Feuerfall (14): Spuren (Gimme Shelter)

Ein Science-Fiction-Roman aus dem Galciv-Universum, von Deep Roots alias Lucifex. Dies ist Kapitel 14 von 17, und es gibt zur Begriffs- und Hintergrunderläuterung auch das Glossar zum „Galciv“-Kosmos.

Zuvor erschienen: (1) Reiter auf dem Sturm, (2) Babylon 6, (3) Puffy & Jack, (4) Nesträuber, (5) Nach Thumbnail Gulch, (6) Zur Welt der hundert Meere, (7) Höllenkurtisane, (8) Ungestutzte Flügel, (9) Im Trident Sietch, (10) Über das Meer, (11) Glasscherben am Strand, (12) Zwischen Abend- und Morgendämmerung und (13) Caravanserai.

Kapitel 14:   S P U R E N   ( G I M M E   S H E L T E R )

„Ausgezeichnet“, murmelte Nirdol und schnüffelte am geschweiften Hals des Glaskolbens, der auf einem antik aussehenden bronzenen Dreifuß vor ihm stand. Den leise fauchenden Brenner unter dem Gefäß hatte er gerade weggestellt. „Ausgezeichneter Stoff.“ Welche Substanz er da erhitzt hatte, verriet er mir nicht.

Ich blieb geduldig vor ihm stehen, so wie ich gerade vom Landedeck unter seinem Penthouse heraufgekommen war, wo mein Nouris-Beiboot neben zwei anderen Flugmaschinen parkte. Anviur-Diener hatten mich wieder mit einer diesmal dunkelgrünen kimonoähnlichen Robe ausgestattet, unter der ich nichts Eigenes tragen durfte. Als Nirdol mich weiter ignorierte, betrachtete ich die Sachen auf seinem Arbeitstisch und wunderte mich über seinen Hang zu einer Kombination aus hypermodern und retro, die sich neben dem Bronzedreifuß auch an der mechanischen Waage und dem Computerterminal zeigte. Auch andere Gegenstände hinter mir im Raum deuteten darauf hin.

„Gleich bin ich hier fertig“, wandte er sich endlich an mich. „Vielleicht möchten Sie einstweilen meiner Geschäftspartnerin Gesellschaft leisten?“

„Gerne.“ Ich ging um seinen Arbeitsbereich herum zu der hageren Frau, die an der riesigen Fensterfront stand und sich bei meinem Eintreten vom Panorama der Stadt Altavor abgewandt hatte. „Freut mich, Sie zu sehen, Herr Flint“, begrüßte sie mich in fast akzentfreiem Deutsch. „Vielleicht erraten Sie meinen Namen?“

„Ich versuch’s“, sagte ich, überrascht über ihre Anwesenheit, und unterdrückte ein Schmunzeln wegen der Anspielung. „Eine Dame von Reichtum und Geschmack… mit weitverzweigten Verbindungen, der man nachsagt, eine heimliche Königin von Altavor zu sein… könnte es sein, daß Sie Kirray heißen?“ Und ich sag‘ dir nicht, daß ich die Natur deines Spiels hier verstehe, fügte ich in Gedanken hinzu.

Sie zog eine Augenbraue hoch. „Wenn Ihnen das nicht der Teufel gesagt hat, dann haben Sie Ihre Hausaufgaben gut gemacht“, antwortete sie.

Besser als du denkst, dachte ich und sah in das rassisch undefinierbare Gesicht unter der wilden Medusenfrisur, das auf seltsame Weise alt und doch wieder alterslos aussah. Sie war in jungen Jahren vielleicht einmal schön gewesen, aber nun, nach Jahrhunderten, wirkte sie herb und hintergründig böse wie ihr Liebhaber und Volksgenosse Nirdol. Laut sagte ich: „Der Teufel spricht nicht mit mir, daher bin ich auf mich selbst gestellt.“

Sie wandte ihren Blick wieder der Hauptstadt von Zetuca zu, die an diesem Sommermorgen unter dem flach einfallenden Licht von Ssrranths Sonne Zeta Tucanae lag. „Königin von Altavor…“ sagte sie, „das möchte ich lieber nicht sein, auch wenn es mir hier gut gefällt. Es brächte zu viel öffentliche Aufmerksamkeit. Ich ziehe es vor, bloß eine Geschäftsfrau zu sein, die zufällig recht erfolgreich und gut vernetzt ist.“

Ich ging nicht auf diese tiefstapelnde Halbwahrheit ein und schaute ebenfalls hinaus. Die Aussicht rundum war prächtig, denn das Hochhaus, dessen oberstes Stockwerk Nirdols Penthouse einnahm, stand auf einem Hügel, und die sieben Meter hohen Glasfronten des Lofts boten freien Ausblick nach Osten, Süden und Westen. Nordseitig, wo die Nebenräume lagen, wurde die Aussicht durch einen höheren Turm versperrt, um den ich hatte herumfliegen müssen. Es war beeindruckend, was hier seit der Gründung dieses Staates geschaffen worden war. Die Bauten waren nach Vorbildern aus Shomhuman-Kulturen entworfen worden; weiter nach rechts, am hügeligen Südwestrand der Stadt, ragten mehrere besonders riesige Türme auf, ebenso kühn geschwungen wie die anderen.

„Sind alle diese Gebäude schon bewohnt?“ fragte ich Kirray.

„Nein, noch nicht“, antwortete sie. „Es gibt wegen des erwarteten starken Zuzugs einen Bauboom, aber die Türme stehen teilweise noch leer, und manche sind innen noch nicht fertig ausgebaut. Weil sie von irdischen Unternehmen mit irdischem Personal gebaut werden, gibt es einen Mix von Materialien und Technik aus der Galciv und von der Erde. Bei unausgebauten Türmen wie diesen großen dort am Westrand wird viel vom Inneren durch provisorische Decken, Streben und Wände aus Holz ausgefüllt.“

Also hatte Altavor noch nicht so viele Einwohner, wie seiner Größe entsprochen hätte. Dennoch mußten schon viele hier wohnen, denn es gab einen regen Flugverkehr, und auf dem Nardanfluß, der sich nach Süden dem hundert Kilometer entfernten und hundertachtzig Meter tiefer liegenden Meer entgegenwand, waren viele Boote und Schiffe unterwegs. Das Wasser des Nardan kam aus der Nadelwaldzone in seinem weit im Nordwesten liegenden Quellgebiet, aus Nebenflüssen von einem Gebirge im Nordosten – und aus einem Wurmlochportal, das in dieses siebzig Kilometer entfernte Gebirge eingebaut worden war. Jenes Wurmloch war mit dem gigantischen Wurmlochkomplex verbunden, durch den Wasser aus dem zugefrorenen Ozean des äußeren Nachbarplaneten Rurross zu Ssrranths äußerstem Mond Thrian’shai geleitet und von dort auf den Planeten verteilt wurde, um den kolossalen Wasserverlust durch das relativistische Bombardement vor sechs Jahrtausenden zu ersetzen. Die Wiederauffüllung war noch etwa hundert Meter von der Zielhöhe entfernt, die in zwei Jahrhunderten erreicht sein sollte.

In der Halbwüste im Regenschatten jenseits des Gebirges hatte man Zetucas Haupt-Raumhafen Zetaport und eine Industriezone angelegt, von wo Röhrenbahnen zu den Bevölkerungszentren führten. Bei meiner Landung mit Nouris hatte ich dort Passagierraumer jenes eiförmigen Typs gesehen, der uns auf dem ersten Flug nach Babylon 6 begegnet war. Nun wußte ich, wozu sie dienten. Zetucas Bevölkerungszahl war öffentlich nicht zu erfahren, aber es mußten schon ein paar Millionen sein, und alle waren Galciv-Bürger. Da auch die Einreise zu Besuchszwecken nur Galciv-Bürgern und registrierten Earthins erlaubt war und deren Wiederabreise von einer Sontharr-Behörde kontrolliert wurde, gab es in Zetuca praktisch keine Sklavenhaltung. Talithas Aufenthalt mit Maxim und Merton war eine Ausnahme gewesen, weil sie selbst Earthin-Status hatte.

Ein Seitenblick zeigte mir, daß Kirray nicht mehr die Stadt, sondern mich betrachtete. „Gefällt Ihnen, was Sie sehen?“ fragte sie ruhig, ohne Verlegenheit darüber, daß sie mich offensichtlich studiert hatte.

„Ich finde es interessant“, antwortete ich und sah wieder hinaus. Im Gegensatz zu ihr fühlte ich mich unbehaglich, denn zu Kirrays Ruf gehörte auch, daß sie eine Psychohexe mit überragender Menschenkenntnis war, und mir kam eine Ahnung, daß Nirdol sie deshalb eingeladen und damit in Kauf genommen hatte, daß ein Außenstehender von seiner Verbindung zu ihr erfuhr, weil sie mich für ihn einschätzen sollte.

Der, wer rein im Geist und sonder Furcht ist… blödelte ich in Gedanken, um mich von eben jener Furcht abzulenken, in die mein Unbehagen sich zu verwandeln drohte. Ich wußte nämlich nicht nur, daß sie keine harmlose Geschäftsfrau, sondern die gefürchtete Anführerin der mächtigsten nichtjüdischen Verbrecherorganisation in Zetuca war. Pyetar – ein Faktor, den Nirdol unterschätzte, weil er wegen der Rivalität um Julani nicht dachte, daß wir einander dennoch achten könnten – hatte mich darüber hinaus bei einem Treffen über die wahre Natur von Kirray und ihrem Spiel informiert.

Sie war nicht nur Nirdols Geliebte, sondern auch selbst eine Khenali und eine hochrangige Agentin im Geheimdienst ihres Volkes. In dieser Funktion hatte sie schon seit vielen Jahren auf der Erde eine Verbrecherbande aufgebaut, die aus Khenalai mit falschen irdischen Identitäten bestand und deren eigentlicher Zweck die Beobachtung jüdischer Eliten war. Nach der Gründung Zetucas war sie mit ihrer Organisation als scheinbare kriminelle Earthin-Goyim dorthin übersiedelt, um diesen Staat zu unterwandern und ihre Beobachtungsmission dort fortzusetzen. Durch ihre vermischte Abstammung sahen diese Leute mehr oder weniger wie Mischlinge aus Weißen mit anderen Rassen aus, was die Juden von Zetuca beruhigte, weil ihnen solche als Mitbürger lieber waren als Weiße. Sobald Kirrays Gegen-Mafia etabliert war, hatte sie begonnen, die Einwanderung weiterer Khenalai in derselben Tarnung zu fördern. Dabei hatte sie nur einen kleinen Teil der Neueinwanderer als zusätzliche Mitglieder aufgenommen und aus anderen scheinbar unabhängige und mit ihr konkurrierende Banden gebildet, die aber trotzdem insgeheim alle mit der Mutterorganisation vernetzt blieben. Wieder andere mimten Erdlinge, die nur der Strafverfolgung in ihrem Herkunftsland ausweichen wollten, und alle hielten sich an die Regel, daß Kriminalität und Konflikte außerhalb von Zetuca stattzufinden hatten.

Kirray mußte damit rechnen, daß die jüdische Mafia von Zetuca, die politische Führung und die Sontharr sie grillen würden, wenn sie von diesen Umtrieben erführen, und mir war klar, daß Kirray und Nirdol mich deshalb erst recht grillen würden, wenn sie wüßten oder auch nur argwöhnten, was ich wußte. Zumal ich kurz zuvor das wahre Ausmaß der Unterwanderung erfahren hatte, das nicht einmal Pyetar bekannt war.

Nouris hatte auf meine Anweisung im Datenverkehr nach Zetuca der Kommunikation von Kirrays Bande nachgespürt, die sie aber nicht hatte lesen können, weil sie separat verschlüsselt war. Auf der Suche danach hatte sie jedoch entdeckt, daß von der unverschlüsselten Kommunikation ein Viertel in der Sprache der Khenalai stattfand. Falls es stimmte, daß die Juden ein Viertel der Bürger Zetucas stellten, dann bedeutete das, ebenso viele der nichtjüdischen Einwohner Khenalai waren. Hunderttausende, vielleicht eine Million. Viel mehr, als für eine bloße Beobachtung der Juden notwendig war. Womöglich genug für einen überraschenden Schlag gegen sie. Ich begann zu bereuen, daß ich mich des Schmähs um Sympathy for the Devil halber dazu hatte hinreißen lassen, bei der Begrüßung auch nur jenes bißchen von meinem Wissen über Kirray erkennen zu lassen.

„Gefallen hat mir die Wildnis im Norden“, sagte ich, um das Schweigen zu beenden. „Erstaunlich, was für alte Wälder dort schon entstanden sind. In diesen Breiten muß die Pflanzensukzession doch lange dauern.“

„Die Sontharr haben diesen Kontinent schon seit viereinhalb Erdenjahrhunderten mit irdischen Pflanzen und der nötigen Fauna besiedelt“, erläuterte Kirray. „Damals war das Klima wegen des höheren CO2-Gehalts der Atmosphäre noch wärmer, zu warm für tharrissianische Polarvegetation, die mit der geringen UV-Einstrahlung gerade noch auskäme.“

„So lange betreiben sie schon die Wiederbelebung des Planeten?“

„Viel länger. Das Ökologische Zentralinstitut der Sontharr auf Ssrranth, von dem aus sie das Kolonisierungsprojekt leiteten, wurde vor tausend Jahren im Zentralgebirge von Rirthass auf der Südhalbkugel errichtet. Es existiert immer noch, und bis ins zwanzigste Jahrhundert war es die einzige Niederlassung auf dieser Welt.“

Ehe ich den Gedankenansatz, zu dem diese Informationen mich angeregt hatten, weiterverfolgen konnte, wurde ich durch das Klappern von Nirdols Gerätschaften abgelenkt, als er sie beiseitestellte.

„So, ich bin fertig“, sagte er und verschob sein Computerterminal nach links. Dann drehte er sich mit seinem Bürostuhl zum abgerundeten Ende seines Arbeitstisches, zu dem eine rothaarige Frau gerade zwei dunkelblaue Polstersessel rollte. Sie mußte leise hereingekommen sein und schweigend gewartet haben, während Kirray und ich hinausgesehen hatten, und als sie aufschaute, erkannte ich, daß es Aithiras Ghaseyon war. Sie trug dieselbe Kleidung wie bei unserer ersten Begegnung auf Chakarionn. „Bitte Platz zu nehmen“, sagte Nirdol, während Aithiras zu einer Durchreiche ging, um ein Tablett mit zwei Porzellankannen und vier gläsernen Tassen zu holen.

Kirray ließ sich am breiten Ende des Tisches nieder, mit dem Rücken zur Fensterfront, und ich nahm gegenüber von Nirdol Platz. Aithiras setzte das Tablett vor uns ab, und als die beiden Khenalai und ich unsere Tassen gewählt hatten, stellte sie die vierte neben meine, schenkte rundum Seontu ein und ging sich einen dritten Polstersessel holen, den sie rechts neben mich rollte. Nachdem sie und ich uns Milchschaum auf unseren Seontu gegossen hatten, nippte Nirdol an seiner Tasse und setzte sie gleich wieder ab.

„Mimosenmäulchen“, spöttelte Kirray. „Kalt wird das Zeug doch früh genug.“

Nirdol warf erst ihr und dann Aithiras einen vorwurfsvollen Blick zu und wandte sich an mich. „Kommen wir gleich zur Sache. Bei den Informationen über Merton Wiener, die Sie an mich weitergeleitet haben, war ab und zu Brauchbares dabei. Unsere Sondierungen haben auch ergeben, daß er Sie weiterhin für harmlos hält und Ihre Columbo-Rolle somit funktioniert hat. Deshalb ist es schade, daß Sie nach dem Bruch mit Ndoni Kaunda keine Gelegenheit mehr zu Kontakten mit ihm haben.“

„Das ist mir durchaus recht so“, antwortete ich und nahm einen Schluck Astrocino.

„Ich würde Sie gern zur Fortsetzung des Umgangs mit ihm bewegen“, fuhr Nirdol fort. „Er hat seine Aktivitäten hier in Zetuca ausgeweitet, in einer Weise, die die Interessen meiner Geschäftsfreundin Kirray tangieren. Und mein Dienst interessiert sich für seine Beziehung zu den Xhankh. Wer sich von ihnen ein Raumschiff bauen lassen kann, muß für sie sehr wertvoll sein.“

Ich wußte, wovon er sprach, denn zweimal waren Ndoni und ich an Bord von Wieners Arduinna gereist, die er seine blaue Shiksa-Göttin nannte. „Noch wertvoller“, sagte ich. „Maxim Kaundas neue Gloryhole wurde auch von den Xhankh gebaut. Merton hat ihm das vermittelt, und er hat bei Shom-Earth dafür gesorgt, daß diese Herkunft bei der Registrierung des Schiffes verschleiert wurde, obwohl die typische Hantelform darauf hindeutet.“

Das schien ihn zu beeindrucken, denn er wechselte einen Blick mit Kirray, die mich daraufhin ansah, als hätte sie mich gern nach meiner Quelle gefragt. Natürlich hätte ich ihr nicht gesagt, daß meine Quelle Talitha war, die in den letzten acht Monaten nicht nur Ndoni und ihre Gäste für mich ausgehorcht hatte, sondern auch Morris Wiener, der noch ein leichtfertiges Plappermaul war und von Ndoni dafür getadelt wurde.

„Umso mehr Grund, sich mit ihm zu befassen“, sprach Nirdol weiter. „Das aggressive Verhalten der Xhankh macht meinem Dienst Sorgen. Auch die Galciv-Öffentlichkeit in diesem Sektor ist deshalb schon beunruhigt. Man hält es für möglich, daß sie einen Krieg anstreben, um so mächtig zu werden, daß die Galciv ihnen nichts mehr diktieren kann. Hat Khrek Hrokhar etwas dazu gesagt, als er auf meiner Insel mit Ihnen spazieren war?“

„Er hat Andeutungen in diese Richtung gemacht“, bestätigte ich. Die unerwartete Erwähnung des alten Xhankh hatte es mir unmöglich gemacht, ein Pokerface zu wahren, das Nirdol oder gar Kirray täuschen konnte. Wie schon während des Fluges mit Pyetar nach Tandirun erwog ich kurz, Jerry Raffles‘ Notizheft zu erwähnen, unterließ es dann jedoch. Es war zu riskant, denn falls die Xhankh von dem Auftauchen der Notizen erfuhren, würde ihr Verdacht auf mich und meine Freunde fallen, da wir nach Raffles‘ Tod die ersten gewesen waren, die Majerdun übernommen hatten.

Nirdol nickte. „Nicht überraschend. Um jedoch auf Mervindo zurückzukommen: Ich möchte, daß Sie sich wieder an ihn heranmachen und ihm eine Zusammenarbeit anbieten. Als Begründung können Sie vorschieben, daß Sie ihn dazu bewegen wollen, ihm sein Vorkaufsrecht auf Talitha Kremser abzutreten. Zufällig – und das ist der Grund, warum ich Ihnen das gerade jetzt vorschlage – haben wir erfahren, daß er sich mit Ihnen treffen will, weil er Ihnen etwas geben soll. Ich werde Ihnen auch etwas mitgeben, nämlich Informationen als Spielmaterial, mit dem Sie sich für ihn interessant machen können.“ Er zeigte wieder sein dünnes Lächeln. „Bevor Sie mich wieder fragen, was Sie davon haben: neben der Chance, ihm dieses Vorkaufsrecht herauszulocken oder eine Gelegenheit zur Herbeiführung seines Todes zu bekommen, ohne daß es auf Sie zurückfällt, werde ich Ihnen auch meine Mitarbeiterin Ghaseyon als Assistentin unterstellen.“

Ich sah Aithiras an, die seit ihrem Erscheinen einen angespannten Eindruck gemacht hatte und sich nun vor dem zu fürchten schien, was Nirdol als Nächstes sagen würde. „Ich glaube, ich verstehe Sie nicht ganz…“ sagte ich vorsichtig.

Nirdols Lächeln wurde fieser, und Kirrays Gesicht zeigte ihre eigene Version davon. „Sehen Sie“, erklärte er, „ich habe Aithiras, die in den Neunzigern für Shom-Earth als Kundschafterin auf der Erde tätig war, später auf die Infiltration des jüdischen Pornomilieus angesetzt. Hierfür war es notwendig, daß sie sich als amerikanisches Nachwuchsmodel ausgab…“

Neben mir holte Aithiras tief Luft. „Notwendig?“ stieß sie hervor. „Ach hör‘ schon auf, Nirdol. Du wolltest es, weil ich dich zurückgewiesen habe, du wolltest es, um mich mit den Aufnahmen zu erpressen und zu immer weitergehenden…“ Sie brach ab und sah mich an. „Ich sag’s dir selbst, bevor er es hier auswalzt: Ja, er hat mich immer weiter in diese Sache hineingetrieben, indem er drohte, die Aufnahmen in der Galciv-Öffentlichkeit zu verbreiten, verbunden mit meiner wahren Identität. Er hat auch die Bewilligung der Bioregenerationen für… mich davon abhängig gemacht, daß ich mich füge. Und nicht einmal jetzt, wo ich von dieser Infiltration abgezogen bin, habe ich Ruhe. Meine Beratungstätigkeit für Shom-Earth ist zwar real, dient aber auch als Fassade dafür, daß Nirdol mich in eingeweihten Shomhuman-Kreisen herumschickt, denen ich mich als eine Art… Regimentshure zur Verfügung stellen muß, um ihm Gefälligkeiten zu erkaufen. Und…“

„Und in eben dieser Eigenschaft“, unterbrach Nirdol sie, „stelle ich dich auch Herrn Flint im Rahmen dieser Dienstzuteilung zur Verfügung. Du wirst ihn nicht nur als Agentin unterstützen, sondern ihm auch alle Wünsche in diesem Bereich erfüllen. Und jetzt würde ich gern die Einzelheiten besprechen, falls er interessiert ist.“

*     *     *

Als wir nach einem schweigsamen Flug bei Nouris eingedockt und das Gepäck in Julanis ehemaliges Quartier geschafft hatten, sah Aithiras mich an und fragte: „Und…?“

„Und was?“

„Wirst du… äh…“

„Alles in Anspruch nehmen, wofür Nirdol dich…?“

„Ja.“

„Nein.“

„Siehst du mich als beschmutzt an, weil…?“

„Überhaupt nicht. Ich möchte nur deine Situation nicht ausnützen. Wenn ich nicht Talitha treu bleiben wollte, hätten wir gern so weit gehen können, wie du möchtest. Und wenn du mir immer noch von deinen persönlichen Dämonen erzählen willst, nehme ich mir gerne Zeit dafür.“

„Das weißt du noch?“

„Julia hat mir schon bestätigt, daß ich ein guter Zuhörer bin. Deshalb ist mir da unten auch aufgefallen, daß du von Bioregenerationen in der Mehrzahl gesprochen und dann innegehalten hast, um es so hinzustellen, als meintest du nur deine. In Wirklichkeit geht es auch um die deiner Töchter, oder?“

Sie nickte. „Gut erkannt.“

„Daran hat auch Pyetar einen Anteil. Er sagte, du würdest viel für deine Töchter auf dich nehmen. Er hat eine hohe Meinung von dir, und ich glaube, er verehrt dich sogar.“

Das brachte sie zum Lächeln. „Ich weiß. Das hat schon begonnen, nachdem er als jüngerer Kollege in unseren Dienst kam. Aber unter meinen Umständen konnten wir kein Paar werden, so wie ich deshalb auch sonst nie eine feste Beziehung haben konnte.“

„Siehst du“, sagte ich, „schon sind wir ins Gespräch gekommen. Eins noch, bevor ich dich allein lasse, damit du deine Sachen einräumen kannst: Pyetar deutete auch an, daß er Julani vor gewissen Gelüsten schützen würde, wozu ich nicht in der Lage sei und was er für dich noch nicht tun konnte. Damit meinte er Nirdol – oder?“

„Ja. Pyetar treibt ein unangenehmes und gefährliches Spiel, über das ich dir nur sagen kann, daß er an Nirdol dranbleibt, um ihn zu beobachten und ihn immer im Unklaren darüber zu lassen, wieviel Belastendes er über ihn weiß, um ihn unter Druck zu setzen und von gewissen Dingen abzuhalten. Ich vermute auch, daß Nirdol einen Rivalen im Geheimdienst der Khenalai hat, der ihm mit gewissen Informationen sehr schaden könnte.“ Sie hielt inne und fuhr dann fort: „Jetzt habe ich eine Frage an dich: Du magst Nirdol offenbar nicht, und ich habe den Eindruck, daß du mit seinem Bespitzelungsauftrag gegen Mervindo keine Freude hast. Warum tust du es dann, wenn es dir auch nicht um meine Sex-Dienste geht, die er dir als Köder hingehalten hat?“

„Erstens wegen Talitha“, antwortete ich. „Auch wenn es nur eine kleine Chance ist. Zweitens, um dir eine Weile Auszeit von Nirdol und seinen Kreisen zu verschaffen. Außerdem ist mir deine Gesellschaft angenehm. Und drittens, weil mir nicht klar ist, welche Folgen eine Ablehnung für mich hätte. Bisher war meine Zuträgerei für Nirdol relativ harmlos. Jetzt geht es für ihn aber um viel mehr, und vielleicht bin ich für ihn auch deshalb wichtiger geworden, weil seine andere Quelle ausgefallen ist, von der er das mit Wieners Glauben an meine Harmlosigkeit hat. Ich weiß nicht, wie weit du über Kirray im Bilde bist, aber es hat mich überrascht, daß sie mir eine Verbindung zwischen sich offenbart haben. Wenn das umsonst gewesen wäre, würden sie mich vielleicht beseitigen. Oder etwas Unerfreuliches tun, damit ich doch mitmache. Nirdol hat mich damit überrumpelt. Außerdem müßte ich mich wegen der Sache, die Wiener mir geben soll, sowieso mindestens einmal mit ihm treffen und bekomme dadurch Zeit, um mir Weiteres zu überlegen.“

Aithiras sah mitfühlend drein und schüttelte sich. „Wie ich es hasse, mit diesen Leuten zu tun zu haben! Nach dem Aufenthalt bei ihnen brauche ich jetzt eine Dusche, allein schon aus einem psychischen Reinigungsbedürfnis.“

„Fühl dich hier wie zu Hause.“

Als hätte Nouris das als Stichwort aufgefaßt, ließ sie das milchige Weiß des Bildschirmgewölbes in die Szenerie von Julanis Lieblingsplatz übergehen, die sie bei meinem ersten Besuch in diesem Raum gezeigt hatte.

„Das ist auf Chakarionn“, stellte Aithiras erfreut fest.

„Ja“, sagte ich, „vielleicht zeigt Julani dir diesen Platz einmal. Wir sehen uns nachher in der Zentrale; Nouris wird dich dorthin lotsen, wenn du fertig bist.“

„Okay, bis später.“

In der Zentrale angekommen, sah ich, daß Nouris, die auftragsgemäß gleich nach dem Eindocken gestartet war, schon den Weltraum erreicht hatte und nun nach Thrian’shai mit seinen Wurmlochportalen beschleunigte. Ich setzte mich auf meinen Lieblingsplatz rechts hinten und begann über die Lage nachzudenken.

Das Ganze beunruhigte mich mehr, als ich Aithiras gesagt hatte. Unser Gefühl damals auf Nayotakin, daß uns die Verbrecherjägerei über den Kopf wuchs, erschien mir nun harmlos verglichen damit, wie sehr mir diese Sache zu groß erschien. Ich sah mich außerstande, zu Nirdol und Kirray nein zu sagen, und konnte nicht wissen, ob Merton und die Kräfte hinter ihm nicht noch mächtiger und gerissener waren. Merton war nun weit über seinen einstigen Seniorpartner Kaunda hinausgewachsen. Ein großer Konflikt schien nahe, der mich eigentlich nichts anging, mindestens zwischen den Khenalai und den Juden, vielleicht auch unter Beteiligung der Xhankh, der Arrinyi und der Sontharr. Am liebsten hätte ich mich in ein Loch verkrochen, wo mich niemand finden würde. In dieser Krisenstimmung kam mir Gimme Shelter von den Rolling Stones in den Sinn, das gut dazu paßte, und ich begann es im Kopf abzuspielen, während das Schiff weiter hinausjagte und Aker’shai, der innere der beiden Hauptmonde, auf der Bildschirmkuppel wuchs:

Ooh, a storm is threat’ning
My very life today
If I don’t get some shelter
Oh yeah, I’m gonna fade away

War, children, it’s just a shot away
It’s just a shot away-ay

Krieg war tatsächlich keine unplausible Möglichkeit mehr, und falls es dazu kam, konnte auch die Erde hineingezogen werden. Dann würde es mich etwas angehen.

Ooh, see the fire is sweepin‘
Our very street today
Burns like a red coal carpet
Mad bull lost your way

Mmm, the flood is threat’ning
My very life today
Gimme, gimme shelter
Or I’m gonna fade away

Ich wußte damals noch nicht, wie prophetisch diese Strophen für die Ereignisse der nahen Zukunft waren, aber der Anblick des schon sehr nahen Aker’shai war Einstimmung genug für apokalyptische Visionen.

Der neunhundert Kilometer große Körper, der oft Metallmond genannt wurde, war zur Zeit der Lwaong flächendeckend von einer mehrere hundert Meter hohen Bebauung umhüllt gewesen wie ein kleines Trantor oder wie der Todesstern in Star Wars, und diese geschlossene künstliche Oberfläche war von einem Wald hoher Türme überragt worden. Aker’shai war das Bevölkerungszentrum im System von Zeta Tucanae gewesen, von dem aus Ssrranth – damals noch Hwaoung-an genannt – mit Lebensformen von Yer’shiyang und der Erde besiedelt wurde, um es für eine Kolonisierung durch Lwaong und Menschen vorzubereiten. Wurmlochportale für die Verbindung nach Beta Hydri und Gamma Pavonis waren auf dem Mond installiert gewesen.

In der verzweifelten letzten Kriegsphase, als Hwaoung-an und Aker’shai zu einem Rückzugszentrum des Lwaong-Imperiums geworden waren, hatten Khenalai-Saboteure die Wurmlöcher von Beta Hydri her zu Schwarzen Löchern kollabieren lassen. Das kleinste war sofort in einem Röntgenblitz mit der Energie von einer Million Megatonnen TNT explodiert, ein zweites nach Sekunden in einem noch stärkeren Blitz, als es seine Masse durch Abgabe von Hawking-Strahlung unter tausend Tonnen verringert hatte. Das größte war in Aker‘shais Zentrum gesunken, hatte gigantische Materiemengen mit seiner exponentiell zunehmenden Röntgenstrahlung verdampft und als Plasmastrahl aus einem stetig weiter werdenden Trichter schießen lassen, bis es schließlich ebenfalls explodiert war. Da dieser Strahl in Umlaufrichtung gezeigt hatte, war der Orbit des Mondes durch den Raketeneffekt auf seine heutige Neunstundenbahn verengt worden, deren Periapsis ihn nahe an seine Roche-Grenze heranführt.

Währenddessen hatte eine Welle fast lichtschneller Planetenkiller das System erreicht und Wolken von bis zu faustgroßen Körpern freigesetzt, deren Einschläge den Planeten sterilisiert, seine Meere gekocht und einen Teil seines Wassers und seiner Luft in den Raum entweichen lassen hatten. Auch sein innerer Mond hatte den Beschuß durchquert, während ihn bereits stärkere Gezeitenkräfte als vorher durchzukneten begonnen hatten. Die Gesteinskruste unter seiner künstlichen Hülle war als erstes geschmolzen, die Bauten hatten von innen heraus gebrannt und waren zusammengesunken. Fünf Asteroiden, die als Sekundärmonde in Orbits um Aker’shai gebracht und wie Miniaturversionen davon ebenfalls umbaut worden waren, hatten wiederholt den Plasma- und Röntgenstrahl aus dem Schwarzlochtrichter durchquert, waren geschmolzen und später auf eigene koorbitale Umlaufbahnen geschleudert worden, auf denen drei immer noch kreisten.

Nouris war Zeugin dieses Infernos gewesen, denn sie hatte sich in einem Landeschacht auf der nachlaufenden Seite von Aker’shai befunden, als die Wurmlöcher kollabiert waren. Ihre letzte menschliche Besatzung war mit ihr gestartet und hatte den tagelangen Hagel der relativistischen Impaktoren hinter dem Mond geschützt abgewartet, zusammen mit einer Wolke anderer Raumschiffe über der Oberfläche schwebend, zwischen deren Türmen schon die Metallschmelze floß, während der Planet über ihnen zu einer Gluthölle wurde. Nouris hatte mir Aufnahmen davon gezeigt, und von den Reaktionen der Leute an Bord auf dieses Drama, die ich mir nur bis zu den ersten Zusammenbrüchen hatte ansehen können. Die Erschütterung durch diese Erfahrung hatte Nouris‘ Besatzung dazu gebracht, bald darauf mit ihrem Schiff zu kapitulieren.

Aker’shai war durch die Gezeitenreibung aufgeschmolzen worden und erst nach Jahrtausenden außen so weit abgekühlt, daß es nicht mehr sichtbar glühte und seine Kruste als fast glatte Kugel mit nur wenigen Oberflächenformationen erstarrte. Nur ein Sektor, der mir beim Hinausfliegen gerade zugewandt war, wies eine Anzahl großer Krater von einem später aufgeschlagenen Trümmerschwarm zweier zusammengestoßener Sekundärmonde auf.

Der Mond schwoll nun rasch an, als Nouris auf dem von mir gewünschten Kurs über die sonnenbeschienene Seite seiner Nordhalbkugel auf ihn zuraste. In einer knappen Minute hatten wir ihn passiert, und ich ließ die Darstellung auf der Innenseite der Bildschirmkuppel um die Senkrechte rotieren, um den Himmelskörper weiter betrachten zu können. Hier auf der Außenseite war seine Oberfläche noch so, wie sie erstarrt war: eine flache Einöde in Grautönen, bedeckt mit einem immer noch heißen schlackenähnlichen Gemisch aus Leichtmetallen, Glas, Kunststoffen, Keramik, Dämmstoffen und Verbundmaterialien, das mit den Überresten von Milliarden Menschen und Lwaong durchsetzt war. Ein Friedhofsmond.

Auf dem weiteren Weg hinaus kamen die überlebenden Sekundärmonde in Sicht, die gerade wieder auf dieser Seite von Ssrranth versammelt waren und mit den Schlieren aus der Schmelze ihrer Metallruinen wie Marmorkugeln aussahen. Das immer weiter zurückbleibende Aker’shai zog gerade über ein ehemaliges Flachmeer hinweg, das wegen des Wasserverlusts des Planeten noch immer nur ein riesiges Wattenmeer mit der doppelten Ausdehnung der Nordsee war und erst in zweihundert Jahren wieder ganz aufgefüllt sein sollte. Die steigende Springflut war dort wegen der Phasenverschiebung noch nicht angekommen und würde die Schlickflächen, Salzlagunen und Priele erst überschwemmen, wenn wir das Wurmloch nach Babylon 6 schon passiert hatten.

Hinter mir hörte ich Aithiras eintreten. „So nahe habe ich Aker’shai noch nie gesehen“, sagte sie. „Sieht schön aus, solange man nicht weiß, was in dieser Kruste begraben ist. Vielleicht auch welche von meinen fernen Vorfahren.“ Sie stellte sich hinter mich und begann meine Schultern und den Nacken zu massieren. „Habe ich’s mir doch gedacht. Ganz verspannt bist du. Leider habe ich nicht so kräftige Hände, um das aufzulösen.“

„Es tut so schon gut.“ Ganz unbeabsichtigt stellte ich in Gedanken eine Verbindung zwischen der Situation und dem Schluß von Gimme Shelter her.

I tell you love, sister, it’s just a kiss away
It’s just a kiss away
Kiss away, kiss away-ay

Versuchung, sei ferne mir immer, dachte ich. Abgesehen von meinem Treuevorsatz gegenüber Talitha konnte ich auch nicht sicher sein, ob Nirdol Aithiras nicht unter Druck setzte, vielleicht im Zusammenhang mit ihren Töchtern, um sie zur Spitzeltätigkeit gegen mich zu nötigen, so wie auch sie Zweifel wegen meiner Motive gehabt hatte. Verdammtes Mißtrauen. „Seid ihr sicher, daß Merton von deiner Verbindung zu Nirdol nichts weiß?“ fragte ich.

„Ganz sicher.“ Sie setzte sich an das Kontrollpult links von mir, und ich sah, daß sie nun ein hellblaues kurzes Pulloverkleid trug. „Er weiß nicht einmal, daß ich aus der Galciv stamme. Wenn wir ihn treffen, nennst du mich Autumn und läßt ihn denken, ich sei dein neuer Aufriß. Vielleicht erkennt er mich dann in der Model-Identität, unter der ich auf der Erde aktiv war. Aber… bitte, müssen wir das jetzt schon besprechen? Ich würde gern noch die Stimmung dieses Fluges genießen.“

„Du hast recht.“ Also war ihre Schultermassage vielleicht nur ein erster Schritt zum Distanzabbau, weil wir Wiener mit einem Hände-weg-Verhältnis nicht würden täuschen können. „Wie geht es Julani mit ihrer Schwangerschaft?“

„Relativ gut, dafür, daß es ihr erstes Kind ist. Es wird ein Sohn. Und es ist gesund.“

„Das freut mich für euch alle. Im wievielten Monat ist sie?“

„Im fünften.“

In der restlichen halben Stunde bis zum Wurmloch redeten wir über Julani und Lilandri, über gemeinsame Bekannte auf Chakarionn und über die Wälder bei Asriyai, wo gerade der Frühling begann. Thrian’shai wurde immer größer, bis es das gesamte Sichtfeld auf der rechten Seite der Kuppel einnahm. Mehr als doppelt so groß wie Aker’shai, war es zur Zeit der Lwaong wegen der größeren Distanz zum Planeten kaum genutzt worden und hatte immer noch weitgehend seine natürliche Oberfläche.

Auf dem Ostquadranten wurden die Raumhafenanlagen um das Wurmlochportal nach Babylon 6 erkennbar. Dieses war inmitten des riesigen Untergrundanlagenkomplexes für die Wasserergänzung der Meere von Ssrranth installiert worden, um von dessen Kraftwerken Energie abzweigen zu können, wenn es für die Passage eines Raumschiffs aktiviert wurde. Zwei Wurmlöcher – eines mit einem nutzbaren Querschnitt von dreihundert Metern, das seit viertausend Jahren aktiv war, das andere, neuere mit eineinhalb Kilometern – leiteten Wasser von Rurross nach Thrian’shai, wo es auf viele Wurmlöcher unterschiedlicher Größe verteilt wurde, durch die es auf Ssrranths Oberfläche floß. Inzwischen hatte jedoch der Verkehr so zugenommen, daß das Raumschiff-Wurmloch ebenso wie das Personen- und Frachtwurmloch ständig in Vollbetrieb war. Die Sontharr hatten deshalb zusätzliche Kraftwerke errichtet, um den Wasserdurchfluß nicht mehr verringern zu müssen, wodurch jedoch die riskante Plazierung der Verkehrsportale zwischen den vorhandenen anderen Anlagen nachträglich unnötig gemacht worden war.

Bei unserer Annäherung war der Raumschiffsverkehr in beiden Richtungen besonders dicht. Das war eine Folge der angekündigten Sperre für den allgemeinen Verkehr wegen eines großen Sonderkonvois der Sontharr, dem viele zuvorkommen wollten. Wir mußten auf einem Warteplatz landen, bis wir in den trichterförmigen Schacht des Wurmlochportals schweben konnten, durch das wir die Oberfläche von Dhroxharkh sahen.

*     *     *

Als Merton Wiener mir seine Einladung zu einem Treffen schickte, bei dem er mir etwas von einem gemeinsamen Bekannten geben wolle, hatte er nicht erwartet, mich noch am selben Tag zu sehen. Aithiras und ich waren von Ssrranth auf der Wurmlochroute über Babylon 6 und Kyerak zu Hektalassas marsgroßem Mond Zirdak gekommen und hatten unter den dahintreibenden Cirruswolken dieser jungen Welt auf den Eingang der Nachricht gewartet, ehe wir nach dem Frühstück die letzte Etappe zum Planeten zurückgelegt hatten. Nouris war im Orbit um Hektalassa geblieben, und wir waren mit einem Beiboot nach Lazaris auf der Südhalbkugel geflogen und in das oberste Landedeck des Moonview Tower geschlüpft.

Auf der Dachterrasse von Mertons Wohn- und Büroturm gerieten wir in eine Aufnahmesession für seine Earthincom-Webseite, bei der er mit seiner Coilgun und umringt von spärlich bekleideten Frauen vor dem riesigen Mond posierte. Hinter ihm stieg ein Raumschiff mit röhrendem Konverterstrahl in einem Kavalierstart auf, der zu perfekt ins Bild paßte, um nicht wegen des Showeffekts für die Aufnahme inszeniert zu sein. Die Strafgebühr wegen der Lärmbelästigung der Stadt war Wiener die Sache offenbar wert.

Die Aufnahmeleiterin bedeutete uns pantomimisch zu warten, also blieben wir hinter ihrem Team stehen und betrachteten die Szenerie. Es war Spätnachmittag, und Zirdak näherte sich seinem planetennächsten Bahnpunkt. Deshalb eilte der Mond der gemeinsamen doppelt gebundenen Rotation mit dem Planeten vorübergehend voraus und sank schräg nach links hinter den Westhorizont. Erst in sechs Stunden würde er innehalten und wieder nach rechts aufsteigen, bis er ganz über den fernen Bergen sichtbar sein und seine Bewegung erneut umkehren würde.

Merton Wiener genoß es sichtlich, sich mit den lebenden und unbelebten Attributen seines Erfolgs in Szene zu setzen. Er hatte seinen Reichtum in den knapp zwei Jahren seit unserer ersten Begegnung gewaltig vermehrt, Arkinor auf Nayotakin und sein Penthouse im weiter östlich gelegenen Mist City verkauft und das Mehrheitseigentum am Moonview Tower erworben. Nachdem das Raumschiff verschwunden war und auch eines der spindelförmigen blauen Beiboote von Wieners Arduinna hinter ihm schwebend posiert hatte, entließ er das Aufnahmeteam auf Jiddisch und schickte die vier Models auf Englisch nach unten in sein Penthouse. Dann kam er auf uns zu.

„Hi, Draco“, sagte er. „Das ging aber schnell. Und ich sehe, du bist zu deinem alten Beuteschema zurückgekehrt.“ Damit verbeugte er sich vor Aithiras, auf deren Ähnlichkeit mit Julani er angespielt hatte.

„Beuteschema gibt’s bei mir keines“, antwortete ich und streichelte Aithiras‘ Taille. „Dazu bin ich zu vielseitig. Das ist Autumn aus Amerika. Sie begleitet mich eine Weile unverbindlich, zum beiderseitigen Vorteil, bis ich Talitha wiederhabe. Und ich bin so früh hier, weil ich schon zu dir unterwegs war, um dir einen Deal vorzuschlagen: begrenzte Zusammenarbeit im Gegenzug dafür, daß du mir dein Vorkaufsrecht an Talitha abtrittst.“

Mertons Miene wurde spitzbübisch. „Mal sehen, ob du dir den Preis in moralischer Flexibilität leisten willst“, sagte er. „Aber gehen wir erst einmal in mein Büro hinunter; hier oben wird es allmählich frisch.“

Wir wandten uns mit ihm dem Glaskasten der Aufzugskopfstation zu, in der gerade die Kabine ankam. Eine junge Brünette in einem cremefarbenen Businesskostüm eilte heraus und überreichte Wiener ein Blatt Papier.

„Sir“, sagte sie nervös, „das kam vor etwa einer Stunde. Da Sie während der Session auf keinen Fall gestört werden wollten…“

„Ja, schon gut, geh‘ wieder runter und halte dich rufbereit.“ Er begann zu lesen und sah mich ernst an, als er fertig war. „Aus unserem Deal wird nichts. Die Caravanserai ist überfallen worden. Die Angreifer haben Ndoni entführt und die Sklavinnen mitgenommen. Eine von Ndonis Amazonen hat das an Max durchgegeben, ehe sie erschossen wurde. Das muß etwa zwei Stunden her sein, denn Max hat die Aufzeichnung erst später abgehört. Jetzt muß ich in Erfahrung bringen, ob mein Bruder noch dort war, als es passierte. Und dann gebe ich dir noch etwas von unserem hartschaligen Bekannten.“

Ich holte meinen Poccomp heraus, während wir zum Lift gingen, und rief Gudrun in der Taverne an. Die Liftkabine wartete schon, da die Haus-KI ihrem Herrn zugehört und sie wieder hochgeschickt hatte, und als wir drin waren, meldete sich Gudrun.

„Servus Boss, was gibt‘s?“ Im Hintergrund hörte ich Gastzimmergeräusche.

„Hallo Susi, alles in Ordnung bei euch?“

„Ja, wieso?“

„Jemand hat die Caravanserai überfallen und alle dort entführt. Mervindo hat’s mir gerade gesagt. Gib‘ Alarm an alle, falls die Angreifer es auch auf uns abgesehen haben. Warne auch die Dayu und die Jeannie.“

„Oh Scheibe… wart‘, ich geh‘ schnell ins Büro.“

„Wer ist von den Sicherheitsleuten bei dir?“ Vor uns öffnete sich die Aufzugtür, und wir gingen durch einen Korridor in die Richtung von Wieners Arbeitszimmer.

„Obelix und noch drei Gallier.“ Gudrun kam der Geräuschkulisse nach offenbar gerade an der Küche vorbei, aus der ich die protestierende Stimme unseres Schützenvereins-Schriftführers hörte:

„Also ich muß doch sehr bitten, junge Dame!“

In Mertons Büro, das in der Nordwestecke des Turms lag und mit der raumhohen Fensterfront seiner erkerartig vorgewölbten Außenseite ein Panorama von zweihundertsiebzig Grad bot, warteten zwei Polstersessel vor dem Arbeitstisch des Hausherrn, der sich an seinen Computer setzte. Aithiras und ich nahmen ebenfalls Platz.

Gleich darauf meldete sich Gudrun wieder. „Du, da ist eine Mail gekommen von, äh, Flora!“ sagte sie aufgeregt. „Sie ist – ich leite sie dir gleich weiter…“

„Nicht direkt auf dieses Gerät!“, unterbrach ich sie schnell. „Nouris, du hörst ja mit. Susi wird die Nachricht an dich schicken, und du stellst sie zum Beiboot durch. Ich lese sie, wenn wir drinsitzen. Buche die frühestmögliche Wurmlochpassage nach Babylon 6.“ Ich wußte nicht, was Talithas Email enthielt, und wenn sie vom Beiboot an meinen Poccomp gefunkt wurde, bestand Gefahr, daß elektronische Ohren in Wieners Turm sie auffingen. Nur die Wurmloch-Kommverbindung von Nouris zum Boot war sicher.

„Okay“, bestätigte Gudrun. „Sonst noch was?“

„Nein. Macht euch jetzt abwehrbereit; ich melde mich wieder, sobald ich kann. Baba.“

„Ebenfalls.“ Damit legte sie auf. Sie würde nun alle Gäste und Teammitglieder der Taverne von Außenexkursionen zurückrufen, während unsere vier Schützenkameraden die Verteidigung organisierten.

Merton hatte inzwischen Morris telefonisch in dessen Raumschiff erreicht, das auf Babylon 6 parkte. Er mailte ihm Kaundas Nachricht weiter und sagte: „Lies das; ich rufe dich wieder an, wenn meine Gäste weg sind.“ Dann unterbrach er die Verbindung und ging zu einem Wandsafe, dem er einen daumengroßen blauen Zylinder entnahm. Ich erkannte das Ding als Siegelkapsel, deren elektronisches Innenleben dem Empfänger verraten würde, ob sie zuvor schon geöffnet worden war.

„Morris ist entkommen, weil Ndoni ihn kurz vor dem Überfall rausgeworfen hat“, sagte Merton und reichte mir die Kapsel. „Das ist von Big Bug. Er sagte, du würdest das von ihm erwarten. Ich weiß nicht, was drin ist, aber es liegt nahe, daß er auf Geheimhaltung Wert legt.“ Dabei warf er einen Seitenblick auf Aithiras.

„Danke. Nachdem das erledigt ist und unser Deal flachfällt, werden wir wohl nichts mehr zu besprechen haben?“

„Nein, und ich nehme an, daß du dich jetzt wie ich um andere Sachen kümmern willst. Auch wenn ihr erst in ein paar Stunden aus diesem Sonnensystem wegkönnt.“

Damit hatte er recht, aber ich wollte trotzdem so schnell wie möglich in das Beiboot, um Talithas Nachricht zu lesen. Und eine Aufenthaltsverlängerung, um im Smalltalk Möglichkeiten zu sondieren, wie wir Nirdols Bespitzelungswunsch doch noch irgendwie erfüllen konnten, wäre jetzt wohl sowieso fruchtlos gewesen. Wir verabschiedeten uns, fuhren aus Wieners Büroetage zum Landedeck hinunter und setzten uns in das Beiboot, das abhob und durch die Einflugöffnung schoß. Da wir erst für drei Stunden später eine Wurmlochpassage zugeteilt bekommen hatten, konnten wir gemächlich beschleunigen. Noch während Lazaris unter uns durchzog, rief ich Talithas Nachricht auf dem zentralen Anzeigebildschirm ab, und wir lasen:

Mein lieber Pfadfinder, ich muss mich kurz fassen: Loreenas Raststätte ist überfallen worden. Ich konnte mit vier Gefährtinnen entkommen, und „I’m-Not-Lisa“ ist in meiner Gewalt. Wir sind mit ihrem Käfer zu einem in Stein geätzten Flussbett geflogen, in dem wir uns verstecken, bis ein Comsat uns überquert, dem wir diese Nachricht senden können, ohne dass jemand sie auffängt. Danach wollen wir zu dem Zuhause fliegen, wo ich bisher nicht wohnen konnte.

Auf dem Flug werden wir keine Nachricht mehr schicken, damit die Angreifer nicht durch die Com-ID auf den Käfer aufmerksam werden. Er fliegt sehr leise, was uns bei der Flucht geholfen hat, aber leider hat er nicht mehr viel Kraft. Ich hoffe, wir schaffen es noch. Falls wir nicht bald an deinem kleinen See sind, dann suche uns auf dem Weg dorthin. Du weißt, was ich als Versteck wählen würde.

In Liebe, Deine Flora.

„Ziemlich kryptisch“, bemerkte Aithiras. „Sagt dir das etwas?“

„Ja. Der Code beruht auf dem Lied Caravanserai von der Musikerin Loreena McKennitt und auf unserem ersten Flug zu den Faluynhöhlen. Sie haben Ndoni in ihrer Gewalt und sind mit ihrer Raumfähre Gold Bug in eine schmale Nebenschlucht des Tuhanflusses östlich der Caravanserai geflohen. Dort haben sie sich versteckt, bis sie abgeschirmt durch die engen Felswände einen Satelliten anfunken können. Danach wollen sie zu meiner Taverne fliegen. Die Gold Bug hat keinen Massekonverter, sondern Brennstoffzellen, und wahrscheinlich war sie nicht vollgetankt. Wenn es gereicht hat, müßten sie jetzt schon dort sein.“ Ich rief Gudrun per Video-Freisprech an.

„Ist Talitha schon bei euch?“ fragte ich, als Gudrun auf dem mittleren Schirm erschien.

„Nein, und sie hat sich auch nicht wieder gemeldet.“

„Verdammt, hoffentlich sind sie nur ohne Saft liegengeblieben. Habt ihr Raumschiffe oder sonstige Fluggeräte verfügbar?“

„Leider auch nein. Die Gäste bereiten ihren Abflug vor, seitdem ich sie gewarnt habe. Frido ist noch mit der Dayu im Karendru-System, und Björn ist mit der Jeannie auf dem Rückweg von Chakarionn.“

„Dann müssen wir warten, notfalls bis wir dort sind. Mit dem Geländewagen wären die Männer zu lange von der Taverne weg. Sag‘ mir bitte sofort Bescheid, wenn es etwas Neues gibt. Servus bis später.“

„Servus.“ Sie schaltete ab, und ich holte die Siegelkapsel aus der Hosentasche. Eine feine Fuge trennte ein Drittel ihrer Länge vom Rest, und ich verdrehte diesen Teil gegenüber dem anderen und zog ihn ab. An seinem inneren Ende leuchtete ein blauer Punkt, was bedeutete, daß ihn seit dem Verschließen niemand geöffnet hatte. Aus dem längeren Teil schüttelte ich einen Datenchip, der funktionell irdischen USB-Sticks entsprach.

Aithiras betrachtete ihn, während ich ihn unschlüssig zwischen den Fingern drehte, und fragte dann: „Was ist da drauf? Oder sollte ich das nicht fragen? So wie Mervindo mich angesehen hat, kam es mir vor, als ginge es um etwas, das ich nicht wissen soll.“

Ach, was soll’s, dachte ich und steckte den Datenträger in einen Schlitz an der Mittelkonsole. „Es ist von einem alten, aber anscheinend wichtigen Xhankh, dem ich vor einem Jahr in Nirdols Haus auf Hektalassa begegnet bin. Er hat damals angekündigt, daß er mir über Merton eine Information zukommen lassen werde. Das ist sie jetzt wohl.“

Ich öffnete die Datei, die auf dem Bildschirm angezeigt wurde. Sie war tatsächlich von Khrek Hrokhar, der herausgefunden hatte, daß die Erdexpeditionen der Shomhainar in den letzten dreitausend Jahren immer mit Schiffen der Sontharr geflogen waren, die damit technische Ausrüstung sowie tharrissianisches Biomaterial nach Ssrranth gebracht hatten. Ab dem fünfzehnten Jahrhundert hatten sie auch von der Erde Saatgut und Kleinlebewesen für die Terraformierung des späteren Zetuca geholt, und ihre Kurierschiffe waren ebenfalls dafür genutzt worden und auf der Rückreise auf Ssrranth zwischengelandet.

Khrek erteilte mir den als Anregung formulierten Auftrag, nachzuforschen, ob die Sontharr bei einer solchen Zwischenlandung Kopien der Daten von der Expedition von 1520, einschließlich solcher über das Schicksal der mesoamerikanischen Erdkhenalai, deponiert hatten, und ob die betreffende Einrichtung noch existierte. Dazu erläuterte er, daß die Kolonisation Ssrranths vom speziesistischsten Teil der Sontharr betrieben wurde, der am ehesten zum Horten von Informationen neigte, die für die Konkurrenz ihrer Spezies mit anderen wichtig sein mochten.

Das war eine interessante Spur, und sie wurde noch heißer, als mir das Ökologische Zentralinstitut der Sontharr wieder einfiel, von dem Kirray mir erzählt hatte. Es mußte in Cortez‘ Zeit schon existiert haben. Wenn die Sontharr irgendwo auf dieser Welt Daten von Erdexpeditionen gespeichert hatten, dann dort, und bei den langen Zeithorizonten der Alien-Zivilisationen war es plausibel, daß sie da immer noch vorhanden waren. Es erschien seltsam, daß Khrek von diesem Institut nichts wußte, aber das lag wohl daran, daß die Sontharr-Kolonisten ihre Welt gegen Xhankh abschotteten und die Menschen auf Ssrranth sich nicht für die Geschichte des Planeten interessierten. Außer Kirray, die dafür besondere Gründe hatte, aber offenbar nicht wußte, daß die Sontharr schon lange vor 1562 mit dem Import von Erdorganismen begonnen hatten.

Aithiras sah mich an. „Ist das die Sache, wegen der Julani damals für dich über die irdischen Khenalai nachgeforscht hat?“ fragte sie.

Ich rang mich zu dem Entschluß durch, sie einzuweihen. Selbst falls sie von Nirdol unter Druck gesetzt oder hinterher mit irgendeiner Wahrheits-Psycho-Technik ausgequetscht wurde, war es wahrscheinlich im Sinne des Plans, wenn das Khenalai-Ekel erfuhr, was hier aufgedeckt werden sollte. „Ja“, sagte ich. „Was meinst du, wäre es möglich, sich unter irgendeinem Vorwand Zugang zum Ökologischen Zentralinstitut der Sontharr in Rirthass zu verschaffen und dort nach alten Daten zu suchen? Sagen wir, für einen fingierten historischen Forschungsauftrag, für etwas, an dem Julani arbeitet?“

„Vielleicht“, meinte sie nachdenklich. „Julani kann derzeit wegen ihrer Schwangerschaft nicht selbst hin, aber ich könnte es in ihrem Auftrag tun. Vielleicht kann ich Nirdol dazu bringen, mich als Shomhainar-Agentin hinzuschicken und mir Pyetar als Rückendeckung und Träger von Exekutivautorität zuzuweisen.“

„Gute Idee. Wir könnten ihn mit der Aussicht ködern, etwas über die Sontharr herauszufinden, mit denen er ihnen als Schutzmacht der Juden von Zetuca schaden kann. Wir bräuchten nur noch eine Möglichkeit, wie ich dabei sein kann.“

Sie nickte. „Darüber muß ich mich mit Pyetar und Julani beraten.“

„Sobald wir Talitha wiederhaben, kümmern wir uns darum.“

Der weitere Flug nach Zirdak verlief ohne besondere Ereignisse. Wir dockten bei Nouris ein und beobachteten aus ihrer Aussichtskuppel die Annäherung an den Mond, dessen durch Ausgasungen entstandene Atmosphäre mit CO2-Filtern atembar und dicht genug ist, um seichte Wasserflächen und eine einfache Biosphäre zu ermöglichen.

Als wir schon über den Wolken auf den hohen Berg auf der Westhemisphäre zuflogen, auf dem das Schleusengebäude mit dem Wurmlochportal errichtet worden war, wurden wir von Gudrun angerufen. „Talitha hat sich über Funk gemeldet!“ sagte sie. „Ich schicke dir die Aufzeichnung.“ Das tat sie, und wir hörten Talithas Situationsbericht an:

„Hallo, ihr Lieben“, sagte sie, „die Kraft des Käfers hat nicht gereicht. Wir mußten tiefer fliegen, um nicht geortet zu werden, und haben es deshalb im Sinkflug gerade noch über die Wasserfälle geschafft. Dann sind wir mit Bodeneffekt über dem zugefrorenen Fluß zu dem Dorf geflogen, wo ich damals mit meinem Ex war. Dort habe ich den Käfer geparkt, in dem meine Freundinnen warten. Weil wir im Flug nie über den Funkhorizont zu euch gekommen sind, bin ich mit Schneegleitern auf dem Fluß losmarschiert, um die Talbiegung zu erreichen, wo ich mit dem Handsender Richtfunkverbindung zu euch habe. Da bin ich jetzt, und sobald ich diese Mitteilung gesendet habe, gehe ich zurück zum Käfer. Ich bin versucht, mir Zeit zu lassen, weil ich meine Ex-Herrin den Dorfbewohnern als Pfand für die Ausrüstung zurückgelassen habe, die sie mir gaben. Aber ich werde mich beeilen, denn es ist schon dunkel. Ich rechne mit zweieinhalb Stunden. Falls ihr vor mir dort seid, dann sucht mich auf dem Fluß. Ihr müßtet meine Spuren im Schnee sehen, denn zwei Monde stehen am Himmel. Das wäre alles. Auf bald; Flora Ende.“

„Weiß sie, daß die Nachricht durchgekommen ist?“ fragte ich Gudrun.

„Ja, die Anlage hat eine automatische Empfangsbestätigung gesendet“, antwortete sie.

„Gut. Wir werden wegen des Verkehrsstaus auf der Wurmlochroute noch eine Weile brauchen; vielleicht schaffen wir es heute nicht mehr zu euch.“

Der Transit erfolgte kurz nach dem Ende des Gesprächs, und wir kamen im ersten der unbewohnten Systeme auf dem Weg nach Kyerak heraus. Unter uns lag die Nachtseite eines luftlosen Planeten, der seine rote Zwergsonne eng umkreiste und von ihr auf der Tagseite so stark erhitzt wurde wie der Merkur. Der Parabelflug zum nächsten Wurmlochportal nahe der jenseitigen Tag/Nachtgrenze dauerte eine Stunde, und noch vor seinem Ende wurde uns unerwartet eine weitere Audionachricht von Talitha übermittelt.

„Mein Geliebter“, keuchte sie, „ich mußte umkehren. Ich bin auf dem Rückweg zwei Yarriuk begegnet. Einen habe ich mit mehreren Laserschüssen getötet. Der zweite hat einen Bogen, und ich bezweifle, daß ich ihn mit den Schüssen, für die ich noch Energie habe, auf eine Distanz ausschalten kann, auf die er mich mit seinen Pfeilen nicht erwischt. Das würde ich zur Not versuchen, falls er mich einholt, und dann könnte ich nur hoffen, ihn so schwer zu verwunden, daß ich ihn mit dem Schwert und den Wurfmessern töten kann, die die Durdai mir gegeben haben.“ Kurze Zeit schwieg sie, und wir hörten nur ihr Atmen und das leise Knirschen ihrer Schneegleiter. Dann fuhr sie fort: „Jetzt bin ich wieder an der Stelle, von der ich euch vorhin angerufen habe, und marschiere auf dem Silsar weiter auf euch zu. Der Yarriuk ist zurückgefallen, weil er mit seinen kurzen Beinen und den Schneeschuhen langsamer ist als ich. Aber er wird meine Spur nicht verlieren, und vielleicht hat er mehr Ausdauer als ich. Bitte beeilt euch! In Liebe, Deine Talitha.“

Neben der Angst in ihrer Stimme verriet auch die Tatsache, daß sie auf ihren Codesprech vergessen hatte, unter welchem Streß sie stand. Ich drängte meine eigene Sorge um sie zurück und nahm eine Botschaft auf, in der ich unsere Situation und jene der Taverne schilderte und ihr riet, sich in der Burg Filkaur zu verstecken, ehe sie zu müde würde. Nachdem ich ihr noch Mut zugesprochen und ihr meine Liebe ausgedrückt hatte, schickte ich die Aufzeichnung an Gudrun und trug ihr auf, sie in die Funkanlage zur automatischen Sendung an Talitha einzuspeichern, wenn sie wieder Verbindung aufnahm.

Im zweiten Etappensystem, über dem Mond einer heißen Supererde, erreichte uns Talithas nächste Mitteilung. „Mein geliebter Draco“, begann sie, und ich war stolz auf sie, weil sie daran gedacht hatte, meinen Klarnamen zu vermeiden, „ich habe deine Nachricht erhalten. Ich werde also in der Burg übernachten müssen; ich rufe euch an, wenn ich drin bin. Wenigstens hat es zu schneien begonnen, und es ist Wind aufgekommen. Das gibt mir Hoffnung, daß der Yarriuk meine Spur in die Ruine nicht mehr sieht, wenn er dort ankommt. Er ist mir zuletzt immer noch am Rand der Sichtweite gefolgt, aber wegen des Schneefalls sehe ich ihn jetzt nicht mehr. Das belastet mich, weil ich nicht erkennen kann, ob er aufholt. Ich gehe so schnell ich kann, aber ich werde immer müder. Ich würde gern das Schwert und die Messer wegwerfen und den Schlitten stehen lassen, aber ich werde die Ausrüstung noch brauchen, und die Waffen vielleicht auch. Das Mondlicht ist trüb und diesig geworden, und der Wald ist nur noch als undeutliche dunkle Masse erkennbar. Ich halte mich an das rechte Ufer, damit ich die Mündung des Sgip nicht übersehe. Die Dunkelheit schließt sich um mich. Ich… ich habe Angst, Draco. Ich wollte dich nicht damit belasten, aber jetzt habe ich es doch gesagt.“ Sie holte tief Luft. „Bitte vergiß mich nicht, falls ich diese Nacht nicht überlebe. Ich liebe dich sehr. Deine Dominy. Ende.“

Bei diesen Worten schnürte sich mir die Kehle zu, und ein Blick zu Aithiras verriet mir, daß ihr die Situation ebenfalls naheging. Sie hatte Talitha persönlich kennengelernt, als sie einmal auf dem Weg zur Erde Zwischenstation in der Taverne gemacht hatte. Ich überlegte, was ich in meiner nächsten Sendung sagen könnte, während Aithiras unseren Flug durch das Wurmloch nach Gamma Pavonis beobachtete. Im Mondsystem von Kyerak erwarteten uns als erster Schreck die vielen zusätzlichen Schiffe von diesem Planeten, die auf ihre Passage nach Babylon 6 warteten, und als nächster die Mitteilung, daß wir frühestens in zehn Stunden weiterkönnen würden. Ich rechnete mir aus, daß es in Filkaur schon Mittag sein würde, bis wir dort sein konnten, und falls der Yarriuk Talithas Anwesenheit in der Burg vermutete, würde er vier Stunden Tageslicht haben, um sie zu suchen.

Daß die zusätzliche Wartezeit erst hier bekanntgegeben wurde statt schon bei den Etappenstationen, deutete Aithiras als Zeichen für Korruption seitens der Shomhuman-Flugkontrolleure, die die Lage für den Schwarzverkauf besserer Reihungen ausnützten. Verzweifelt verhandelten wir in der nächsten Stunde, bis ein Koordinator anbot, uns in fünf Stunden mit einem Beiboot zwischen zwei größeren Schiffen einzuteilen, gegen Zahlung von hunderttausend GVE und Überlassung von Nouris‘ Reihungsplatz, den er an einen anderen Bieter verkaufen wollte. Da wir das Wurmloch von Babylon 6 nach Delpavo ohnehin nur mit dem Beiboot passieren konnten, gingen wir darauf ein. Ich nahm meine Nachricht an Talitha auf, in der ich ihr auch unsere erwartete Ankunftszeit am Morgen mitteilte, und bald nachdem ich sie gesendet hatte, kam ihre Antwort.

„Lieber Draco“, sagte sie müde, „ich habe die Burg erreicht und über einem Stall einen intakten Raum gefunden, wo ich den Rest der Nacht verbringen werde. Er liegt an der westlichen Außenmauer nahe dem Turm mit der zerstörten Kuppel und der eingestürzten Brücke zum Nachbarturm. Ich wickle mich jetzt ein und versuche zu schlafen. Ich würde dir gern noch mehr sagen, aber ich bin so erschöpft, daß mir nichts Sinnvolles einfällt, und es wäre sowieso immer zu wenig. Wir sehen uns dann hoffentlich morgen früh. Gute Nacht, und grüße Aithiras von mir.“

Der Gedanke, daß dies das Letzte sein konnte, was ich jemals von ihr hören würde, war fast zu viel für mich, und dazu kam die Ungewißheit, ob der Flugkoordinator unseren Durchschlupf-Slot nicht noch in den verbleibenden Stunden an einen anderen verkaufen würde, der mehr bot. Aithiras lenkte mich ab, indem sie mich zur Vorbereitung der Aktion einschließlich der Zusammenstellung unserer Ausrüstung animierte. Als Waffe nahm ich ein Gaußgewehr mit Zieloptik mit, und Aithiras blieb bei ihrer Dienstpistole, einem kompakten Laser, mit dem sie am besten vertraut war. Unsere Kleidung bestand aus graubraunen Thermooveralls mit maximal gefüllten Mikro-Luftkammern.

Endlich kam die Freigabe. Wir entsandten Nouris auf ihren Warpflug direkt nach Delta Pavonis, wo sie in drei Tagen eintreffen würde, und reihten uns mit einem der langen Beiboote zwischen zwei große Schiffe ein. Als wir über Babylon 6 herauskamen, schwebte dort gerade ein zylindrisches Objekt mit den Ausmaßen eines sehr großen Raumschiffs ganz langsam senkrecht in das Wurmlochportal nach Ssrranth. Es war anscheinend kein Raumschiff, denn an seinem Ende war etwas angekoppelt, das nach einem separaten Bugsierschlepper aussah. Später erfuhren wir, daß es zum Sontharr-Konvoi gehörte.

Ferngesteuert von der Verkehrskontrolle flogen wir zu unserem Zielportal und hindurch, und sobald wir nach dem Austritt über der Kraterlandschaft von Camlem wieder Eigenkontrolle hatten, gingen wir in ein Beschleunigungsprofil über, das uns innerhalb unserer Belastungsgrenzen in kürzestmöglicher Zeit über die Ostseite des Irkanon-Gebirges brachte. Auch der steile Atmosphäreneintritt ging an unsere Grenzen, und als wir über den letzten Kilometern des Sgip wieder in normaler Fluglage waren, lag die verschneite Landschaft schon im rosiggelben Morgenlicht unter uns.

Mit der tiefstehenden Sonne im Rücken anfliegend, setzten wir eine Drohne aus und schickten sie zur Westseite der Burg voraus. Sie kurvte von Süden um den von Talitha bezeichneten Turm, und ihre Kamera zeigte eine Spur im Schnee, die an der Westmauer entlang in einen Hof führte. Dort hockte der Yarriuk hinter einem Mauerrest und beobachtete ein Gebäude mit intaktem Holztor, wo er anscheinend Talitha vermutete.

Wir glitten auf wenige Meter über dem Boden herab und landeten vor der Ostmauer in der Nähe einer Bresche. Durch diese drangen wir in die Burg ein, ich voran mit dem Gewehr in Bereitschaft, und Aithiras folgte mir und beobachtete den Yarriuk weiter auf dem Bildschirm ihres Drohnensteuergeräts. Hinter uns stieg das Beiboot von seiner KI gesteuert wieder einige Meter auf, um uns aus der Luft gegen Überraschungen zu sichern.

Über einen Vorhof stapften wir zu einem verfallenen Nebentrakt, von dem nur die Gewölbe im Erdgeschoß noch nicht eingestürzt waren. Dort fanden wir einen dunklen Raum mit zwei Fenstern zum Hof dahinter, und durch diese erspähten wir den Yarriuk, der ganz langsam hinter dem Mauerrest hervorkam, seinen Bogen hob und einen Pfeil auf die Sehne legte.

Talitha war gerade aus dem Tor getreten, in typischer brauner Durdai-Winterkleidung, schaute zum Osthimmel auf und bemerkte dadurch den lauernden Feind nicht. Dann wandte sie sich suchend in unsere Richtung, ohne uns im Schatten unseres Gewölberaums zu sehen. Rasch ging ich hinter dem rechten Fenster in den stehenden Anschlag, während Aithiras ihre Pistole zog und sich hinter das linke Fenster stellte.

Ich aktivierte das Leuchtpunktabsehen, und da der Yarriuk den Bogen schon gespannt hatte und zielte, legte ich den roten Lichtpunkt auf seine Bogenhand statt auf seinen Kopf und drückte ab.  Mit einem scharfen Knall sprang das Kupfergeschoß als weißgrüner Blitz über den Hof, durchschlug einen Fingeransatz, den Rand des Bogens und die Handfläche und zerriß das Handgelenk. Der Yarriuk stieß einen krächzenden Schrei aus und ließ den Bogen und einen Sekundenbruchteil später den Pfeil los, der kraftlos neben Talitha in den Schnee fiel. Sofort begann Aithiras Laserschüsse auf die Brust des Wesens abzufeuern und verschaffte mir damit Zeit, um nach dem harten Stoß gegen meine Schulter auf seine Nase zu zielen, hinter der seine Entsprechung zu unserem Großhirn auf der Schädelbasis lag. Ein weiterer grüner Blitz, begleitet von einem widerhallenden Krachen, und die graugrüne Trollgestalt brach zusammen.

„Dominy, wir sind’s!“ rief ich durch das Fenster zu Talitha hinaus, die sich erschrocken umgedreht hatte und gerade ihren Blaster aus einer Tasche hinter dem Schwert zog. „Paß auf ihn auf, wir kommen zu dir hinaus.“

„Ich habe schon vermutet, daß ihr da sein könntet“, antwortete sie, „denn ich habe vorhin am Himmel ein Glänzen wie von einer Drohne gesehen und dann nach euch Ausschau gehalten. Das hat mich von dem Yarriuk abgelenkt.“

Durch einen schmalen Gang neben unserem Raum eilten wir zu ihr hinaus, und dann stand ich vor ihr und betrachtete verwundert ihren Ohrschmuck und die geschminkten Lippen. Aithiras nahm mir das Gewehr ab, damit ich Talitha umarmen konnte, und nach einem langen Kuß, der die Zeit überbrückte, in der uns beiden die Stimme versagt hätte, löste sie sich von mir und berührte ihr linkes Ohrgehänge.

„Wir hatten uns für einen Showgirl-Auftritt bereit gemacht“, erklärte sie. „Dann kam der Überfall, und auf der Flucht begegneten wir einem der Angreifer, der Ndoni mit sich führte. Sie war in Handschellen, und er wollte uns zum Mitmachen gegen sie überreden. Ich traute ihm aber nicht, und so haben wir ihn überraschend niedergeschlagen und getötet. Mit seiner Waffe und der gefesselten Ndoni haben wir uns in dem Tumult zu ihrem Privattrakt durchgeblufft, und sie hat mitgespielt gegen mein Versprechen, sie freizulassen, wenn wir die Taverne erreichen. Dank ihr konnten wir die Gold Bug starten, die jedoch nach dem letzten Flug noch nicht wieder aufgetankt war. Jetzt müssen wir aber dringend bei dem Schiff anrufen und meine Freundinnen von ihren Sorgen erlösen.“

„Ich bin sehr stolz auf dich“, sagte ich und küßte sie noch einmal. „Aber du hast recht, wir müssen uns jetzt um die anderen kümmern. Für große Worte und anderes nehmen wir uns später richtig Zeit.“

Wir überzeugten uns davon, daß der Yarriuk wirklich tot war, und stiegen dann mit dem Beiboot in eine Position auf, von der wir Richtfunkverbindung zur Gold Bug aufnehmen konnten. Hinzufliegen riskierten wir lieber nicht, da die Satelliten von Shom-Earth auf Abwärmesignaturen und schnelle Bewegungen ansprachen und daher Gefahr bestand, daß sie solch einen verbotenen Raumschiffbesuch bei Einheimischen entdeckten. Nachdem alles Notwendige gesagt worden war, flogen wir zur Taverne, um die Abholung der fünf Frauen und des Schiffes vorzubereiten.

Drei Stunden später näherten wir uns dem Dorf mit dem bewaffneten Expeditionswagen, der bei Gahoriam nach meinen Vorgaben entstanden war. Durch die Bäume sahen wir schon die abgerundete Keilform der Gold Bug, die am Dorfrand parkte.

Das Fahrzeug, das seit einem halben Jahr zur Ausstattung der Taverne gehörte, war ein Monstrum. Es bot innen Stehhöhe, war mit sieben Sitzen ausgestattet und verfügte über ein aktives Fahrwerk. Seine Räder wurden von vier Elektromotoren mit je hundert Kilowatt Leistung angetrieben, die ihre Energie von sechs Hochtemperatur-Brennstoffzellen mit nachgeschalteten Abdampfturbogeneratoren bezogen. Sein für eine große Reichweite bemessener Wasserstofftank und der zusätzliche Sauerstofftank für Spitzenlast ermöglichten es, genug Treibstoff an die Gold Bug abzugeben, daß sie mit dem Rest in ihren Tanks auf einer ballistischen Flugbahn die Taverne erreichen und dort sanft landen konnte.

Da Talitha den Durdai erzählt hatte, daß Ndoni für mich bestimmt gewesen sei und ich sie belohnen würde, wenn sie sie mir unversehrt übergäben, führten wir diverse Tauschgüter mit, die in der Taverne verfügbar waren und ihnen unbedenklich gegeben werden konnten, wie Lebensmittel, Salz und Stahlrohlinge aus der Pistolenwerkstatt unseres Schriftführers für den Dorfschmied. Wir, das waren nur Talitha und ich, denn es mußten fünf Sitze frei bleiben.

Nun kamen fünf Dorfbewohner auf uns zu, begleitet von den befreiten Frauen aus der Caravanserai. Letztere kannte ich alle: Natalia, Kaycee, Christina – und Amelia, die das Translatorset trug und an Talitha übergab. Wir überreichten den Durdai, die wie Europäer mit orientalischen und asiatischen Beimengungen aussahen, etwas von den mitgebrachten Sachen zur Begrüßung sowie die Dinge, die sie Talitha geliehen hatten, und erhielten die Erlaubnis, den Wagen für die Betankung an die Gold Bug heranzufahren.

Während dieser Vorgang lief, wurde Ndoni herbeigeführt, um über ihre Auslösung zu verhandeln. Sie trug ein grünes Kleid, das zerrissen und ebenso schmutzig war wie sie, und ihre Hände waren mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Ihr Gesichtsausdruck verriet, daß sie eine kalte, schwere Nacht hinter sich hatte und nun vorsichtig hoffte, befreit zu werden, während sie auf eine Enttäuschung gefaßt war und ihre Angst und ihr Kältebibbern zu verbergen versuchte.

„Hallo Stiefmütterchen“, sagte sie mit gequältem Lächeln zu Talitha. „So sieht man sich wieder, könntest du jetzt zu mir sagen.“ Sie senkte den Blick und sah mich dann an. „Und du – jetzt könntest du mich bequem loswerden und Talitha immer bei dir haben.“

„Ja, Greensleeves, das könnte ich“, antwortete ich und trat vor sie. „Sag‘ mal, wie konnten sie die Caravanserai einnehmen?“

„Durch Verrat. Lakeisha hat die Abwehranlage abgeschaltet. Dadurch wurden wir aber auch bei unserem Abflug hinter dem Hügel nicht geortet. Ihre Schiffe parkten auf dem Landefeld.“

Also hatte man eine ihrer Wächterinnen bestochen; diejenige, die mir damals im Sietch geöffnet hatte. „Und hast du mitgekriegt, wer es war?“ fragte ich.

„Greyhawk. Ich hatte mich schon über seine Besuche bei uns gewundert, bei seinen schwulen Neigungen. Jetzt weiß ich es: er hat uns ausgekundschaftet.“

„Naheliegend.“ Greyhawk trug im Earthin-Milieu wegen eben jener Neigungen und seiner Grausamkeit den Spitznamen Harkonnen, und außerdem… „Aber jetzt zu dir: du und Talitha habt euch gegenseitig etwas versprochen, wie ich höre.“

„Völliger Reset zwischen uns zwei“, sagte Talitha.

„Freiheit für dich nach gelungener Flucht“, sprach ich weiter, „und Freiheit für Talitha und die anderen vier. Und Schwamm über alles, was bisher zwischen euch war. Nachdem Talitha ihre Racheabsicht gegen euch aufgibt, setzt du dich bei deinem Vater für die Streichung des Freilassungsverbots in eurem Übergabevertrag ein, womit Mertons Vorkaufsrecht hinfällig wird.“

Ndoni sah mich stumm an, als würde sie mit einem Entschluß ringen. „Ach Draco“, sagte sie dann, „es gibt diese Klausel gar nicht, und auch kein Vorkaufsrecht. Alles gelogen, damit ich sie weiter behalten kann. So, jetzt hab‘ ich’s gesagt, und jetzt hast du’s nicht mehr nötig, mich hier rauszuholen.“

Verblüfft über dieses Geständnis, fragte ich mich nach ihrem Motiv dafür. Kannte sie mich gut genug; wollte sie um ihrer selbst willen befreit werden, ohne Erwartung einer Gegenleistung dafür? Und Merton mußte von ihrer Lüge gewußt haben, denn er war gerissenerweise auf mein Angebot eingegangen und hatte so getan, als hätte er ein Vorkaufsrecht abzutreten. Dann fiel mir etwas ein.

„Ich habe von Merton erfahren, daß dein Vater nach der Warnung deiner Wächterin sofort den Sietch gesichert hat“, sagte ich, „ehe die Angreifer auch diesen übernehmen konnten. Dort waren auch ein paar deiner Sklavinnen, und weitere dürften auswärts verliehen sein. Ich löse dich aus gegen dein Versprechen, die alle nachprüfbar freizugeben, und dann bekommst du auch die Gold Bug zurück. Die wirst du brauchen, wo jetzt die Dreamspider weg ist. Bis alle diese Bedingungen erfüllt sind, dienst du Talitha und mir unentgeltlich, so wie sie damals mir gedient hat.“

Ndoni lächelte erleichtert. „Abgemacht“, sagte sie. „Den Vertrag bei Shom-Earth können wir fixieren, sobald wir in der Taverne sind.“

Die Auslöseverhandlung dauerte nicht lange, und nachdem die Gold Bug zu ihrem programmierten Kurzflug gestartet war, setzten wir anderen uns in den Wagen und rollten los. Während der Fahrt flußaufwärts auf dem schneebedeckten Eis des Silsar, mit Ndoni zwischen Talitha und mir auf dem mittleren Vordersitz, beschäftigte mich etwas, von dem ich ihr nichts gesagt hatte.

Maxim Kaunda war mit einem Kampftrupp von Majerdun zum Sietch geeilt und hatte sich dort verborgen gehalten, um einen Angriff der Feinde abzuwehren, die die Caravanserai überfallen hatten. Nur daß kein solcher Angriff gekommen war.

Das brachte mich auf den Verdacht, daß Greyhawk im Auftrag von Nirdols Rivalen gehandelt hatte und Morris Wiener oder Talitha oder beide das eigentliche Ziel gewesen waren: Morris als Geisel gegen Merton und für Harkonnens Vergnügen, und Talitha, um die Basis des Deals zwischen Merton und mir zu beseitigen. Falls diese Vermutung zutraf, war er zumindest halb erfolgreich gewesen, denn auch wenn er weder Morris noch Talitha erwischt hatte, war Talitha als Folge des Überfalls nun frei und somit kein Grund mehr für mich, mit Merton Wiener zusammenzuarbeiten.

Für mich blieb aber das Dilemma, einen anderen Grund dafür finden zu müssen, um Nirdol zufriedenzustellen, und damit ins Visier seiner Nemesis zu geraten. Wer das war, konnte ich vielleicht herausfinden, wenn der rachedurstige Maxim Kaunda dank meiner Hilfe für Ndoni Greyhawk erwischte und ihn für mich nach Hinweisen auf seinen Auftraggeber ausquetschte. Und damit würde vielleicht Pyetar etwas anfangen können, der mich einmal vor Greyhawk und seiner vermuteten Verbindung zu Khenalai-Kreisen gewarnt hatte.

Fortsetzung: Kapitel 15 – Unter den Friedhofsmonden

Anhang des Verfassers:

Nachfolgend habe ich wieder Links, Bilder und Videos zum obigen Kapitel gesammelt, zuerst die Links in der Reihenfolge, wie die Begriffe darin vorkommen:

Zeta Tucanae (Wiki engl.), Zeta Tucanae (SolStation), Trantor, Arduinna (nordgallische Jagdgöttin), Hawking-Strahlung, Apsis, Roche-Grenze, koorbitale Monde, gebundene Rotation,

Das ist eine Seitenansicht von Maxim Kaundas Gloryhole; der dickere Habitatrumpf links ist hinten und der schlankere Waffen- und Antriebsteil rechts ist vorne:

Wie bei Merton Wieners Arduinna (siehe Bilder im Anhang zu Kapitel 8) besteht die bewegliche Bewaffnung aus zwei kurzen Teilchenstrahlern beiderseits des Vorderrumpfs und zwei Gaußkanonen (Kinetics) beiderseits des Hinterrumpfs. Dazu kommen noch vier starre, großkalibrige Gaußkanonen mit 30 m Länge im Vorderrumpf und vier lange Teilchenstrahler, die von der Frontplatte bis zum Hinterende des Verbindungshalses reichen und vor den Galciv-Behörden geheimgehalten werden müssen. Die Decks sind senkrecht zur Längsachse angeordnet, und in der Mitte des Hecks liegen die Beiboothangars.

Benannt ist die Gloryhole nach dem Raumschiff des schwarzen Handelsherrn Maxim Malaika in Alan Dean Fosters erstem Flinx-Roman „Das Tar-Aiym Krang“; hier zwei Darstellungen dieses Schiffes:

„Flinx lächelte, achtete aber darauf, daß der Handelsmann es nicht bemerkte. Nur wenige wußten, was der Name von Malaikas privater Yacht zu bedeuten hatte. Die meisten glaubten, es handele sich um ein altes terranisches Wort, das einen reichen Mineralfund bedeutet…“

Nach diesem Kapitel ist auch klar, wer Aithiras Ghaseyon Outfits wie dieses in Peter Andrew Jones‘ Bild „Beyond the Barrier“ tragen läßt, das sie bei dem Treffen in Altavor wieder anhat…

10g Peter Jones Beyond the Barrier by Damon Knight 1978

…sowie weitere sexy Outfits, auch (aber nicht nur) nach anderen SF-Illustrationen, nämlich Nirdol und seine Clique.

Die Passage „Versuchung, sei ferne mir immer“ ist von einer Zeile in Charles Baudelaires Gebet eines Heiden aus „Die Blumen des Bösen“ abgewandelt:

Lass nicht die Flammen verschwelen.
Lös‘ der Erstarrung Weh‘,
Wollust, Folter der Seelen!
Diva! exaudi me!

Göttin, im All sich verlierend,
Flamme, die ganz uns durchdringt!
Höre dies Herz, das erfrierend
Eherne Sänge dir singt.

Wollust, bleib Herrin mir immer!
In der Verführerin Schimmer,
Der Maske aus Fleisch und Samt,
Im Trank, der mich seltsam entflammt
Und Träume schenkt fremd und erlesen:
Wollust, du schmiegsames Wesen!

Und hier sind noch drei Videos:

Please allow me to introduce myself
I’m a man of wealth and taste…

Pleased to meet you
Hope you guess my name
But what’s puzzling you
Is the nature of my game

Der, wer rein im Geist und sonder Furcht ist… (ab 4 min.):

Oh, a storm is threat’ning
My very life today
If I don’t get some shelter
Oh yeah, I’m gonna fade away…

War, children, it’s just a shot away
It’s just a shot away…

Hier noch eine Instrumentalversion von „Gimme Shelter“ zu Kampfszenen aus dem Vietnamkrieg:

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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