Von Sándor Avraham, übersetzt von Lucifex. Das Original The True Origin of Roma and Sinti erschien auf Myths, Hypotheses and Facts Concerning the Origin of Peoples. [Anm. d. Ü.: der Autor, der selbst ein Zigeuner ist, argumentiert darin, daß sein Volk aus einem verlorenen jüdischen Stamm des nördlichen Königreichs Israel hervorgegangen ist. Sein Essay ist ein langer, stellenweise etwas weitschweifiger und trockener Text, weshalb ich seine Übersetzung all die Jahre, seit die AdS-Leserin Auguste-Viktoria uns darauf aufmerksam gemacht hat, immer vor mir hergeschoben habe. Aber er ist dennoch interessant und aufschlußreich.]
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Viele Mythen sind über den Ursprung jenes mysteriösen Volkes ausgearbeitet worden, das in jedem westlichen Land präsent ist und mit verschiedenen Namen benannt wird, üblicherweise als Zigeuner, Gypsies, Gitanos, Cigány etc., und dessen korrektes Ethnonym für die meisten Gruppen Rom (oder besser Rhom) ist und Sinti für andere. Wir werden hier nicht mit den universal anerkannten Legenden auseinandersetzen, sondern mit dem letzten und verbreitetsten Mythos, der immer noch für wahr gehalten wird: ihre angebliche indoeuropäische Volkszugehörigkeit.
Daß Roma Europa nach einer langen Reise erreichten, die irgendwo in Indien begann, ist eine Tatsache, die nicht bedeutet, daß sie aus ihrem ursprünglichen Heimatland kamen. Jeder muß von irgendeinem Ort kommen, wo seine Vorfahren zuvor lebten, wohin sie vielleicht aus irgendeinem anderen Land kamen.
Die ganze Hypothese hinsichtlich ihres angeblichen indoeuropäischen Volkstums gründet sich auf nur einer Sache: der Sprache Romanes. Solch eine Theorie berücksichtigt keine anderen wichtigen kulturellen Tatsachen und Hinweise, die zeigen, daß Roma mit indischen Völkern nichts außer einigen linguistischen Elementen gemeinsam haben. Wenn wir eine Hypothese ernst nehmen sollen, die nur die Sprache berücksichtig, um den Ursprung eines Volkes zu bestimmen, dann müssen wir annehmen, daß fast alle Nordafrikaner aus Arabien kamen, daß aschkenasische Juden ein deutscher Stamm sind, daß sephardische Juden Spanier waren, die einer religiösen Minderheit angehörten, aber keinem anderen Volk, und so weiter. Schwarze Amerikaner wissen nicht einmal, welche Sprache ihre Vorfahren sprachen, folglich müssen sie Engländer sein. Sprache allein ist definitiv keine ausreichende Grundlage, um den ethnischen Hintergrund festzustellen, und all die anderen bestimmenden Fakten sprechen gegen den indischen Ursprung der Roma – einschließlich auch mancher Hinweise in der Roma-Sprache selbst. Die relevantesten Elemente, die in jedem Volk seit fernster Vergangenheit fortbestehen, sind von spiritueller Natur, wie sie sich in ihren inneren Gefühlen, typischen Verhaltensweisen und der unterbewußten Erinnerung manifestieren, nämlich ihr atavistisches Erbe.
In diesem Essay beginne ich mit der Darlegung des Mythos, bevor ich die Fakten und die daraus folgende Hypothese über den wahren Ursprung der Roma präsentiere.
Viele Bemühungen sind von Wissenschaftlern unternommen worden mit dem Zweck, den indischen Ursprung der Roma zu beweisen, und sie alle sind einer nach dem anderen daran gescheitert, überzeugende Beweise zu liefern. Manche Darstellungen, die als Referenzen verwendet wurden, wie die von Firdausi geschriebenen Geschichten, sind nun diskreditiert. Alle Völker, die angeblich mit den Roma verwandt sind, nämlich Dom, Luri, Gaduliya Lohar, Lambadi, Banjara etc. haben in Wirklichkeit überhaupt keine Verbindungen mit den Roma und nicht einmal gemeinsame Ursprünge. Die einzige ersichtliche Ähnlichkeit sind das Nomadenleben und Berufe, die für jeden nomadischen Stamm jeglicher ethnischer Abstammung typisch sind. All diese müßigen Ergebnisse sind die natürliche Folge einer Forschungsarbeit, die nach falschen Mustern betrieben wird: sie ignorieren die Essenz der Kultur der Roma, das heißt, das spirituelle Erbe, das mit allen indischen Völkern inkompatibel ist.
Eine neuere Theorie, die einigen Erfolg in dem intellektuellen Umfeld hat, das sich für das Thema interessiert – und die dazu bestimmt ist, sich wie all die vorhergehenden Hypothesen als irrig zu erweisen – gibt vor, die ursprüngliche „Stadt“ entdeckt zu haben, aus der die Roma gekommen sein könnten: Kannauj in Uttar Pradesh, Indien. Der Autor ist jedenfalls zu einigen wertvollen Schlußfolgerungen gekommen, die all die vorherigen Theorien diskreditieren, doch nachdem er derselben Spur folgt, einem rein linguistischen Hinweis, verfehlt er das Ziel. Somit begründet der Autor die gesamte Argumentation auf einem angeblichen linguistischen Beweis, der völlig ungenügend ist, die kulturellen Merkmale der Roma zu erklären, die nicht mit Sprache zu tun haben und die unzweifelhaft viel relevanter sind, und keine zuverlässigen Beweise werden gegeben, die seine Theorie stützen.
In diesem Essay werde ich einige Behauptungen des Autors zitieren, obwohl ich seine seltsame und unpassender Art, Romanes-Wörter zu schreiben, durch eine richtigere und verständlichere Transliteration ersetze – zum Beispiel repräsentiert das „rr“ kein Phonem in Romanes; das gutturale „r“ wird besser durch „rh“ dargestellt, obwohl es nicht alle Romanes-Dialekte aussprechen, so wie die Volksbezeichnung „Rom“ entweder als „Rhom“ oder einfach „Rom“ gesprochen wird. Doch das „h“ wird herkömmlicherweise verwendet, um einen ergänzenden Laut zu einem vorhergehenden Konsonanten zu kennzeichnen, und wenn graphische Betonungszeichen, Circumflexes oder andere zusätzliche Zeichen vermieden werden sollen, ist das „h“ in vielen Fällen der beste ergänzende Buchstabe. Ich persönlich würde das slowenische Alphabet mit einigen leichten Veränderungen benutzen, um die Roma-Sprache besser zu transkribieren, aber da grafische Zeichen vielleicht nicht immer durch das Internet gezeigt werden, verwende ich das alternative System.
Zur Darlegung der oben erwähnten Theorie beginne ich mit einer Aussage des Autors, die ich für richtig halte und mit der ich übereinstimme:
„Es ist auch bekannt, daß es in Indien kein Volk mehr gibt, das eindeutig mit den Roma verwandt ist. Die verschiedenen nomadischen Gruppen in Indien, die als ‚gypsies‘ (mit kleinem ‚g‘) bezeichnet werden, haben keine Verwandtschaft oder genetische Verbindung mit den Roma. Sie bekamen die Bezeichnung ‚gypsies‘ von der britischen Kolonialpolizei, die sie im neunzehnten Jahrhundert als Analogie zu den ‚Gypsies‘ Englands so nannte. Zusätzlich wandte sie auf sie dieselben diskriminierenden Regeln an wie auf die englischen ‚Gypsies‘. Später beharrten die meisten europäischen Forscher in der Überzeugung, daß Nomadentum oder Mobilität ein Grundmerkmal der Identität der Roma sei, darauf, die Roma mit verschiedenen nomadischen Stämmen Indiens zu vergleichen, ohne irgendwelche wirklichen gemeinsamen Merkmale zu finden, weil ihre Forschungsarbeit durch ihre Vorurteile hinsichtlich nomadischer Gruppen konditioniert worden war.“
Dies ist wahr, Forscher haben vorgefaßte Muster verwendet, auf denen sie ihre Hypothesen gründeten. Dennoch ist der Autor nicht davon ausgenommen, denselben Fehler begangen zu haben. Aus seiner eigenen Erklärung gehen die folgenden Fragen hervor: Warum gibt es in Indien kein einziges Volk, das mit den Roma verwandt ist? Warum wanderte das gesamte Volk der Roma aus, ohne die geringste Spur von sich oder irgendwelche Verwandten zu hinterlassen? Es gibt nur eine mögliche Antwort: sie waren keine Inder, ihr Ursprung lag nicht in diesem Land, und ihre Kultur war völlig inkompatibel mit der indischen. Nur eine religiöse Minderheit kann en masse aus einem Land auswandern, in dem die meisten Einwohner von derselben ethnischen Population sind. Und eine religiöse Minderheit bedeutete in jenen Zeiten einen „importierten“ Glauben, der nicht im indoarischen Bereich geschaffen wurde. Das angebliche Exil in Khorassan, das vom Autor als der Grund präsentiert wird, wegen dem die Roma Indien verließen, ist unbegründet und gibt keine Erklärung betreffend die angestammtesten Glaubensinhalte und Traditionen der Roma, die weder indisch noch moslemisch sind (denn Khorassan war in jenen Zeiten nicht mehr mazdaistisch), aber ich werde mich mit diesem Thema später in diesem Essay befassen.