsatz, ehe der Fjord sich wieder nach links krümmte. Die Robotjäger kamen jedoch immer wieder zum Schuß und trafen auch, ohne vorerst jedoch merkliche Wirkungen außer einer Aufheizung der Außenhülle des Gegners und punktueller Materialverdampfungen und Kinetic-Einschläge zu erzielen. Sie selbst waren durch das Gegenfeuer auch schon stark aufgeheizt, aber noch ohne Schäden. Ein Laserstrahl stach nach der Drohne und erwischte sie, aber in diesem Moment hatte auch die Ace of Swords die Linkskurve hinter sich gebracht, und nun lag ein etwas längerer gerader Fjordabschnitt vor ihnen. Die Entfernung zwischen den Schiffen war auf zweieinhalb Kilometer geschrumpft, und das Feindschiff spritzte nun irgendwelche Fremdmaterialien in seinen Massekonverter ein, um mit dem Ausstoß der unvollständig zerstrahlten Spaltprodukte einen zusätzlichen Raketenschub zu haben, denn aus seiner Düse schoß ein gelblich glühender Strahl. Ron eröffnete sofort das Feuer mit Lasern und Kinetics. Funkenfontänen sprühten vom Heck der Hermes, die einige Sekunden brauchte, um nach dem Drohnenabschuß ihren Laser neu auszurichten, der kurz nach Beginn seines Gegenfeuers ausfiel, offenbar von den Kinetics beschädigt.
In Panik wegen dieser verhängnisvollen Schicksalswendung versuchte der Pilot in eine von rechts einmündende Seitenschlucht auszubrechen, in der ein Nebenfluß in steilen Kaskaden herabrauschte. Die Geschwindigkeit war dafür jedoch zu hoch und die Schluchteinmündung schon zu nahe: das Schiff fetzte in der zu knapp angerissenen Steigflugkurve durch ein paar Bäume am rechten Schluchtausgang, knallte gegen den oberen Rand des gegenüberliegenden höheren Felshanges und stieg als brennendes Wrack steil in den Nachthimmel. Ron zog aus dem Fjord hoch und rollte nach rechts; er und Alcyone sahen zu, wie die Hermes in einer hohen ballistischen Kurve über das Waldland flog, Trümmer verlierend und einen vom Mondlicht erhellten Dampfschweif hinter sich herziehend, und dem Fjord entgegenstürzte, der sich dahinter wieder nach Westen zum Ozean hin wandte. Sie tauchte in einer hohen Fontäne in das Wasser, aus dem noch kurz das Glühen ihrer Brände leuchtete. Als die Ace of Swords über der Absturzstelle kreiste, brodelte dort nur noch ein Dampfblasenschwall aus der Tiefe herauf.
„Wie tief dürfte es hier sein?“ fragte Alcyone.
„Ich weiß nicht“, antwortete Ron und besah sich kurz die Statusanzeigen seines Schiffes und der Robotjäger. Keine Schäden. „Fjorde in Norwegen können über fünfhundert Meter tief sein, stellenweise sogar bis über tausend. Bei diesem hier sind es wahrscheinlich auch mehrere hundert Meter.“ Er aktivierte das Rückholprogramm für die kleinen Maschinen und ließ dafür das Schiff eine Weile mit dem von Osten wehenden Gezeitenwind im Schwebeflug treiben.
„Das Wrack wird also nie mehr zum Vorschein kommen?“
„Bestimmt nicht. Es wird auch von der Strömung ständig zum Ozean hin verschoben werden, und Sedimente werden es überlagern.“
Sie schien erleichtert zu sein. Eine Weile schwieg sie, dann sah sie ihn an und sagte: „Ron, du mußt mir glauben, daß ich da unten bei der Übergabe nicht wußte, was genau sie vorhatten. Beim Start mit dem Gleiter waren meine Augen verbunden, und der Kerl ist eine Weile mit mir herumgeflogen, daher wußte ich nicht, wo ihr Schiff versteckt war. Aber ich war mir fast sicher, daß sie irgendwas Faules beabsichtigten, denn sie hatten davon gesprochen, mich auf Pavonia als Sklavin versteigern zu wollen. Daher bezweifelte ich sehr, daß sie mich wirklich freilassen würden. Ich hatte solche Angst, daß die sich die Teile schnappen und mich trotzdem behalten würden… die haben mir Sachen auf Videos gezeigt… Ron, du würdest nicht glauben, was im Untergrund von Pavonia läuft, was die dort mit Frauen machen… ich hatte jedenfalls keine Ahnung davon.“
„Genaues weiß ich zwar auch nicht“, antwortete Ron, „aber gewisse Grundtatsachen waren mir schon bekannt. Daß die Öffentlichkeit darüber in Unkenntnis gehalten wird, hat mit Political Correctness und Scheu vor Antisemitismusvorwürfen zu tun.“
„Gleichzeitig hatte ich Angst vor dem, was der Kerl tun könnte, wenn ich dich warnen oder zu dir hinrennen würde“, fuhr sie fort. „Deshalb habe ich so lange gezögert, bis es fast zu spät war. Aber jetzt ist es doch gut ausgegangen.“
Ron fiel etwas ein. Er öffnete ein kleines Staufach am Sitz, holte etwas heraus und hielt es ihr hin. „Das ist dein Schlüssel für deine Kabine. Sie liegt ein Deck tiefer auf der linken Schiffsseite neben meiner. Ich habe zwar als Schiffseigner einen Universalschlüssel, aber wenn du ihn innen stecken läßt und herumdrehst, kann ich nicht hinein.“
Sie lehnte sich aus dem Sitz zu ihm hin und nahm den Schlüssel entgegen. „Danke.“
„In der Kabine findest du auch Kleidung und Schuhe zum Anziehen; die habe ich nach Angaben deiner Familie besorgt. Such‘ dir etwas aus.“ Er öffnete die Luke zum Niedergang zwischen den beiden Frontkonsolen. „Da geht’s hinunter. Das Klo und die Naßzelle mit der Dusche sind auf dem Deck darunter, links vorne neben Kabine Fünf. Mach‘ dich frisch und komm‘ dann wieder herauf, dann reden wir weiter.“
Alcyone bedankte sich nochmals, schnallte sich los und verschwand nach unten. Ron ließ sein Schiff tiefer über die Wasseroberfläche hinabsinken, fuhr den Schlauch für die In-situ-Betankung aus und nutzte die Zeit, um seine Tanks wieder zu füllen.
Eine gute halbe Stunde später kam Alcyone wieder herauf und fand ihn in Gedanken versunken vor. Sie setzte sich wieder in den linken Sitz, schnallte sich an und lächelte Ron an. „Jetzt geht’s mir wieder viel besser“, sagte sie. „Das sind schöne Sachen, die du mir besorgt hast.“ Sie trug einen blaugrauen Pulli mit einem bunt gemusterten Halstuch im weiten Rollkragen, dazu eine dunkelblaue Elastikhose mit glänzendschwarzem Gürtel. Ihre Füße steckten in bequemen Bordschuhen.
Das Schiff war inzwischen über die Küstenlinie hinausgetrieben und schwebte in niedriger Höhe über dem breiten Mündungstrichter des Fjords. Ron steuerte es nun langsam über die viele Kilometer breite Wattfläche nach Norden. „Was weißt du eigentlich über diese Raumyacht, die die Piraten hier im Orbit haben?“ fragte er.
„Nicht viel, nur daß sie das legal registrierte Arbeitsschiff der Bande war. Zwei von ihnen sind damit zur Erde geflogen, um die Übergabebedingungen für mich auszuhandeln. Einer davon war der, den du erschossen hast. Der war ein wichtigeres Mitglied.“
Ron erhöhte den Schub und zog das Schiff auf tausend Meter Flughöhe. „Den sehe ich mir jetzt näher an“, sagte er. „Vielleicht hat er das eine oder andere Brauchbare bei sich oder im Gleiter. Und falls er wirklich am ursprünglich vorgeschlagenen Landeplatz Männer postiert hat, dann werden die Kerle jetzt bei dem Gleiter sein, und ich kann sie aus der Luft mit den Lasern rösten.“
Alcyone schauderte. „Was, du willst noch einmal dorthin? Und aussteigen? Was ist, wenn dir dort etwas passiert? Ich wäre doch aufgeschmissen allein ohne dich.“
„Ich werde Acey anweisen, daß sie automatisch mit dir zur Marsbasis zurückfliegt, falls ich draufgehe. Aber keine Sorge, ich werde schon aufpassen, daß das nicht passiert.“
Während des weiteren Fluges bemerkte er am Rand seines Sichtfeldes, daß sie ihn immer wieder von der Seite her ansah, und er erinnerte sich an jene andere junge Frau, die ihn vor Jahren ähnlich angesehen hatte, damals auf diesem Ausbildungsflug nach Maanenia, als er kurzzeitig als Aushilfstrainer für eine zivile Raumpilotenakademie gearbeitet hatte. Und es war ebenfalls ein nächtlicher Atmosphärenflug über dieser Welt gewesen. Er fragte sich, wo sie nun wohl sein mochte, und ob sie noch an ihn dachte.
Wenig später überflogen sie die Lwaong-Ruinen und kreisten langsam über der Umgebung des Landeplatzes. Ein genaues Absuchen mit allen zur Verfügung stehenden Sensoren ergab keinen Hinweis auf menschliche Anwesenheit dort unten. Ron senkte die Ace of Swords vorsichtig in die Waldlichtung, die dafür gerade eben groß genug war, und ließ sie knapp über Grund schweben. Über die Bodenluke stieg er mit gezogenem Blaster aus. Alcyone blieb auf der abgesenkten Zugangsrampe stehen und hielt seine Zweitpistole in der Hand, die er ihr zur Sicherheit gegeben hatte, einen Kompaktblaster mit nur zwei Zentimeter Apertur seiner Laseremitter. Sie sollte die Umgebung im Auge behalten, während er zu der Leiche und ihrem Gleiter hinging, konnte es aber dennoch nicht lassen, ab und zu in seine Richtung zu schauen.
Wachsam schritt Ron über den Unterwuchs, aber es blieb alles ruhig, bis auf vereinzelte Rufe irgendwelcher nachtaktiver Wesen. Der Pirat lag noch da, wie er gefallen war. Das Blut in den hässlichen Schußlöchern war bereits geronnen, und unter seinem Rücken hatte sich eine große Blutlache aus dem Körperdurchschuß ausgebreitet. Der Kopfschuß hatte die Schädelrückseite nicht mehr ganz durchbrennen können, dafür hatte aber die Dampfexplosion viel Hirnmasse nach vorn herausgeschleudert. Ron versuchte den Ekel über den grausigen Anblick zu unterdrücken und durchsuchte die Taschen des Mannes. Neben einigem uninteressanten Krimskrams fand er eine Poctronic samt dazugehörigem Entsperrchip und einen Mehrzweck-Codegeber. Letzteren probierte er am Gleiter aus, dessen Systeme immer noch in Bereitschaft geschaltet waren; die Maschine erkannte die Benutzungsberechtigung, was darauf hoffen ließ, daß damit auch die Yacht in Betrieb genommen werden konnte. Dokumente und ein Notizblock steckten in der rechten Brusttasche, wo sie von dem Blasterschuß durchschlagen worden waren. Nun waren sie verkohlt, blutgetränkt und unbrauchbar. Ron nahm noch die Waffen des Toten – er hatte auch einen Kompaktblaster in einem Schulterholster – und die Magazine dafür an sich und ging wieder zum Schiff. Zusammen mit Alcyone stieg er nach oben in den Kontrollraum und hob ab. Nachdem er Acey angewiesen hatte, in den Weltraum aufzusteigen und eine Bahnangleichung an die dort kreisende Yacht vorzunehmen, setzte er sich mit Alcyone in den Wohnraum vor den Mitteldeckskabinen, wo die beiden sich mit einer überfälligen Mahlzeit stärkten und das weitere Vorgehen besprachen.
„Da ist etwas, um das ich dich bitten möchte“, sagte Alcyone, nachdem Ron seine Absicht mitgeteilt hatte, die Yacht in Besitz zu nehmen und dann zur Erde zurückzukehren. „Einer der Copiloten der Mira hat sich wahrscheinlich während der Kaperung mit einem Beiboot abgesetzt. Als sie uns überfielen, waren wir gerade im niedrigen Orbit um Nivdrac.“ Das war ein großer Mond von Achird Ac, dem dritten Planeten von Eta Cassiopeiae A, wie Ron wußte. „Sie haben mit dem Kurierschiff angedockt und uns geentert, und ein zweites Schiff hat uns aus größerem Abstand mit seinen Waffen bedroht. Dieser Pilot hat bewaffneten Widerstand geleistet, als sie begannen, alle Besatzungsmitglieder zu töten, die zu der Zeit gerade im Kommandoraum waren. Er ist dann verschwunden und war später nie bei uns anderen Gefangenen dabei. Als die Piraten unser Schiff unter Kontrolle gebracht hatten, haben sich alle Beiboote von der Mira gelöst und sind auf Nivdrac hinuntergestürzt. Sie haben ihnen nachgeschossen und anscheinend auch einige getroffen, aber soviel ich aus ihrem späteren Reden mitbekommen habe, waren sie sich nicht sicher, ob dieser Pilot in einem davon drin war und ob sie gerade dieses entscheidend beschädigt haben, oder ob es intakt unten angekommen ist. Mich belastet die Vorstellung, daß dieser Mann schon die ganze Zeit dort einsam festsitzt und auf Rettung wartet, die vielleicht zu spät kommt. Können wir nicht hinfliegen und ihn suchen? Bitte. Ich würde für den Umweg auch bezahlen.“
„Eta Cassiopeiae ist ungefähr sechzehn oder siebzehn Lichtjahre von hier entfernt“, wandte Ron ein. „Dafür würden wir etwa fünf Tage brauchen. Wahrscheinlich werden wir ihn nicht sofort finden, und dann haben wir noch sechs Tage Flugzeit nach Sol vor uns. Deine Familie wäre mindestens eine Woche über unsere erwartete Rückkehrzeit hinaus im Unklaren, wie die Sache ausgegangen ist, und wer weiß, was sie dann für Schritte unternehmen würden?“
Sie dachte kurz nach und sagte dann: „Du könntest doch diese Raumyacht auf einen Kurs nach Sol programmieren und sie mit einer Nachricht an meine Leute dorthin schicken, während wir nach Nivdrac fliegen.“
„Falls ich die Yacht in Betrieb nehmen kann. Hmm, na gut, falls es hinhaut, machen wir es so.“
Sie strahlte. „Danke!“
Eine knappe halbe Stunde später hatten sie sich dem anderen Schiff angenähert. Es hieß Bat Durston, wie ihnen die Aufschrift auf dem vorderen Warpring verriet, und war von einer älteren Bauweise, die noch zwei ringförmige Warpantriebsaggregate aufwies, deren hinteres mit vier Landestützen versehen war. Das Hauptgewicht des als „tailsitter“ ausgelegten, tropfenförmigen Raumschiffs wurde bei der Landung von einem Ring von Landetellern aufgenommen, die an kurzen Teleskoprohren um das dicke, abgeplattete Heck angeordnet waren. Ron manövrierte mit seinem Vorschiff nahe an den senkrecht dazu aufragenden Bug der Durston, oberhalb von deren vorderem Warpring, fuhr den Universal-Andockrüssel aus und ließ ihn an der Notluftschleuse der Yacht einrasten.
Mit dem Codegeber des erschossenen Piraten war es tatsächlich kein Problem, die Bordsysteme der Durston zu aktivieren und sich als Benützungsberechtigter auszuweisen. Nach einer kurzen Inspektion der Yacht kopierte Ron den gesamten Dateninhalt ihres Bordcomputers zwecks späterer Informationsgewinnung in eine Archivdatenbank seines eigenen Schiffes. Dann landete er die Durston in Begleitung von Alcyone wieder auf der Waldlichtung, um den blauen Gleiter samt der Ersatzteillieferung in den kleinen Laderaum zu schaffen, während die Ace of Swords in der Nähe schwebte. Mit Alcyone vereinbarte er, daß die Hermes-Teile als Sonderentgelt in seinen Besitz übergehen sollten, da er aus seiner Kriegszeit noch wußte, wo eine reaktivierbare, verlassene Hermes III zu finden war, für die er sie vielleicht einmal brauchen konnte. Dann stieg er zusammen mit ihr aus, startete die Yacht per Codegeber auf ihren programmierten Kurs zur Erde und sah zu, wie sie sich in den schon heller werdenden Himmel erhob. Von Acey ließ er sich den Raumgleiter für die Rückkehr an Bord herunterschicken. Nach der Aktivierung des Flugprogramms nach Eta Cassiopeiae begaben er und Alcyone sich todmüde in ihre Kabinen und legten sich schlafen.
4) Arrin
Eine Dreiviertelstunde nach der Landung auf Arrin stand Catriona Gerling mit Giulia Rossini und den beiden Schiffshostessen Corlissa Connelly und Madoline Reynaud am Fuß der Ausstiegsrampe der Queen of Altavor und ließ den Blick über den Raumhafen von Mel’arrin schweifen. Die vier hatten soeben die letzten der Passagiere verabschiedet, die sich nun in die nahe Metropole begaben. Die Frauen verwendeten Atemmasken wie die Passagiere, die gerade die gegenüber gelandete Cygnus der CosmoCruise Corporation verließen; die auf dem Vorfeld arbeitenden Männer trugen jedoch Ganzkörperanzüge zum Schutz vor giftigen oder feuergefährlichen Substanzen.
Jenseits der Raumhafengebäude stand die wolkenverhüllte Supererde Lhorrass, deren Mond Arrin war, an ihrer nur wenig veränderlichen Position am Himmel. Dieser wurde vom Licht der tief im Westen stehenden K4-Sonne Lhaynong und von Staubteilchen von einem westlich gelegenen Wüstenhochland rot gefärbt. Die Spätnachmittagshitze des langen Arrin-Tages begann bereits ein wenig nachzulassen, und wenn die vier Frauen nach Dienstschluß zu ihrem eigenen Ausflug in die Stadt aufbrachen, würden die Temperaturen angenehmer sein.
Eine Stunde später war es soweit. Catriona und ihre Freundinnen nahmen ein Lufttaxi nach Mel’arrin und ließen sich im Zentrum absetzen, dessen innerster Teil in einer weiten Flußschlinge lag. Hier hatte in ferner Vergangenheit die Hauptstadt eines primitiven Großreiches gestanden, das nach der Ankunft der legendären Alten vor über siebentausend Erdenjahren durch deren Hilfe zu noch größerer Macht aufgeblüht war und schließlich zwei Drittel von Arrin beherrscht hatte. Von dieser ersten arrinyischen Hochzivilisation war kaum mehr etwas übrig, und die meisten Arrinyi interessierten sich nicht dafür. Doch ihre einstige Metropole existierte immer noch als Zentrum einer verschmolzenen globalen Zivilisation, die sich auf viele Welten fremder Sonnen ausgedehnt hatte und Kontakte zu anderen Intelligenzwesen pflegte. Mel’arrin war eine bunte Synthese der arrinyischen Kultur und der Einflüsse der Galaktischen Zivilisation, und das widerspiegelte sich auch in seiner vielfältigen Bevölkerung.
Neben den hageren, grauhäutigen Gestalten der Arrinyi in ihren hellen, weiten Gewändern begegnete den vier Frauen auf ihrem Stadtspaziergang eine Vielzahl verschiedenartiger Wesen, die nur ihre biologische Eignung für die Umweltverhältnisse auf Arrin gemeinsam zu haben schienen. Giulia fotografierte sie bei jeder Gelegenheit mit ihrer Poctronic. Mit der Zeit fiel den Frauen auf, daß die Fremdweltler untereinander – auch mit Wesen anderer Spezies – mehr Umgang zu haben schienen als mit Arrinyi. Letztere wiederum wiesen eine relativ geringe rassische Variationsbreite auf, dies jedoch in allen Schattierungen.
Eine Weile später saßen sie auf einer Gästeterrasse eines Lokals, das auf die Bedienung von Fremdweltlern eingestellt war und absenkbare transparente Atemluftglocken aufwies, und kosteten ein arrinyisches Heißgetränk, das für Menschen unbedenklich war und auf diese nur anregend wirkte, ohne den berauschenden Effekt, den es auf Arrinyi hatte. Hinter Lhorrass ging gerade hellstrahlend weiß ein Stern auf, der als einziger am immer noch dämmrigroten Himmel sichtbar war. Beta Centauri, dachte Catriona, so nah, so schön und über hundertmal so hell wie Sirius von der Erde aus.
Giulia sah von ihrer Poctronic auf, mit der sie sich eine Zeitlang beschäftigt hatte. „Wißt ihr, was ich rausgefunden habe?“ fragte sie. „Ich habe eben die Bilder, die ich heute von den verschiedenen Wesen gemacht habe, über die Online-Suchmaschine laufen lassen, um sie zu identifizieren. Hier gibt’s ja eine Verbindung zum irdischen Raumhafentrakt und von da zu den Datennetzwerken.“
„Und, was hast du herausgefunden?“ fragte Corlissa, die sich ihr langes weißblondes Haar gerade zu einem dicken Zopf flocht.
„Einige dieser Spezies stammen von Welten aus dem Raumbereich, in dem die Arrinyi ihre Kolonien haben“, erklärte Giulia. „Die sind recht primitiv, und zwar nicht nur von ihrem kulturellen Stand zur Zeit ihrer Entdeckung durch die Arrinyi her. Die sind auch als Intelligenzwesen auf einem primitiven evolutionären Stand. Vergleiche mit Menschen sind schwierig, aber manche von denen sollen kaum intelligenter sein, als es der Homo erectus gewesen sein dürfte. Ich kann mir schwer vorstellen, welche Rolle die hier in dieser Hightech-Zivilisation spielen können.“
„Und die anderen?“ Madoline war nun auch interessiert.
„Die kommen von weiter innen in der Galciv. Drei davon kennt die Xenobiologische Enzyklopädie nicht einmal. Manche sind ebenfalls sehr primitiv, aber andere Arten sollen hochintelligent sein, im Durchschnitt intelligenter als die Arrinyi.“
„Die sind aber anscheinend auch nicht übermäßig helle“, warf Catriona ein. „Der Eindruck, den man von denen bekommt, die man auf Menschenwelten antrifft, dürfte täuschen, weil die überwiegend aus dem besseren Teil ihrer Gesellschaft kommen. Ich habe vor unserer Reise mit drei Leuten gesprochen, die länger hier zu tun hatten, und die meinen, daß die Arrinyi als Ganzes einen Durchschnitts-IQ von deutlich unter hundert haben, vielleicht nicht einmal neunzig. Sie sind sich wegen der Kommunikationsbarrieren und kulturellen Unterschiede nicht sicher, wie weit diese Wahrnehmung zutrifft, aber sie haben allgemein nicht den Eindruck einer Intelligenz, wie man sie von den Trägern einer solchen Zivilisation erwarten würde.“
„Naja, Durchschnitts-IQ unter neunzig, da brauchen wir Menschen auch nicht groß zu reden“, meinte Giulia. „Gesamtzahlen sind im Mainstream schwer zu bekommen, aber ich habe zwei wissenschaftliche Publikationen gelesen, die für die gesamte Bevölkerung der Solaren Föderation auf einen IQ zwischen achtzig und fünfundachtzig kommen.“
„Was – nicht mehr?“ staunte Corlissa. „Das kann ich mir schwer vorstellen.“
„Nun, das kann schon so sein“, wandte Madoline ein. „Wir haben wahrscheinlich einen geschönten Eindruck von der Gesamtsituation, weil wir in einem Milieu von überdurchschnittlich Intelligenten leben, die meist einen IQ zwischen hundertzehn und hundertvierzig haben.“
„Und das sind hauptsächlich Europäer und Ostasiaten und Mischlinge daraus“, ergänzte Giulia. „Der Großteil der Menschheit ist aber ganz oder teilweise von anderer Abstammung. Und dieses Zahlenverhältnis hat sich seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, als die Europäischstämmigen noch ein Drittel der Weltbevölkerung ausmachten, immer mehr verschoben. Im einundzwanzigsten Jahrhundert hat auch der Anteil der Ostasiaten abzunehmen begonnen.“
„Du meinst…“ begann Corlissa vorsichtig.
„…daß hier die Ursache liegt? Ja.“ Giulia hatte eine Grafik auf ihr Display geladen und zeigte sie ihren Freundinnen. „Das ist eine Karte der weltweiten IQ-Verteilung nach Ländern von Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts, als die große globale Migration erst begonnen hatte. Die stammt aus dem Forschungsarchiv des Humanbiologischen Instituts der Föderation – sie ist nicht geheim, sonst würde ich sie auch nicht kennen, aber schwer zu finden. In den Medien wird so etwas nicht präsentiert. Jedenfalls könnt ihr da sehen, welche Korrelation es damals zwischen Ethnie und Intelligenz gegeben hat. Heute wäre das Bild nicht mehr so deutlich, weil sich seither alles so durchmischt hat.“
Catriona räusperte sich. „Vermutet habe ich solche Zusammenhänge auch schon“, sagte sie, „auch wenn ich Informationen wie deine hier noch nicht hatte. In meinem Beruf fallen einem mit der Zeit doch gewisse Muster auf, wenn man bereit ist, sie zu sehen. Zum Beispiel, daß die ethnische Verteilung in den anspruchsvollen Raumfahrtberufen sich stark vom normalen Querschnitt der Weltbevölkerung unterscheidet. Oder bei welcher Art von Leuten man sich häufiger als bei anderen fragt, wie die sich überhaupt dafür qualifizieren konnten. Ein Warpantriebstechniker hat mir einmal erzählt, daß das in Forschung und Entwicklung noch krasser ist und daß sie dort schon Schwierigkeiten haben, genügend wirklich gute Leute zu bekommen.“
Giulia steckte ihr Gerät wieder weg. „In meinem Beruf bekommt man auch solche Einblicke in die Realität. Man muß mißtrauisch sein, und skeptisch gegenüber vordergründigen Darstellungen. Man muß bereit sein, Hinweisen nachzugehen. Und man muß dafür auch einen gewissen detektivischen Sinn mitbringen und entwickeln.“
Nachdem nun ein Anfang beim Brechen der Political Correctness gemacht worden war, erzählten auch Corlissa und Madoline von ihren eigenen Erfahrungen und Eindrücken im Zusammenhang mit der ethnischen Vielfalt. Es stellte sich heraus, daß alle vier insgeheim schon ähnliche kritische Ansichten dazu gehabt hatten. Fünfhundert Lichtjahre von zu Hause entfernt, umgeben von Wesen, die aus völlig fremden Evolutionslinien hervorgegangen waren, offenbarten sie einander nun all jene Gedanken, die sie in der Ausbildung, am Arbeitsplatz oder in den sozialen Medien nicht zu äußern gewagt hatten.
Eine Weile später bezahlten sie und verließen das Restaurant. Die Luft war immer noch warm, sodaß sie sich in ihren kurzen, leichten Sommerkleidern wohlfühlten. Der Boden und die Gebäude strahlten immer noch die Wärme des langen Tages ab, und so würde es noch viele Stunden lang bleiben. Die Arrinyi, die wie alle Lebensformen dieser Welt an deren dreieinhalb Erdentage langen Tag angepaßt waren, hatten sich mit einem kurzen Verdauungsschlaf nach ihrer Spätnachmittagsmahlzeit erholt und schwärmten nun in der Stadt umher, um ihrer halb nachtaktiven Lebensweise entsprechend den milderen Teil der Nacht für ihre Aktivitäten zu nutzen. Erst wenn die zunehmend bitterkalte zweite Nachthälfte näherrückte, würden sie ihrem Biorhythmus entsprechend in einen sechzehn bis achtzehn Stunden langen Tiefschlaf fallen.
Die vier Erdenfrauen hatten jedoch nicht die Absicht, noch viel länger in Mel’arrin zu bleiben, denn sie hatten bereits einen langen Tag hinter sich. Nachdem sie noch ein wenig unter dem exotischen Nachthimmel mit den wenigen sichtbaren Sternen, drei kleineren Monden und der golden strahlenden Kugel von Lhorrass flaniert waren, ließen sie sich ein Lufttaxi kommen und sich von diesem zur Queen of Altavor zurückbringen.
* * *
Am nächsten Tag (nach Erdzeitrechnung, nach der sie ihren Tagesablauf immer noch richteten) gingen Catriona und ihre Freundinnen unter dem noch dunklen Himmel durch einen kalten Ostwind über das Raumhafenvorfeld zu einem wartenden arrinyischen Suborbitalraumgleiter, der sie über die erste Etappe eines Ausflugs zu den legendären Fliegenden Städten der Alten befördern würde. Diese riesigen, uralten Bauwerke saßen auf massiven Steinsockeln, die in einem Wüstenhochland weit im Westen des Kontinents verteilt standen, auf dem sich Mel’arrin befand. Da ihre Bewohner keine Flugmaschinen im Umkreis von mehr als hundert Kilometern um ihre Städte duldeten, würde diese restliche Strecke mit Expeditionsfahrzeugen zurückgelegt werden müssen.
Der Raumgleiter hob ab und stieg steil in den Weltraum auf, um dann in eine hohe ballistische Flugbahn nach Westen überzugehen. Auf den Außenbildschirmen an den Rückseiten der Passagiersitze glühte der Bogen der Abenddämmerung am Horizont, dann kam die Sonne wieder in Sicht, und etwa zwanzig Minuten nach dem Start begann der Wiedereintritt in die Atmosphäre. Tief unten lag der Ostabhang des Hochlandes im schrägen Licht des späten Nachmittags, der dort immer noch herrschte, und dahinter breitete sich die Wüste aus. Kurz darauf landete der Gleiter auf der Piste einer Tourismusbasis in der Wüste, und die Passagiere stiegen in die dreiachsigen Expeditionsfahrzeuge um.
Die vier Erdenfrauen hatten die vordersten Plätze gleich hinter dem Fahrer und der großen Frontscheibe gebucht, und so konnten sie eine bestmögliche Aussicht genießen, ohne auf Außenbildschirme angewiesen zu sein. Nach gut einstündiger Fahrt durch eine leicht gewellte Sand- und Felslandschaft rollten die Fahrzeuge durch einen Einschnitt in einem niedrigen Felsrücken, und dahinter bot sich den Passagieren der erstaunliche Anblick der gigantischen, fremdartigen Städte auf den dicken Säulen, die sich aus einer weiten Sandebene erhoben. Eine dieser Säulen war leer; wie Catriona wußte, kam es hin und wieder vor, daß eine der Städte zu einer anderen derartigen Säule irgendwo auf dieser Welt flog. Beim Näherkommen wurde der Anblick immer eindrucksvoller, und als die Fahrzeuge die letzte kleine Felsformation davor erreichten, hielten sie an, damit die Passagiere aussteigen und sich die Bauwerke im Freien ansehen konnten. Catriona und ihre Freundinnen bestiegen den Felsbuckel, wobei sie die MET-Schwebefunktion ihrer Expeditionsanzüge zu Hilfe nahmen, und genossen dann von oben die Szenerie.
Laut arrinyischer Überlieferung waren die Alten vor vierzehntausend Arrin-Jahren, also gut sieben Jahrtausenden irdischer Zeit, in genau diesen fliegenden Städten, von denen es insgesamt elf gab, auf ihre Welt gekommen: geheimnisvolle Fremdwesen, von denen immer noch niemand wußte, wie sie aussahen und woher sie stammten. Sie hatten den Arrinyi Technologie und Wissenschaft gebracht, ihnen davon immer nur soviel auf einmal vermittelt, wie sie in einer Generation bewältigen und verstehen konnten, und dabei mit ihnen über Fremdwesen aus mehreren anderen Spezies als Stellvertreter kommuniziert. Dabei war jedoch nicht ausgeschlossen, daß eine dieser Spezies doch die Alten selbst waren, so wie man auch in der Gegenwart nicht sicher sein konnte, ob es sich nicht bei einer der vielen Fremdweltler-Arten, die man auf Arrin antraf, um die Alten handelte – eine Möglichkeit, die Gegenstand vieler Sagen und Legenden war. Die Alten hatten über die Jahrtausende zunächst die Expansion des antiken Imperiums von Mel’arrin gefördert, nach dessen Verfall dann die globale Integration Arrins betrieben und schließlich den Anschluß an die Galaktische Zivilisation und die interstellare Expansion der Arrinyi herbeigeführt. Und in all dieser Zeit hatten die Alten ihre Geheimnisse gewahrt und niemandem Zugang zu ihren Städten erlaubt, an denen von Zeit zu Zeit fremdartige Raumschiffe andockten.
Während die vier Frauen noch standen und schauten, bemerkten sie, daß von hoch oben eine Fliegende Stadt aus dem Himmel herabsank und auf die leere Säule niederschwebte. Dabei war kein Laut zu hören außer dem fernen Rauschen der verdrängten Luft. Kurz darauf erhob sich in der Ferne die dritte Stadt geräuschlos von ihrem Sockel, kam auf die Betrachter zu und glitt in geringer Höhe über die Stadt im Vordergrund hinweg, ehe sie ihren Flug nach Süden in beschleunigtem Aufstieg fortsetzte.
Auf Giulias Vorschlag hin stiegen die Freundinnen auf der Nordseite von der Felsnase ab und wanderten ein Stück auf die freie Sandfläche hinaus, bis sie von der Reiseleitung per Funk informiert wurden, daß es Zeit für die Rückkehr zu den Fahrzeugen war. Bei diesen angelangt, wandten sie sich noch einmal um, um den Eindruck mysteriöser, gigantischer Fremdartigkeit ein letztes Mal in sich aufzunehmen, dann stiegen sie ein.
5) Nivdrac
Nikos Lourákis wandte sich vom Anblick des Riesenplaneten Achird Ac ab und schlenderte ein Stück von dem Beiboot weg, das ihm in den vergangenen einunddreißig Tagen notgedrungen als Zuhause gedient hatte. Das leichte Schneegestöber hatte aufgehört, und so hatte er sich dazu entschlossen, nach draußen zu gehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Er war zunächst noch unschlüssig, ob er einen längeren Spaziergang unternehmen sollte, aber das Wetter schien tatsächlich aufzuklaren, und so zog er seinen Codegeber aus der Tasche, wandte sich um und schloß die Beibootluke per Funkbefehl. Dann stapfte er auf dem schneebedeckten Eis des kleinen Sees, auf dem sein Boot lag, auf dessen anderes Ende zu.
So fern von der Hauptsonne Eta Cassiopeiae A konnte Nivdrac keine sehr warme Welt sein. Die Hälfte ihrer Ozeanfläche war zugefroren, und jetzt im Mittwinter der Nordhalbkugel herrschten selbst hier nahe dem nördlichen Wendekreis frostige Temperaturen. Die dünne Luft enthielt nur deshalb einen ausreichenden Anteil von Sauerstoff, weil das einheimische Ozeanleben sie schon seit zwei Milliarden Jahren photosynthetisch damit angereichert hatte. An Land gab es hier erst ein spärliches Ökosystem, seit die Lwaong vor sechseinhalbtausend Jahren Lebensformen von den Hochgebirgen und polnahen Breiten ihrer Ursprungswelt angesiedelt hatten. Die größte und bekannteste davon waren die Schneedrachen, denen diese Welt ihren terranischen Namen verdankte und wegen denen Lourákis auch das großkalibrige Projektilgewehr geschultert trug. Diese Raubtiere waren auch ein wesentlicher Grund dafür, daß Expeditions-Kreuzfahrtschiffe wie die Mira dieses Sonnensystem anflogen: deren Passagiere unternahmen Beobachtungs- und Jagdsafaris auf diesem Ostkontinent, wo die Schneedrachen und ihre Beutespezies lebten.
Eine solche Landungsexpedition hatte auch die Besatzung der Mira für ihre Gäste vorbereitet gehabt, und deshalb waren die Beiboote bereit und ausgerüstet gewesen, als der Piratenüberfall begonnen hatte. Die Bande mußte mit ihrem Schiff irgendwo auf der Oberfläche gewartet haben, wahrscheinlich auf dem Westkontinent, denn beim Anflug auf Achird Ac und seine Monde war im Orbit von Nivdrac nichts davon wahrzunehmen gewesen. Sie mußten zwei oder drei kleine Ortungssonden in der Umlaufbahn gehabt haben, die ihnen die Ankunft ihrer Beute gemeldet hatten, und danach waren sie in den Weltraum aufgestiegen und hatten sich ihr genähert. Es war ein Militär-Kurierschiff vom Typ Hermes III gewesen, das ihnen in der Beschleunigung überlegen war, weshalb eine Flucht auf Warpstartdistanz aussichtslos gewesen wäre. Außerdem war vom nächstinneren Mond, der gerade auf der Innenbahn vorbeizog, ein zweites Schiff gekommen, dessen Beschleunigung ebenfalls auf einen militärischen Typ schließen ließ und das sie dann auf Abstand bedroht hatte, für den Fall, daß die Mira unmittelbar vor dem Andocken des Kurierschiffes Abwehrmaßnahmen wie Rammversuche unternehmen würde. Dieses gesamte Vorgehen deutete darauf hin, daß die Bande Informationen über den Flugplan der Mira gehabt hatte, um diesen Hinterhalt so planen zu können.
Nikos Lourákis hatte zu dieser Zeit gerade zusammen mit dem Kommandanten und der Kommunikationsoffizierin Dienst in der Kommandozentrale versehen. Nach der anfänglichen Verblüffung über diesen Piratenakt seitens eines scheinbaren Fahrzeugs der Raumflotte hatte er das Außenteleskop gerade rechtzeitig auf das zweite Schiff gerichtet, um seinen Typ zu identifizieren, ehe es im toten Winkel hinter dem Heck verschwand und das Teleskop durch einen Laserschuß des Kurierschiffs zerstört wurde. Anscheinend war die dabei gewonnene Information für die Piraten ein wichtiges Geheimnis gewesen, denn die ersten zwei von ihnen, die mit Kopfmasken getarnt in die Mira eingedrungen waren, hatten sich sofort zum Kommandoraum begeben, um alle dort anwesenden Besatzungsmitglieder zu töten. Den Kommandanten und die Kommunikationsoffizierin hatten sie sofort erschossen, aber Lourákis, der an der Landung hatte teilnehmen sollen und den als Sicherheitsausrüstung vorgeschriebenen Blaster bereits umgeschnallt trug, hatte sich an einer vom Eingang her nicht sofort einsehbaren Stelle der Zentrale befunden und die Eindringlinge getötet. Der zweite davon hatte ihn jedoch vor seinem Tod noch mit seinem hastig abgefeuerten Laserschuß an der linken Schulter gestreift und ihm eine hässliche Fleisch- und Brandwunde zugefügt, die er jetzt noch ein wenig spürte.
Nach diesem Kampf hatte Lourákis hastig die Tür der Zentrale versperrt und über das Überwachungskamerasystem zugesehen, wie die Piraten die Passagiere und restlichen Besatzungsmitglieder zusammengetrieben hatten. Da sie den Ersten Piloten am Leben gelassen hatten, hatte er daraus geschlossen, daß es ihnen nicht generell um das Töten der Flugbesatzung gegangen war, sondern nur um die Wahrung des Geheimnisses um dieses andere Schiff. Danach hatte er die Aufzeichnungen der Außenkameras – einschließlich des Teleskops – von den Angreifern auf einen Datenchip kopiert und war durch einen engen Wartungstunnel, der das gesamte Schiff durchzog und auch von der Zentrale aus zugänglich war, zu dem Raum gekrochen, von dem aus die Zugänge zu den Beiboot-Buchten abgingen. Da niemand dort war, hatte er an der Leitstandkonsole für alle fünf Beiboote das Notabsetzprogramm aktiviert und ihren zeitverzögerten automatischen Start in dichtestmöglicher Folge programmiert. Den Beginn der Startsequenz hatte er so angesetzt, daß er gerade rechtzeitig in das dritte steigen und sich im Pilotensitz anschnallen konnte, ehe es aus seiner Bucht katapultiert wurde. Das kleine Raumfahrzeug hatte sich gleich danach für den Atmosphäreneintritt ausgerichtet und mit Höchstleistung unter Einsatz des magnetodynamischen Plasmabremsschirms zu verzögern begonnen, und da die Mira sich auf einer sehr niedrigen Umlaufbahn knapp über der Atmosphäre befunden hatte, war auch kurz darauf der erste Luftwiderstand zu spüren gewesen.
Lourákis hatte bewußt alle fünf Boote gestartet und sich in das mittlere gesetzt, denn er hatte damit gerechnet, daß die Piraten einen Fluchtversuch argwöhnen und das erste Boot beschießen würden, vielleicht danach auch das zweite. Dann, so hatte er gehofft, würden sie vermuten, daß alle leer waren bis auf das letzte, in dem derjenige sitzen würde, der sie alle gestartet hatte, und auf dieses letzte schießen. Erst danach würden sie auch das vierte und zuletzt das dritte unter Feuer nehmen. Von seinem Boot aus hatte er nicht mitverfolgen können, wie es den anderen ergangen war, aber da er nicht abgeschossen worden war, mußte sein Kalkül richtig gewesen sein. Vielleicht hatte es auch eine kurze Verzögerung bei der Entscheidung über die Feuereröffnung gegeben. Außerdem hatte die Bucht von Beiboot 3 sich auf der Seite befunden, die von dem immer noch angedockten Kurierschiff der Piraten abgewandt gewesen war, das dadurch einen eingeschränkten Schußwinkelbereich gehabt hatte. Erst als der Atmosphäreneintritt schon voll im Gange gewesen und sein Boot hinter einer Scheibe aus Plasma durch die obersten Atmosphärenschichten gerast war, hatten sie auf ihn zu schießen begonnen. Zu dieser Zeit hatte ihn jedoch bereits das Plasma ausreichend geschützt, das die Laserstrahlen großteils absorbiert hatte, denn selbst mit Frequenzverdoppelung konnten die Laserstrahlen der Gegner nicht den Vakuumfrequenzbereich erreichen, mit dem ionisiertes Gas ungehindert durchdrungen werden konnte. Der Beschuß hatte jedoch ausgereicht, um den ohnehin schon stark belasteten Hitzeschild durch die Explosionen des schlagartig erhitzten Plasmas und die zusätzliche Aufheizung dauerhaft zu schädigen. Dieses Beiboot würde keinen Atmosphäreneintritt mehr machen.
In Oberflächennähe hatte er dann auf eine teilweise eisbedeckte Bucht eines großen Sees zugesteuert und dabei ein stark schwankendes Flugverhalten vorgetäuscht für den Fall, daß er immer noch aus dem Orbit beobachtet wurde. Dann hatte er seine Maschine nahe am Eisrand ins Wasser stürzen lassen, sie unter das Eis manövriert und auf dem Grund des seichten Gewässers aufgesetzt. Dort hatte er zwei Tage lang abgewartet, ehe er wieder aufgetaucht und zu seinem nunmehrigen Aufenthaltsort geflogen war. Dann hatte das lange, einsame Warten begonnen. Ihm war klar gewesen, daß auf der Erde so bald niemand von seiner möglichen Anwesenheit hier erfahren und ein Schiff zur Rettung schicken würde. Auch kamen zu dieser Jahreszeit nur selten Expeditionsschiffe nach Nivdrac. Dennoch hatte er sein Notrufsignal von Anfang an ständig laufen lassen, während er sich auf ein längeres Ausharren eingestellt hatte. Energie würde nicht so schnell ein Problem werden, denn der Vorrat an Wasserstoff, mit dem der einfache Konverter des Bootes betrieben wurde, war für einen Wiederaufstieg in den Orbit bemessen. Das Kritischste war die Nahrung, denn obwohl er allein von einem Lebensmittelvorrat zehren konnte, der für sieben Personen und eine Notfrist von einer Woche bemessen war, hatte er davon bereits knapp zwei Drittel verbraucht. Wenn seine Rettung noch mehr als zwei Wochen auf sich warten ließe, würde er hungern müssen.
Inzwischen hatte er das Ende des zugefrorenen Sees beinahe erreicht. In dem Geländeeinschnitt, durch den der Bach floß, der ihn speiste, ging gerade ein heller, gelboranger Stern auf. Das war die zweite Sonne dieses Systems, wie Lourákis wußte, ein K7-Zwerg mit nur sechs Prozent der Leuchtkraft von Sol und zur Zeit fast doppelt so weit entfernt wie Pluto von der Erde. Während er den fernen, glühenden Punkt betrachtete, ertönte in seinem Helmfunk plötzlich das Anrufsignal, und eine männliche Stimme meldete sich: „Beiboot Mira 3, hier Ace of Swords. Wir empfangen Ihr Notsignal. Kommen!“
Lourákis war so überrascht, daß er beinahe ausgerutscht und hingefallen wäre. Er wußte, daß die Funkanlage des Bootes, mit der er über Comlink verbunden war, bereits eine automatische Empfangsbestätigung gesendet hatte, aber er ließ trotzdem hastig das Mikrofon vorklappen und antwortete: „Ace of Swords, hier Mira 3, Zweiter Pilot Nikos Lourákis. Bin ich froh, Sie zu hören! Wie weit sind Sie noch entfernt?“
„Knapp zweihunderttausend Kilometer. Wir sind erst vor kurzem über Ihren Funkhorizont gekommen. In… fünfundsiebzig Minuten sind wir bei Ihnen; der Anflug wird von Osten erfolgen.“
Ehe er noch antworten konnte, war eine weibliche Stimme zu hören: „Hier Alcyone Poledouris. Ich bin auch froh, Sie zu hören, und daß wir Sie so schnell gefunden haben. Geht es Ihnen gut?“
„Despinis Poledouris! Sie sind frei? Na, das freut mich erst! Ja, mir geht es gut. Es war nur schon sehr langweilig hier. Ich gehe jetzt zurück zum Boot und erwarte Sie dort. Alles Weitere können wir später besprechen. Ende.“
* * *
Dreißigtausend Kilometer von Nivdrac entfernt erhöhte die Ace of Swords ihre Abbremsung auf fünf g. Seit dem Abschalten des Warpantriebs war sie mit senkrecht zum Kurs aufgerichtetem Rumpf geflogen, sodaß ihre interne Gravoanlage nur einen Teil der Verzögerung zu kompensieren brauchte; der Rest war Ersatzschwere für ihre Insassen. Ronald Brugger betrachtete auf seinem Frontschirm die Sichel der größer werdenden Welt vor ihnen, deren Nachtseite von Eta Cassiopeiae B und dem Schein eines weiter außen vorbeiziehenden Nachbarmondes schwach erhellt wurde. Alcyone war noch einmal kurz nach unten gegangen. In den vergangenen fünf Tagen war sie abwechselnd sehr zurückgezogen und dann wieder gesprächsbedürftig gewesen. Ron hatte ihre Rückzugsphasen genutzt, um den kopierten Datenbestand der Bat Durston und die Poctronic des erschossenen Piraten nach brauchbaren Informationen zu durchsuchen.
Wie er ohnehin halb erwartet hatte, war auf dem Computer der Durston nichts Verwertbares enthalten gewesen. Das war naheliegend, denn nachdem die Bande die Yacht als legales Arbeitsschiff verwendet hatte, war sie wohl darauf bedacht gewesen, daß im Falle behördlicher Durchsuchungen nichts Belastendes zu finden war. Die Poctronic jedoch war wesentlich interessanter. Der Pirat, ein gewisser Saul Bremer, hatte darauf eine Menge potentiell aufschlußreicher Daten gespeichert, darunter die Koordinaten häufig angeflogener Sonnensysteme, diverse Kontaktdaten, natürlich alle unter Decknamen, die Ron nichts sagten, sowie Zugangsinformationen zu einem Untergrund-Infonetzwerk, das von Piraten, anderen Kriminellen und deren Kunden und Geschäftspartnern genutzt wurde. Auch die Zugangsschlüssel zu diversen Bankkonten Saul Bremers, sowohl auf der Erde als auch auf Pavonia, waren darauf gespeichert, und Ron gedachte diese für sich zu nutzen, sobald er Gelegenheit dazu hatte.
Kurz vor Beginn des Atmosphäreneintritts kam Alcyone wieder herauf und schnallte sich im linken Vordersitz an. Ron hatte wieder die Kontrolle von Acey übernommen und steuerte selbst, um bei solchen Manövern in Übung zu bleiben. Weißrosa leuchtender Plasmadunst begann sich vor dem Schiff auszubreiten, und der Flug wurde durch die Dichtevariationen der Luft unruhig. Mit sinkender Geschwindigkeit verblaßten die Leuchterscheinungen allmählich wieder, und weit unten wurde das in flachem Winkel beleuchtete Relief einer Landschaft in Weiß-, Grau- und Brauntönen erkennbar.
Nikos Lourákis stand bei seinem Beiboot und spähte über das Eis des Sees nach Osten, wo inzwischen eine Wolkenbank aufgezogen war. Direkt über dem Einschnitt, in dem er zuvor Eta Cassiopeiae B gesehen hatte, zeichnete sich ein dunkler Punkt vor den Wolken ab und kam rasch näher. Als das Schiff schon beinahe über der kleinen Bachschlucht war, konnte er seine Umrisse erkennen und stutzte plötzlich. Verdammt, das war doch… Er nahm sein Gewehr von der Schulter und ging hinter dem Beiboot in Deckung. „Du bist doch dieses Schwein mit dem anderen Schiff!“ rief er über Funk. „Aber mich wirst du nicht kriegen!“
„Was?“ fragte Ron verdutzt. „Was reden Sie da?“ Und Alcyone fragte: „Wie meinen Sie denn das?“
„Da war doch ein zweites Schiff, das uns während des Piratenüberfalls in Schach gehalten hat“, meldete Lourákis sich wieder zu Wort. „Ich weiß nicht, ob Sie das mitbekommen haben, Despinis Poledouris. Ich habe es mit dem Teleskop beobachtet und auch aufgezeichnet. Das war eine Orion II wie die, in der Sie jetzt sitzen. Solche Militärschiffe werden nur an lizenzierte Privatpersonen übergeben. Und der Kerl, mit dem Sie unterwegs sind, ist nun zurückgekommen, um mich als Zeugen auszuschalten.“
„Das glaube ich nicht“, sagte Alcyone. „Der Mann, mit dem ich fliege, hat doch die Piraten mit ihrem Schiff vernichtet.“
„Überlegen Sie doch, Lourákis“, warf Ron schnell ein, „wenn ich wirklich der wäre, für den Sie mich halten, dann würde ich Sie doch zusammen mit Ihrem Boot gleich von hier aus mit meinen Bordwaffen erledigen. Ich wäre dann auch nicht so angekündigt gekommen, sondern hätte vielleicht nach Anpeilen Ihres Notsignals abgewartet, bis bei Ihnen Nacht ist und Sie sicher im Boot sind. Und dann hätte ich Sie mit einem überraschenden Feuerüberfall vernichtet. Aber damit Sie vorerst einmal beruhigt sind, werde ich jetzt beidrehen, damit meine Waffen nicht mehr auf Sie gerichtet sind.“
Die Ace of Swords war keine zweihundert Meter mehr vom Beiboot entfernt und in niedriger Höhe langsam nähergekommen. Jetzt drehte sie sich quer und wies Lourákis ihre rechte Seite zu, wobei sie sich gegen den leichten Ostwind in der Schwebe stabilisierte. Ron ließ sie bis auf wenige Meter über dem Eis herabsinken.
Lourákis nahm sein Gewehr aus dem Anschlag und kam hinter dem Beiboot hervor. „Anscheinend sind Sie wirklich nicht der Pirat, für den ich Sie gehalten habe“, sagte er. „Diese andere Orion hatte nämlich große rote Markierungen vorn an der Rumpfseite; aber Ihre nicht.“
„Rote Markierungen?“ fragte Ron. „Etwa Würfel?“
„Kann sein, vielleicht auch nicht. So genau konnte ich das auch durch das Teleskop nicht erkennen. Aber ich habe die Aufzeichnungen auf einem Datenchip und kann sie Ihnen zeigen.“
„In Ordnung. Wenn Sie einverstanden sind, steige ich jetzt aus und komme zu Ihnen.“
„Ich begleite dich!“ sagte Alcyone schnell.
„Gut“, stimmte Lourákis zu, sicherte sein Gewehr und lehnte es an das Boot. Er sah zu, wie das Raumschiff seine Bodenrampe ausfuhr und noch tiefer herabsank, bis es damit fast das Eis berührte. Kurz darauf stiegen zwei Gestalten aus, ein Mann und eine Frau, die er als diejenige erkannte, die er bei den Kapitänsdinners an Bord der Mira kennengelernt hatte. Die beiden stapften zu ihm herüber, und gemeinsam betraten sie das Beiboot, wo er den Datenchip aufbewahrte.
Wenig später befanden sie sich an Bord der Ace of Swords und ließen während des Steigflugs in die Umlaufbahn die Aufnahmen des anderen Orion-Jägers über Aceys Bildverbesserungsprogramm laufen. Dieses konnte sie ausreichend vergrößern, daß Ron das Schiff anhand der roten Würfel als die Snake Eyes erkannte. Nun erinnerte er sich, daß in den Kontaktdaten auf Saul Bremers Poctronic auch jemand mit dem Decknamen Snake vorkam, und ihm wurden die wahrscheinlichen Zusammenhänge klarer. Offenbar kooperierte Elonard Sampson mit manchen Piraten auf diese und vielleicht auch andere Weise. Mit seinen Abschüssen kleinerer Teilnehmer in diesem Gewerbe räumte er seinen Partnern Konkurrenten aus dem Weg und verschaffte sich mit den Prämien gleichzeitig ein legales Einkommen. Und als registrierter Piratenjäger und Eigentümer einer Orion II würde es ihm höchst ungelegen kommen, wenn er von einem seiner Opfer identifiziert und gemeldet würde. Nun, bei seiner nächsten Landung auf einer Föderations-Raumbasis würde er eine unangenehme Überraschung erleben.
Auf dieser Welt war ihre Mission nun in doppeltem Sinn erfolgreich beendet, und so besprach Ron mit Acey den Rückflug nach Sol und erteilte ihr dann Anweisung, aus dem Orbit zu beschleunigen und auf Warpkurs zu gehen. Alcyone beobachtete ihn dabei genau. „Du liebst dieses Schiff“, stellte sie dann fest.
Er sah sie überrascht an und lächelte dann schwach. „Den Eindruck kann man schon gewinnen, was? Nun, es läßt sich schwer beschreiben, welche Beziehung man mit der Zeit zu seinem Vogel entwickelt…“ Er hielt inne und sah nach vorn. „Mach uns mal ein bißchen Musik, Acey. Du weißt schon, was jetzt passen würde.“
„Klar doch.“ Die Beschleunigung nahm zu, und Heavy Metal, ein Lied eines Don Felder aus dem späten zwanzigsten Jahrhundert, erklang.
Fire it on up and let’s cruise a while
Leave your troubles far behind
You can hedge your bet on a clean Corvette
To get you there right on time
Now if you’re ready to dive into overdrive
Baby, the green lights are on
It’s like you’re running your brain on some high octane
Every time she reaches fully blown
„Won’t you take that ride on heavy metal?“ sang Ron nun mit und grinste zu Alcyone hinüber, die ihn verwundert ansah. „It’s the only way that you can travel down that road – Satisfied on heavy metal, Baby won’t you ride, ride it until it explodes…“
My oh my, how this lady can fly
Once she starts rollin‘ beneath you
You know you just can’t lose, the way she moves
You wait for her to finally release you
It’s not a big surprise to feel your temperature rise
You’ve got a touch of redline fever
‚Cause there is just one cure that we know for sure
You just become a heavy metal believer
Won’t you take that ride on heavy metal?
It’s the only way that you can travel down that road
Satisfied on heavy metal
Baby won’t you ride, ride it until it explodes…
* * *
Fortsetzung: Teil 2
Anhang des Verfassers:
Nachfolgend habe ich Infolinks und Videos zum obigen Kapitel gesammelt, als erstes die Infolinks in der Reihenfolge, wie die Begriffe in diesem Teil vorkommen:
Delta Pavonis, Port Royal, Snake Eyes, Epsilon Indi, Beta Hydri, Eta Cassiopeiae, Van Maanens Stern, gebundene Rotation, Libration, Beta Centauri, World Ranking of Countries by Their Average IQ
Und hier die Videos, als erstes I Don’t Wanna Go Home:
…und hier Heavy Metal (Takin‘ A Ride) aus dem Kapitel B-17 im Film Heavy Metal:
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Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.
Lucifex
/ Juni 9, 2020Da „Ace of Swords“ immer noch ab und zu gelesen wird, habe ich den bisher sehr langen Teil 1 schon am 27. März 2020 unterteilt, um eine Lesung in jeweils einer Sitzung zu erleichtern, und ihn als Entwurf für eine Veröffentlichung „irgendwann einmal“ gespeichert. Dazu hat sich nie eine passende Gelegenheit ergeben, und dann ist mein „Krugbruch am Brunnen“ dazwischengekommen, also meine endgültige Aufgabe meiner Blogtätigkeit.
Anläßlich des zweiten Jahrestages der Veröffentlichung des ersten Teils habe ich diesen Teil 1b nun doch rausgebracht. Jetzt kürze ich den alten Teil 1 auf die ersten zwei Kapitel und den Prolog und ergänze die Verlinkungen in den anderen Teilen und im Glossar.
Nachtrag – hier noch ein Video mit Don Felders Takin‘ a Ride (on heavy Metal, diesmal zu verschiedenen Autoszenen, auch aus Spielfilmen wie Bullitt, Smokey and the Bandit, Dirty Mary, Crazy Larry etc.