Feuerfall (11): Glasscherben am Strand

Ein Science-Fiction-Roman aus dem Galciv-Universum, von Deep Roots alias Lucifex. Dies ist Kapitel 11 von 17 (1. Absatz am 19. April 2022 geändert; siehe Anm. nach Kapitelende), und es gibt zur Begriffs- und Hintergrunderläuterung auch das Glossar zum „Galciv“-Kosmos.

Zuvor erschienen: (1) Reiter auf dem Sturm, (2) Babylon 6, (3) Puffy & Jack, (4) Nesträuber, (5) Nach Thumbnail Gulch, (6) Zur Welt der hundert Meere, (7) Höllenkurtisane, (8) Ungestutzte Flügel, (9) Im Trident Sietch und (10) Über das Meer.

Kapitel 11:   G L A S S C H E R B E N   A M   S T R A N D

Knapp sieben Monate nach jenem ersten Strandaufenthalt mit Julani auf Chakarionn war ich wieder mit ihr an einem Strand, und die Situation hatte sich sehr verändert. Ich war seit acht Tagen wieder auf dieser Welt, nachdem ich für zwei Wochen allein zur Erde zurückgekehrt war, während Julani ihrer Schwester in deren Urlaub Gesellschaft leisten wollte. Danach war ich in der Jeannie ohne Zwischenaufenthalte durch die Wurmlochkette nach Chakarionn geflogen.

Nun standen wir über dem Strand hinter dem Raumhafen von Asriyai, jenseits dessen wir die Lichter um die Seehafenbucht der Stadt sahen, und darüber die blasse Kugel von Skuld auf ihrem planetennächsten Bahnabschnitt. Es war kurz vor Mitternacht, und Tiharonn stand schon hoch am Himmel und beleuchtete die von Bäumen umstandene Flußmündung, über der Dunstschwaden trieben. Die Geräusche des Raumhafenbetriebs und der Stadt drangen als leises Klanggemisch zu uns.

„Gehen wir zum Strand hinunter“, schlug ich vor.

Julani nickte. Hintereinander stiegen wir den Pfad über die Uferböschung hinab, und als wir auf dem Sand standen, hielt Julani sich mit einer Hand an meiner Schulter fest, um sich die Schuhe auszuziehen. Dann wanderten wir schweigend den Strand entlang nach Süden, wo die Flußmündung sich zum Meer hin öffnete. Eine Zeitlang wollte keiner von uns mit der Aussprache anfangen, die nun anstand.

Wir waren von einer Party in Thansirr zurückgekehrt und trugen immer noch Kleidung von ähnlicher Art, wie ich sie erstmals an Gahoriam und im Chakarionnis gesehen hatte. An Julani gefiel sie mir, aber ich selbst kam mir darin ein wenig affig vor. Auch sonst war es für mich eine eher peinliche Veranstaltung gewesen, wie schon andere derartige Anlässe zuvor. Die Sprachbarriere war noch die kleinste Kulturbarriere gewesen, denn auch wenn mein Takharin noch immer nicht für richtige Konversationen reichte und die meisten Anwesenden in Thansirr andere Sprachen verwendeten, hatte ich mir mit einem Translatorset behelfen können. Gravierender war gewesen, daß ich auch hinsichtlich sozialer Gepflogenheiten noch zu weit auf der Lernkurve zurücklag und zu wenig von den Interessen, den öffentlichen Belangen, der Geschichte und Populärkultur der Einheimischen wußte, um ausreichend Anknüpfungspunkte für Gespräche zu haben. Mein Umgang mit der diesbezüglich erfahrenen Aithiras, wenn sie zu Hause gewesen war, hatte mich noch nicht ausreichend darauf vorbereiten können, mich sicher in dieser Kultur zu bewegen. Dazu kam der Eindruck, von den Shomhumans als Hinterwäldler aus einer primitiven Gesellschaft betrachtet und nicht ganz für voll genommen zu werden, auch wenn es für sie interessant war, daß ich aus einer nach ihren Maßstäben gewalttätigen Kultur kam und selber schon getötet hatte, so wie man in unserer Gesellschaft einen Bronzezeitkrieger betrachten würde.

Ich bin noch nie ein Partytiger gewesen, und unter diesen Umständen hatte ich mich zurückgezogen und dabei wieder einmal das Gefühl gehabt, daß Julani sich wegen all dem ein bißchen mit mir genierte, und ich hatte ihr verübelt, daß sie mich zu wenig unterstützte. Diese Dinge kamen zu der unterschwelligen Distanziertheit hinzu, die schon in den Tagen vor meiner Abreise zur Erde zwischen uns entstanden war und sich nach meiner Rückkehr bald wieder eingestellt hatte. Inzwischen waren Spannungen daraus geworden.

Schließlich blieb Julani stehen. Ich drehte mich zu ihr um und betrachtete sie, eine schlanke Gestalt im silbrigweißen Catsuit mit tiefem spitzbogenförmigem Transparenteinsatz, der vom Nabel über ihre Brustwarzen bis an den Rollkragen reichte. In Tiharonns Licht hob sie sich deutlich vor den dunklen Bäumen am jenseitigen Flußufer ab, während ich für sie wohl ein silbern umrissener Schatten vor der Mündungsbucht war.

„Ich glaube, es hat auf Dauer keinen Sinn mit uns“, sagte sie.

Diese Direktheit traf mich, obwohl ich halb erwartet hatte, daß es irgendwann so weit kommen würde. „Was bringt dich zu diesem Schluß?“ fragte ich.

Sie wandte sich ab, und dabei glänzte die breite Haarspange ihrer Steckfrisur über ihrem Kopf auf. Dann sah sie mich wieder an. „Ich habe erfahren, daß du Julia geliebt hast, und ich frage mich, wie weit ich für dich nur eine Ersatz-Julia bin, und wie weit du mich selbst als Person liebst.“

„Das ist doch nur eine Ausrede zur Rechtfertigung einer Trennung, die du aus anderen Gründen willst. Du weißt genau, daß ich dich liebe und nicht nach dieser langen Zeit Julia auf dich projiziere. Und das mit meiner Liebe zu ihr hast du von Pyetar, oder? Was sind deine wahren Gründe? Ist er einer davon?“

Julani holte tief Luft und ließ sie dann mit einem „Ja“ heraus. „Ich habe mich doch dazu entschlossen, Pyetars zweite Frau zu werden. Weil er ein guter Mann ist und weil ich möchte, daß es von ihm auch weiße Kinder gibt. Mit dieser Denkweise hast du mich bekannt gemacht, wenn du dich erinnerst.“

Oh ja, das hatte ich. Wieder ein Eigentor, wie schon mit meinem Interesse für die Khenalai. „Also willst du doch keine romantische reine Paarbeziehung?“

Sie schüttelte traurig den Kopf. „Glaub‘ mir, mein Lieber, es war so schön, nur du und ich, solange es neu war. Aber mir ist klar geworden, daß es mich auf Dauer zu sehr einengen würde, wenn wir immer aufeinander hocken. In einer Dreierehe hätte ich Freiräume, während Pyetar bei seiner anderen Familie ist.“ Hinter ihr startete ein eiförmiges Raumschiff und stieg mit gedämpftem Grollen und schwachem Leuchten aus seinen Konverterdüsen in den dunstigen Nachthimmel auf, wie um die Richtung zu weisen, in die ich auch bald unterwegs sein würde. Ich schaute ihm nach, während ich mir meine nächsten Worte überlegte, und sah dann wieder Julani an.

„Das war’s also?“ fragte ich.

Sie trat an mich heran, faßte mich an den Schultern und ließ dabei ihre Schuhe fallen, die sie immer noch in einer Hand gehalten hatte. „Ich weiß, daß es dich glücklich macht, mit mir zusammen zu sein“, sagte sie, zu mir aufschauend, „aber auf Dauer würde es dich nicht glücklich machen, hier zu sein. Hier zu wohnen. Du wirst eine andere Liebe finden; du hast alle Voraussetzungen dafür. Laß es mich dann wissen.“

„Und wirst du glücklich sein? Als zweite Frau neben Hanais?“

„Ich habe schon mit ihr und Pyetar das Bett geteilt. Ja, ich komme gut mit ihr aus.“

Die Endgültigkeit, mit der diese Eröffnung mir vermittelte, wie rettungslos mir die Beziehung zu Julani schon entglitten war, traf mich als erneuter Schlag. Ich wollte nichts als weg von dieser Welt. „Gehen wir wieder zum Beiboot“, brachte ich nur noch heraus.

*     *     *

Kurz nach Mitternacht hatte ich Chakarionns Atmosphäre schon unter mir und beschleunigte in eine Transferbahn zu Skuld. Ich saß in der Zentrale der Jeannie und hatte den Datenchip, den Pyetar mir gegeben hatte, in einem Schlitz des Kontrollpults stecken. Mein Anruf ging an seine Privatadresse, aber als Pyetars müdes Gesicht auf einem Hilfsbildschirm des Pults erschien, saß er offensichtlich noch in seinem Büro.

„Ich habe Sie erwartet“, sagte er und machte eine abwehrende Handbewegung. „Ich kann mir denken, wie es Ihnen jetzt geht, aber machen Sie’s kurz, denn ich habe noch dringende Sachen zu erledigen.“

„Keine Sorge“, versetzte ich gallig, „ich wollte Ihnen nur dazu gratulieren, daß Sie gewonnen haben. Nicht nur Julani, sondern auch mit Ihrer Absicht, mich von ihr zu trennen, damit ich wieder für das Anliegen Ihres Vorgesetzten frei werde. Deshalb sind doch ausgerechnet Sie mein Kontaktmann dafür, oder? War das seine Idee oder Ihre?“

Er rieb sich die Augen und sah mich dann ernst an. „Die Gründe, die Julani Ihnen dafür genannt hat, daß es so besser ist, sind sicherlich richtig. Meine Motive bezüglich dieses Anliegens werde ich Ihnen nicht sagen. Aber außerdem könnten Sie Julani nicht so vor gewissen Begierden schützen, wie ich es in meiner Position kann. Für Aithiras konnte ich das noch nicht tun, aber für Julani werde ich es tun. Deshalb ertrage ich diesen Vorgesetzten. Er weiß es, deshalb kann ich das über diese Verbindung sagen.“

Aithiras? Kennen Sie sie denn schon länger als Julani?“

„Es war kein Zufall, daß ich der Expedition zugeteilt wurde, auf der ich Julani begegnete. Ich habe dafür gesorgt. Um für Aithiras‘ Tochter da zu sein. Kann ich darauf hoffen, in jenem… anderen Zusammenhang von Ihnen zu hören?“

Irgendetwas in der Art, wie Pyetar seine Erklärungen vorbrachte, veranlaßte mich trotz allem zu bejahen. „Können Sie mich dabei mit Informationen über kriminelle Earthins unterstützen?“ fragte ich ihn dann noch.

„Ja“, sagte er. „Passen Sie auf sich auf.“ Damit unterbrach er die Verbindung.

Während das Schiff weiter beschleunigte, nahm ich über Earthincom, dessen Netz bis Chakarionn reichte, Kontakt zum irdischen Internet auf. Dort suchte ich nach einem Video eines Liedes von U2, das ich schon lange nicht mehr angehört hatte. Die Verbindung lief zäh, aber schließlich fand ich ein Video, bei dem der Text in großen hellblauen Buchstaben eingeblendet wurde. Ich lud es herunter und trug der Schiffs-KI auf, das Lied abzuspielen und dazu den Text in derselben Schrift mit der Außenansicht des Weltraumhintergrundes auf der Bildschirmkuppel der Zentrale zu kombinieren. Dann lehnte ich mich zurück und hörte das Lied an, das seit jenem Augusttag mein Julia-Lied gewesen war und nun ebenso zu meiner Situation mit Julani paßte:

You’re dangerous ‘cause you’re honest
You’re dangerous, you don’t know what you want.
Well you left my heart empty as a vacant lot
For any spirit to haunt.

You’re an accident waiting to happen
You’re a piece of glass left there on a beach.
Well you tell me things I know you’re not supposed to
Then you leave me just out of reach.

Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna drown in your blue sea?
Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna fall at the foot of thee?

Falls mit dem Ertrinken im blauen Meer das Versinken in den blauen Augen der Angesprochenen gemeint war, dann mußte es im Fall von Julani ebenso wie bei Julia „green sea“ heißen, aber ansonsten traf alles so genau zu wie damals auf Julia.

Well you stole it ‚cause I needed the cash
And you killed it ‚cause I wanted revenge.
Well you lied to me ‚cause I asked you to.
Baby, can we still be friends?

Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna drown in your blue sea?
Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna fall at the foot of thee?

Ah, the deeper I spin
Ah, the hunter will sin for your ivory skin.
Took a drive in the dirty rain
To a place where the wind calls your name
Under the trees, the river laughing at you and me.
Hallelujah! Heaven’s white rose
The doors you open I just can’t close.

Don’t turn around, don’t turn around again.
Don’t turn around your gypsy heart.
Don’t turn around, don’t turn around again.
Don’t turn around, and don’t look back.
Come on now love, don’t you look back.

Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna drown in your blue sea?
Who’s gonna taste your saltwater kisses?
Who’s gonna take the place of me?
Who’s gonna ride your wild horses?
Who’s gonna tame the heart of thee?

Nachdem das Lied zu Ende war, blieb ich noch einige Minuten sitzen und dachte über meine Beziehung zu Julani nach. War ich für sie von Anfang an hauptsächlich ein Mittel für ihren vergeblichen Versuch gewesen, über Pyetar hinwegzukommen? Falls es doch mehr gewesen war, dann hätten wir dies und alle anderen Probleme vielleicht überwinden können, hätte ich mich nur von Anfang an konsequent um Julani bemüht und dadurch schon früher eine engere Bindung aufgebaut, wenn ich mich schon nicht voll zu Talitha bekennen konnte. Aber ich hatte herumgeeiert, und nun hatte ich keine der beiden.

Schließlich raffte ich mich dazu auf, die aktuelle Tageszeit in der Kyurui-Wüste in Erfahrung zu bringen. Als ich sie kannte, schickte ich mein Angebot als schriftliche Nachricht dorthin und gab dem Schiff Anweisung, die Wurmlochpassagen zum Mondsystem von Karendru abgestimmt für eine Ankunft in zwei Tagen zu buchen. Dann ging ich unter die Dusche.

*     *     *

Als ich vor dem Trident Sietch aufsetzte und mit einer Flasche Klevner in der Hand um das Heck der Jeannie zum Eingang marschierte, war es dort schon Nachmittag. Eine schlaksige Negerin in einer dunkelblauen Uniform öffnete die Tür und sagte: „Bitte kommen Sie herein, die Chefin ist im Büro. Sie sagte, Sie würden den Weg noch kennen.“

Ich nahm den Aufzug, und schon vor der Tür zum Büro hörte ich Klaviertöne, deren Melodie ich gleich nach den ersten paar Takten erkannte. Drinnen wandte ich mich nach rechts und sah Ndoni in einem schlichten grünen Kleid und mit inzwischen brustlangem offenem Haar vor der Fensterfront am Klavier sitzen. Sie schaute kurz zu mir und begann dann zu singen:

„I’m not Talitha,
Nor am I Julie,
Talitha left you
Months ago.
My eyes are not blue
But mine won’t leave you
Till a sunlight
Shines through your face.“

„Sehr schön, Lady Greensleeves“, sagte ich nach dieser ersten Strophe und blieb neben ihr stehen. „Ich weiß nur nicht, ob du mich damit einwickeln oder aufziehen willst. Oder beides.“

„Pöh… was du mir zutraust. So etwas würde ich doch nie tun. Such dir ein Glas aus.“ Sie deutete auf die zwei Alhaurigläser, die auf einem Tablett vor ihr auf dem Klavier standen, und spielte weiter. „She was your morning light, her smile told of no night, your love for her grew with each rising sun… soll ich weitersingen?“

„Danke, ein anderes Mal vielleicht.“ Ich griff nach einem Glas, und Ndoni nahm das andere und stieß mit mir an. „Cheers“, sagte sie, „auf unsere künftige Zusammenarbeit. Ich bin froh, daß du dich doch dazu entschlossen hast.“

„Prost darauf. Das verdankst du meinen beiden Verflossenen.“

Sie lächelte schelmisch. „Wenn Talitha dich hier so sehen könnte… hasst du sie eigentlich immer noch, nach der Art, wie sie dich sitzengelassen hat?“

„Ich habe sie nie gehasst“, sagte ich ernst und nahm einen weiteren Schluck. „Es geht dich zwar nichts an, aber… auf einer gewissen Ebene liebe ich sie immer noch. Und irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, daß sie für ihr Verschwinden Gründe hatte, die ich verstehen würde.“

Das Lächeln verschwand aus Ndonis Gesicht. „Immer noch der Weiße Ritter“, sagte sie und schwenkte den verbliebenen Alhauri in ihrem Glas herum. „Trotz der Dinge, die sie zusammen mit ihrem Mann getan hat?“

„Zum Beispiel mit dir?“

Sie schien unter ihrer Bräune zu erröten. „Oh… das kennst du?“

„Ja.“

„Alles?“

„Alles nicht, aber das allermeiste, würde mein Namensvetter Derek Flint sagen. Ich weiß nicht, ob das alles war, aber es war so einiges.“

Ndoni schaute auf die Tasten des Klaviers und sah mich dann wieder an. „Oh, ich bin unhöflich“, sagte sie. „Da sitze ich hier und lasse dich stehen. Nachdem ich ohnehin nicht mehr weiterspiele, können wir uns ja drüben an den Tisch setzen.“ Sie trank aus, stand auf und wedelte mit ihrem leeren Glas. „Noch einen Alhauri?“

„Einer geht noch“, antwortete ich und trank ebenfalls aus, während ich mich zur Sitzgruppe hin in Bewegung setzte und mit der Klevner-Flasche deutete. „Wir haben ja auch das noch für später zum Essen, und ich bin nicht so geeicht, wie du es anscheinend bist.“

„Ach, tu nicht so mädchenhaft. Dafür hast du mindestens um die Hälfte mehr Blut, da verteilt sich das schon.“ Sie ging zur Hausbar, holte die gekühlte Alhauriflasche heraus und kam damit zu mir an den Tisch.

„Es wird dich vielleicht interessieren“, begann ich, während sie einschenkte, „daß ich inzwischen in Györgys Dateien verschlüsselte Aufzeichnungen gefunden habe, in denen er protokollierte, wie er Talitha gemäß der Erkenntnisse des Milgram-Experiments zum Mitmachen bei seinen Taten verführte. Er schrieb, daß sie immer mehr Skrupel bekam und daß es deswegen zunehmend Streit zwischen ihnen gab, sodaß er schon überlegte, sie loszuwerden. Bei unserer ersten Begegnung hatte er auch den Eindruck gehabt, daß es zwischen ihr und mir gefunkt hat, auch wenn wir beide das noch verdrängt haben. Er hat sie darauf angesprochen, und als sie es abstritt, hat er ihr befohlen, als Treuebeweis den Überfall auf Babylon 6 gegen uns zu organisieren. Nachdem ich das gelesen hatte, habe ich mir die Aufnahmen aus dem Chakarionnis angesehen und dabei bemerkt, daß die Kellnerin, die den Messermann behinderte, größer als die anderen war. Der Helm hat ihr Gesicht verdeckt, aber ihre Kinn- und Mundpartie sah laut Computervergleich wie jene von Talitha aus. Ich frage mich, ob sie das vielleicht war.“

Ndoni sah mich eine Weile stumm an. „Das war aber nicht bei den Sachen dabei, die ihr uns verkauft habt“, sagte sie dann.

„Es war unter einer Tarnbezeichnung in einem der privaten Ordner enthalten, die Talitha uns von den Computern zu entfernen gebeten hat. Sie hatte offenbar keine Entschlüsselungsmöglichkeit für diese Datei gehabt. Ich kann dir eine Kopie davon geben.“

„Was willst du dafür?“

„Nichts… außer einer gerechteren Sicht auf Talitha. Sie hat mir auch gesagt, daß es ihr nachträglich leidtut, was György und sie damals mit dir getan haben.“ Ich versuchte mich an das zu erinnern, was mir kurz zuvor eingefallen war, und sagte dann: „Den Spruch tu nicht so mädchenhaft hat deine Mutter gern verwendet. Hast du dir schon überlegt, ob du sie besuchen willst?“

„Ich war inzwischen schon bei ihr. Dabei habe ich erfahren, daß ich in Österreich amtlich immer noch Samantha Berta Rossmann heiße. Ich habe ihr übrigens erzählt, daß ich dich kenne, und ihr als Beweis Aufnahmen von den Treffen auf Hektalassa und hier gezeigt.“ Sie sah mich bedeutsam an. „Jetzt weiß ich, wie du wirklich heißt…“

„Hast du ihr die Wahrheit über deine Aktivitäten gesagt?“

„Nein, nichts über die Galciv-Sache. Ich habe ihr etwas Harmloses vorgeflunkert, auch über das, was Pop macht. Bei ihm halt so harmlos, daß es für sie noch glaubhaft war.“

„Und hast du über die Trennungsgründe deiner Eltern etwas herausgefunden, das dein Vater dich nicht wissen lassen wollte?“

Diese Frage schien Ndoni befürchtet zu haben, denn sie sah nun merklich unglücklich drein. „Ja, leider“, sagte sie leise. „Pop und meine Mutter hatten nicht zusammengelebt, sondern sich nur immer wieder besucht. Sie war vielleicht schon unwissentlich mit mir schwanger, als sie wieder einmal bei ihm in Graz war, oder vielleicht wurde ich bei diesem Anlaß gezeugt. Sie waren miteinander im Bett – die Details lasse ich weg -, als die Tür aufging und eine Gruppe schwarzer Freunde von Pop hereinkam. Er hatte sie ohne Mutters Wissen zu einer Gruppensex-Party eingeladen, und als Mutter protestierte, sagte er, sie solle sich nicht so haben. Sie hat ihre Sachen geschnappt und ist ins Stiegenhaus geflüchtet. Danach hat sie mit Pop Schluß gemacht, und er ging nach Amerika. Und später, als ich schon fast drei Jahre alt war, hat er mich dorthin entführt und mir den Namen Ndoni gegeben, das bedeutet Segen oder die Gesegnete. Meine Mutter hat mich danach nie wiedergesehen.“ In ihren Augen schimmerten Tränen und gaben mir eine Ahnung davon, wie emotional die Begegnung gewesen sein mußte.

„Und jetzt ist wahrscheinlich dein Verhältnis zu ihm belastet.“

„Kann man sagen. Wie für ihn typisch, versucht er es mit Geld zu beheben, so wie früher immer, wenn er wieder einmal nicht gerade der geduldigste Vater gewesen war, und ich nütze das aus, aber… ganz so wie vorher sehe ich ihn nicht mehr.“

Das brachte einen zuvor schon halb ausgeformten Gedanken in mir an die Oberfläche, den ich zur Vergrößerung ihrer Kluft zu Maxim gleich aussprach. „Als ich zum ersten Mal hier war, hast du gesagt, daß dich manches von dem schaudern läßt, was in deinem Umfeld geschieht, und daß du soo böse auch wieder nicht werden willst. Kann es sein, daß die letzten Jahre für dich ein einziges lang hingezogenes Milgram-Experiment waren, mit deinem Vater als Spielleiter und Autoritätsfigur?“

Ihre Miene verriet Unbehagen. Einige Momente schwieg sie, ehe sie antwortete. „Darüber werde ich später allein nachdenken. Und jetzt würde ich gern zum Geschäftlichen kommen.“

„Das ist mir ganz recht. Die Eckpunkte wie damals von dir vorgeschlagen würden mir schon so passen.“

Ndoni lächelte schon wieder. „Die Details müssen natürlich noch genauer ausverhandelt werden“, sagte sie. „Und es gibt noch eine wichtige Zusatzbedingung.“

„Als da wäre?“ fragte ich, eine Überraschung erwartend. Aber auf das, was sie vorschlug, war ich nicht gefaßt.

„Aus taktischen Gründen treten wir nach außen als Paar auf.“ Sie nippte vom Alhauri und sah mir dabei über das Glas hinweg gespannt in die Augen.

„Mit dem hätte ich jetzt nicht gerechnet“, sagte ich und erwiderte ihren Blick. „Aber es klingt interessant. Was sind das für taktische Gründe?“

Sie schien sich etwas zu entspannen. „Erstens“, sagte sie, „würde der Anschein einer engeren Verbandelung mit einer Earthin-Bande dein Breaking Bad glaubhafter erscheinen lassen, zumal nach der Trennung von deiner Sternenfee.“

„Moment mal“, hakte ich ein, „woher kennst du diesen Ausdruck?“

„Hmmm… ich glaube, du hast sie so genannt, als ihr damals hier wart.“

Daran konnte ich mich zwar nicht erinnern, aber ich mußte es mangels Beweis auf sich beruhen lassen. „Und zweitens?“

„Und zweitens möchte ich von dem Badass-Image von dir und deinem Lwaong-Schiff profitieren. Wenn es so aussieht, als hätten wir eine Beziehung, dann werden manche sich eher davor hüten, mich irgendwo allein erwischen zu wollen, weil sie deine Rache zusätzlich zu der von Pop fürchten.“

Und es wäre auch eine Rückendeckung für mich, als potentieller Schwiegersohn von Maxim Kaunda gesehen zu werden, dachte ich. Auch wenn es mir andererseits vielleicht zusätzliche Feinde einbringen mochte. „Wie stellst du dir das in der Praxis vor?“

Ndoni lehnte sich zurück und raffte ihre Haare mit beiden Händen über ihren Hinterkopf. „Wir geben uns in der Earthin-Öffentlichkeit als Paar aus. Wir reisen zusammen, in meinem Schiff oder in einem von deinen. Du kannst hier im Sietch wohnen, wann immer ich auch da bin, und das gilt auch für das Anwesen, das ich mir gerade mit Pops Geld auf Delpavo herrichte.“

„Ist das dein eigenes Projekt, das du damals auf Hektalassa erwähnt hast?“

„Ja; damals wußte ich noch nicht, daß ich den Sietch bekommen würde. Es ist eine Art ehemaliger Karawanenposten in einer Wüste östlich des Heyong-Salzwasserstroms. Ein anderer Earthin hatte sich schon eine Weile darin eingerichtet, als Pop und Merton ihm den Bau abnahmen. Ich mache daraus meinen eigentlichen Gästebetreuungsbetrieb, nachdem Delpavo jetzt durch die neu eröffnete Wurmlochverbindung von Babylon 6 aus erreichbar ist. Ich habe noch keinen Namen dafür.“

„Wie wär’s mit Caravanserai?“

„Gute Idee. Es soll eine Art neutraler Treffpunkt und Erholungsort für Earthins werden. Wie Smades Gasthaus in Jack Vances Jäger im Weltall, aber größer, luxuriöser und… sexier. Dort würde ich wie eine Spinne nützliche Informationen aus der Szene in meinem Netz fangen. Ich könnte übrigens etwas Zusatzkapital dafür brauchen. Vielleicht übernimmst du einen Teil davon, sagen wir, den reinen Restaurantbetrieb, und betreibst ihn unter dem Namen Draco Tavern?“

„Wie Larry Nivens Raumhafenbar? Das wäre ein zugkräftiger Name. Und das Infosammeln wie Quark in seiner Bar auf Deep Space Nine könnte auch für meine Zwecke interessant sein. Vielleicht mache ich das, je nachdem, wie langfristig unsere Zusammenarbeit wird. Für die habe ich auch eine Zusatzbedingung: solange wir ein Team sind, begehst du keine Verbrechen, versklavst und tötest keine Unschuldigen, beteiligst dich nicht am Drogenhandel. Falls du jetzt schon Sklavinnen besitzt, läßt du sie frei, und ich ersetze dir ihren Marktwert. Ohne das gibt’s keinen Deal.“

Sie spielte nachdenklich mit einer Strähne ihrer Locken. „Akzeptiert“, sagte sie dann, „wenn du meine Zusatzbedingung annimmst.“

„Geht klar.“ Ich schaute zum Klavier vor den Fenstern, hinter denen die Schatten in der weißen Wüste schon länger wurden. „Bevor wir aber bis zum Essen die Details für den Vertrag festlegen, könnten wir uns noch etwas entspannen. Ich will ja nicht, daß du deine Version von I’m not Lisa umsonst umgedichtet und einstudiert hast.“

„Du meinst…?“

„Spiel’s nochmal, Samantha.“

Fortsetzung: Kapitel 12 – Zwischen Abend- und Morgendämmerung

Anhang des Verfassers:

[Änderungsanmerkung 19. April 2022: ich habe die Zeit zwischen der ersten Ankunft auf Chakarionn und dem Beginn von Kapitel 12 um neun Monate gestreckt, damit die Entwicklung der Beziehung zu Julani und das Erlernen der takharischen Sprache über einen plausibleren Zeitraum stattfinden kann und auch für die Kooperation mit Ndoni vor Kapitel 12 mehr Zeit zur Verfügung steht.]

Nachfolgend habe ich wieder Links und Videos zum obigen Kapitel gesammelt, zuerst die Links in der Reihenfolge, wie die Begriffe darin vorkommen:

Derek Flint (in einem der Filme sagte Flints Vorgesetzter: „Verdammt, Flint, Sie glauben wohl wirklich, Sie wissen alles?“, worauf Flint antwortete: „Alles nicht, aber das allermeiste.“), Milgram-Experiment, mein Kommentar über eine Milgram-Nachfolgestudie, Breaking Bad, The Draco Tavern (Wikipedia englisch; auf Deutsch sind diese SF-Kurzgeschichten von Larry Niven in einem Sammelband mit dem Titel „Geschichten aus der Raumhafen-Bar“ erschienen), The Draco Tavern (Goodreads), The Draco Tavern (TV Tropes)

Auszüge aus dem in Smades Gasthaus spielenden Anfang von Jack Vances SF-Roman „Jäger im Weltall“ sind in der Einleitung zur Tavernenrunde 08 enthalten.

Und hier die Videos – zunächst „5 Signs She’s Not Over Her Ex… (You’re A REBOUND!)“ von Courtney Cristine Ryan:

„Who’s Gonna Ride Your Wild Horses“ von U2 in der Originalversion aus dem Album „Achtung Baby“:

…und in der Version „The Temple Bar Edit“:

…sodann Jessi Colter mit einer Liveversion von „I’m Not Lisa“:

…und die originale Studioversion davon:

„Caravanserai“ von Loreena McKennitt (hier in der 6:59 min. langen Konzertversion von 2007 in der Alhambra) hat mich nicht nur auf den Namen für Ndonis Etablissement auf Delpavo/Pavonia gebracht, sondern enthält auch Bezüge zum gleichnamigen Kapitel 13:

This glancing life is like a morning star
A setting sun, or rolling waves at sea
A gentle breeze or lightning in a storm
A dancing dream of all eternity

The sand was shimmering in the morning light
And dancing off the dunes so far away
The night held music so sweet, so long
And there we lay until the break of day

We woke that morning at the onward call
Our camels bridled up, our howdahs full
The sun was rising in the eastern sky
Just as we set out to the desert’s cry

Calling, yearning, pulling, home to you

The tents grew smaller as we rode away
On earth that tells of many passing days
The months of peace and all the years of war
The lives of love and all the lives of fears

Calling, yearning, pulling, home to you

We crossed the river beds all etched in stone
And up the mighty mountains ever known
Beyond the valleys in the searing heat
Until we reached the caravanserai

Calling, yearning, pulling, home to you
Calling, yearning, pulling, home to you

What is this life that pulls me far away
What is this home where we cannot reside
What is this life that pulls me onward
My heart is full when you are by my side

Calling, yearning, pulling, home to you

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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