Alexiej Shiropajews „Gefängnis der Nation“: Eine ethnonationalistische Geschichte Rußlands, Teil 1

Von Jarosław Ostrogniew, übersetzt von Lichtschwert (= Lucifex). Das Original Alexiey Shiropayev’s Prison of the Nation: An Ethnonationalist History of Russia, Part 1 erschien am 27. Januar 2016 auf Counter-Currents Publishing.

Алексей Широпаев
Тюрьма Народа. Русский взгляд на Россию
Москва 2001

[Alexiej Shiropajew, Gefängnis der Nation: Die russische Perspektive auf Rußland (Moskau, 2001).]

Es gibt verschiedene Ansätze beim Erzählen der Geschichte Rußlands und des russischen Volkes. Es gibt die patriotisch-orthodoxe Version der Geschichte, das kommunistische sowie das liberale und demokratische Narrativ. Es gibt natürlich einige wichtige Alternativen. Diejenige, die gegenwärtig die beliebteste unter europäischen Nationalisten zu sein scheint, ist die eurasianistisch-imperialistische Version, wie sie von Alexander Dugin beworben wird, aber in Wirklichkeit von Lew Gumiljow geschaffen wurde. Es gibt jedoch auch eine explizit weiß-nationalistische Erzählweise der Geschichte Rußlands. Die wichtigste Präsentation dieser Sichtweise ist Tyurma Naroda (Gefängnis des Volkes oder Gefängnis der Nation) von Alexiej Shiropajew. Wie Sie aus dem Titel allein ersehen können, ist Shiropajews Sicht auf den russischen Staat extrem kritisch.

Da das Buch nur auf Russisch erhältlich ist, und es extrem unwahrscheinlich ist, daß es jemals ins Englische (oder irgendeine andere Sprache) übersetzt werden wird, werde ich zuerst eine detaillierte Übersicht über Shiropajews Argument präsentieren, und dann eine Kritik an dem Buch.

Rus’ protiv Rossiyi: Rus’ versus Rußland

Ein Thema, das gleich einmal geklärt werden muß, ist die Terminologie. Zwei völlig verschiedene Wirklichkeiten werden durch die deutschen Begriffe „Rußland“ und „Russe“ zu einer gemacht. In der russischen Sprache gibt es zwei verschiedene Wörter als Name des Landes: „Rus‘“ und „Rossiya“. Rus‘ steht für die Länder, die ursprünglich von östlichen Slawen bewohnt wurden, wohingegen Rossiya den größeren russischen Staat bedeutet: das zaristische russische Reich, die Sowjetunion oder die zeitgenössische Russische Föderation. Und diese beiden Begriffe werden oft unter Verwendung eines Wortes ins Deutsche übersetzt: „Rußland“, was daher einige Verwirrung verursacht.

Im Russischen gibt es zwei verschiedene Begriffe: „Russkiy“ und „Rossiskiy“. „Russkiy“ (sowohl als Eigenschaftswort wie auch als Hauptwort) bedeutet einen ethnischen Russen, eine Person von ostslawischer Herkunft, die die russische Sprache spricht. „Rossiskiy“ (als Eigenschaftswort) oder „Rossiyanin“ (als Hauptwort) steht für eine Person, die Russisch spricht oder sich als Teil der russischen („rossiyskiy“) Kultur betrachtet und ein Bürger des russischen Staates sein kann – aber von jeder ethnischen Herkunft sein kann. Wiederum werden beide oft als ein Wort ins Deutsche übersetzt: „Russe“.

Daher ist ein moslemischer Tschetschene, dessen Muttersprache Tschetschenisch ist, der Grundkenntnisse in Russisch hat und sich als loyalen Bürger der Russischen Föderation betrachtet, unzweifelhaft ein „Rossiyanin“ und ohne Zweifel kein „Russkiy“. Ein heidnischer Russe, dessen Muttersprache Russisch ist und dessen Familie über zahllose Jahrhunderte auf russischem Boden gelebt und diesen bearbeitet hat, der die Russische Föderation verläßt und sich den ukrainischen Freiwilligenkräften anschließt, um gegen die Separatisten von Novorossiya zu kämpfen, ist kein „Rossiyanin“ mehr, aber er ist sicherlich ein „Russkiy“.

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Die Mythologie und Religion der Wikingerzeit

wikinger-grabsteine

Von Rudolf Simek, erschienen im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Die Wikinger“ in der Kunsthalle Leoben 2008; ISBN 987-3-9500840-4-0.

„Alle im Kampf auf dem Schlachtfeld gefallenen Krieger seit Anbeginn der Welt kommen nach Walhall zu Odin. Dort ist daher eine riesige Menschenmenge, aber für alle ist genug Fleisch vom Eber Saehrimnir da, der jeden Tag aufs Neue vom Koch Andhrimnir gesotten wird und am Abend wieder ganz ist. Odin aber füttert mit dem Fleisch nur seine beiden Wölfe, Geri und Freki, er selbst lebt nur vom Wein allein. Seinen Kriegern aber, unter denen sich natürlich viele Könige und Fürsten befinden, läßt er Met vorsetzen, der unablässig vom Euter der Ziege Heidrun in ein Gefäß tropft, sodaß alle Einherier – so heißen die gefallenen Krieger Odins – genug bekommen. Die Ziege aber steht auf dem Dach von Walhall und frißt die Blätter eines Baumes namens Laeradr. – Walhall hat 540 Tore, und durch jedes Tor können gleichzeitig 800 Krieger ausziehen, sodaß Odin ein riesiges Heer befehligt. Wenn die Einherier aber nicht gerade trinken oder essen, dann gehen sie am Morgen hinaus und kämpfen miteinander und erschlagen sich gegenseitig: das ist ihr Zeitvertreib, aber am Abend reiten sie heim nach Walhall und setzen sich alle wieder gemeinsam zum Trinken nieder.“ 1

Diese Schilderung von Odin und seinem Kriegerparadies Walhall prägt heute wie schon vor 100 oder 200 Jahren das neuzeitliche Bild von der Religion der Wikingerzeit und scheint die Todesverachtung der Wikingerkrieger angesichts dieses attraktiven Jenseits zu erklären. Sie fehlt in kaum einem Wikingerfilm und hat die Phantasie von deutschen, englischen und skandinavischen Schriftstellern der letzten Jahrhunderte beflügelt.

Dieses Bild ist aber lange nach der Wikingerzeit entstanden: Der christliche Dichter und Staatsmann Snorri Sturluson (1179 – 1241) hat es um 1225 auf Island als Teil seiner Edda verfaßt, zeitlich und räumlich fernab von wikingerzeitlichem Schlachtgetümmel. Seine Beschreibung ist stark beeinflußt von höfisch-romantischen, christlichen und antiken Vorstellungen des Hochmittelalters, aber als geschickter Autor hat er uns in dieser und vielen anderen mythologischen Beschreibungen ein in sich stimmiges und attraktives Bild der nordischen Vorzeit hinterlassen, das bis heute nachwirkt.

Wir müssen uns aber hüten, die wissenschaftliche und literarische Aufarbeitung nordischer Mythologie durch die christlichen mittelalterlichen Autoren in Snorris Edda ebenso wie der Liederedda mit dem wahren Glauben oder religiösem Brauchtum der Wikingerzeit zu verwechseln, auch wenn diese Werke und noch mehr die Sagas, die historischen Romane des 13. Jahrhunderts, ein romantisches Bild des wikingerzeitlichen Skandinavien vorgaukeln.

Was aber war wirklich die Vorstellung der wikingerzeitlichen Krieger von ihrem Nachleben? Zwei Erinnerungsgedichte (die Eiriksmál und die Hákonarmál), in den 960er-Jahren von zwei isländischen Skalden in Norwegen auf gefallene Fürsten verfaßt, zeigen ein etwas anderes Bild: Der Tod ist hier ein unausweichliches Schicksal, Odin ruft die Krieger zu sich, weil er sie zum Kampf gegen die Mächte der Unterwelt am Ende der Welt benötigt. Die ganze gefallene Armee zieht Richtung Walhall, aber nur der Fürst darf eintreten, und er ist voller Furcht vor dem unberechenbaren Gott, auch wenn einige Halbgötter oder Heroen den Helden in Walhall begrüßen.

Solche Diskrepanzen zwischen literarischer Darstellung des Hochmittelalters und Glaubenswelt der Wikingerzeit sind zwar bei einem zeitlichen Abstand von 250 Jahren zu erwarten, dürfen aber bei der Rekonstruktion der wikingerzeitlichen Religion nicht vernachlässigt werden, sodaß in erster Linie Quellen der heidnischen Zeit, also vor dem Ende des 10. Jahrhunderts, herangezogen werden müssen. Dazu kommt, daß die Glaubensvorstellungen der Wikingerzeit nicht einfach aus allen möglichen Quellen homogenisiert werden können, denn niemand konnte sich auf eine kodifizierte Buchreligion berufen wie etwa im Christentum. Von Gegend zu Gegend waren die Bräuche und Riten etwas abweichend, und auch die Mythenerzählungen finden wir nicht selten in mehr als einer Variante. Dies kann ebenfalls nicht überraschen, wenn wir uns vor Augen halten, daß die Wikinger in England und Irland, die schon ab etwa 800 in ständigem Kontakt mit der christlichen Bevölkerung der Inseln lebten, ihren eigenen Glauben einerseits anders erlebten als Menschen in den schwedischen Wäldern, zum anderen aber auch unterschiedliche Einflüsse, von keltischen Sagen in Irland oder antiken Stoffen in England bis zu slawischen oder byzantinischen Geschichten im Osten, auf die Religion der Skandinavier gewirkt haben müssen.

Im Folgenden können daher immer nur einzelne Schlaglichter aus den Quellen auf die religiösen Vorstellungen geworfen werden, ohne daß diese für alle Skandinavier der Wikingerzeit, von den Schweden in der kaiserlichen Warägergarde von Konstantinopel bis zu den isländischen Siedlern auf Grönland, Gültigkeit gehabt haben.

1 Frei paraphrasiert nach Snorri Sturluson: Edda, Gylfaginning, Kap. 38 – 41.

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Das Wikingererbe am Beispiel Island (2)

2a Stokksnes, Island

Von William R. Short und Jeffrey L. Forgeng, erschienen im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Die Wikinger“ in der Kunsthalle Leoben 2008; ISBN 987-3-9500840-4-0 (In dieser Form von „As der Schwerter“ übernommen; Karte und Bild von Edda-Handschrift aus dem Original, restliche Bilder von Deep Roots eingefügt). Teil 2 von 2 (Teil 1 hier):

FEHDEN, EHRE UND KAMPFKULTUR

Das isländische Rechtssystem diente in erster Linie zur Regelung des Umgangs mit Konflikten und Gewalt. In der Freistaatperiode herrschte in Island eine Kampfkultur vor. Es ist unbestritten, daß Gewalt oder die Androhung von Gewalt ein akzeptierter Bestandteil des Lebens in der Wikingerzeit waren. Gewalt wurde nicht nur als zulässiges Mittel betrachtet, um Konflikte zu lösen, sondern sie war in bestimmten Fällen sogar gesetzlich vorgesehen. Den Isländern der Wikingerzeit war jedoch klar, daß diese Gewalt so weit eingeschränkt werden mußte, daß sie das Gefüge der Gesellschaft nicht bedrohte und daß nicht ohne Notwendigkeit Leben genommen wurden. Im Hávamál (des Hohen Lied), einem in Gedichtform gegossenen Regelwerk für eine ethische Lebensführung, das teilweise vermutlich bis auf die Wikingerzeit zurückreicht, heißt es: „Der Hinkende reite, der Handlose hüte. Der Taube taugt noch zur Tapferkeit. Blind sein ist besser als verbrannt werden: Der Tote nützt zu nichts mehr.“

In Island wurden gewalttätige Konflikte im Rahmen der Fehdekultur entschieden. Die isländische Blutfehde ist am ehesten als stabilisierendes Instrument zu betrachten, mit dem versucht wurde, das Ausufern von Konflikten zu verhindern. In einer Gesellschaft, die keine zentrale staatliche Autorität kannte, mußten Einzelne und Familienverbände ihre Stellung aus eigener Kraft behaupten, um nicht Opfer ihrer Umgebung zu werden. Jeder Infragestellung eines Einzelnen oder einer Familie, sei es durch Beleidigung oder direkte Aggression, mußte mit einer abschreckenden Reaktion begegnet werden. Die Blutfehde war ein System gesellschaftlicher Konventionen, das einerseits die Sanktionierung mißliebiger Taten durch private Vergeltungsmaßnahmen zuließ, aber andererseits eine Eskalation und damit größere gesellschaftliche Schäden verhinderte.

Im Herzen der Fehdekultur stand das Konzept der Ehre – ein Wort, dem im modernen Sprachgebrauch kaum die Tiefe und Komplexität anhaftet, die in der Wikingerzeit mit diesem Begriff verbunden waren. Im praktischen Leben bezeichnete Ehre die gesellschaftliche Glaubwürdigkeit ihrer Inhaber. Ein Ehrenmann oder eine Ehrenfrau mußte respektvoll behandelt werden. Das Ansehen einer solchen Person hielt andere dazu an, sie in gesellschaftlichen, rechtlichen und geschäftlichen Belangen respektvoll zu behandeln. Jemand, der keine Ehre besaß, war Freiwild für Skrupellose. Ehre konnte nicht nur eine Einzelperson besitzen, sondern auch eine ganze Sippe: Verwandte zu haben, die hohes Ansehen genossen, war der eigenen Ehre zuträglich, während in Mißkredit geratene Familienmitglieder Schande über ihre Sippe brachten. Die Ehre war in allen Arten von Interaktionen mit Landsleuten ein wichtiges Gut. Doch die Ehre hatte auch eine metaphysische Dimension. Da das nordische Heidentum kein Leben nach dem Tod kannte, blieb von einem Verstorbenen nichts als sein guter Name, sein Ansehen und seine Ehre. Die Ehre war daher etwas von bleibendem Wert und stand über dem physischen Besitz.

Aus all diesen Gründen wurde von den Menschen erwartet, daß sie ihre Ehre, wie gering sie auch sein mochte, gegen jeden Angriff verteidigten. Natürlich war es besser, seine Ehre mit friedlichen Mitteln zu schützen, doch sie zu verteidigen – und sei es mit Waffengewalt – war Pflicht. Im Hávamál werden die Menschen aufgefordert, stets vor Angriffen auf ihre Ehre auf der Hut zu sein und mit ihren Feinden keinen Frieden zu schließen. Die Ehre einer Familie hochzuhalten war ein Tribut an die Vorfahren und ein Vermächtnis für die Nachkommen, und es galt als Pflicht, die Ehre zu schützen und nach Möglichkeit zu mehren.

Die Ehre konnte jederzeit beschädigt werden. Das war zum Beispiel der Fall, wenn jemand, dem offensichtlich Unrecht zugefügt worden war, auf Vergeltungsmaßnahmen verzichtete. Oft war das zugefügte Unrecht materieller Natur: Raub, Eigentumsbeschädigung, Körperverletzung oder auch nur eine geschäftliche Übervorteilung. Dabei spielte es keine Rolle, ob die eigene Ehre oder die eines Verwandten oder Untergebenen in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Die Ehre konnte durch immaterielle Rechtsverletzungen ebenso bedroht werden wie durch Verletzungen physischer Art. Bestimmte Beleidigungen galten als dermaßen empörend, daß der Adressat von Gesetzes wegen berechtigt war, denjenigen, der sie ausgestoßen hatte, zu töten. Die meisten dieser Beleidigungen beziehen sich auf Übertretungen der Geschlechterrollen. Dem altisländischen Rechtsbuch Grágás („Graugans“) ist zu entnehmen, daß ein Mann, der von einem anderen als weibisch bezeichnet wird oder behauptet, Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen anderen Mann geworden zu sein, diesen Mann als Vergeltungsmaßnahme töten darf.

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Das Wikingererbe am Beispiel Island (1)

1a Thingvellir

Von William R. Short und Jeffrey L. Forgeng, erschienen im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Die Wikinger“ in der Kunsthalle Leoben 2008; ISBN 987-3-9500840-4-0 (In dieser Form von „As der Schwerter“ übernommen; Bilder teils aus dem Original, teils von Deep Roots ausgewählt). Teil 1 von 2.

Um das Jahr 860 bestieg in Norwegen ein Wikinger namens Naddoddr ein Schiff und segelte nach Westen, in der Meinung, bei den Färöer-Inseln Land zu sichten. Er kam nicht an. Der Wind trieb sein Schiff vom Kurs ab, und er gelangte stattdessen an die Küste eines unbekannten Landes. Er und seine Mannschaft gingen an Land und stiegen auf einen hohen Berg, um nach Anzeichen menschlichen Lebens Ausschau zu halten. Sie entdeckten keine und schlossen daraus, das Land sei unbewohnt. Als sie auf den Färöern eintrafen, erzählten Naddoddr und seine Leute anderen von dem Land, das sie gefunden hatten. So begann die Erforschung und Besiedlung Islands während der Wikingerzeit. Nur 70 Jahre später war das Land vollständig in Besitz genommen und Heimat von vielleicht 40.000 Menschen.

Die Gesellschaft, die diese Siedler gründeten, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als einzigartig. Bei seiner Entdeckung war Island wirklich unbewohnt und wurde ohne Eroberung und ohne Mitwirkung einer eingeführten Monarchie oder Aristokratie besiedelt.

Die Isländer schufen eine einzigartige Regierungsform, die eine zentrale Herrscherperson vermied und einem ungewöhnlich breiten Bevölkerungsquerschnitt aktive Mitwirkung erlaubte. So ungewöhnlich waren die Gesetze und das Regierungssystem, daß sie die Kontinentaleuropäer zu Kommentaren herausforderten – der Chronist Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert lebte, formulierte es so: „Sie haben keinen König, nur das Gesetz.“

Vielleicht noch bemerkenswerter waren die literarischen Leistungen der mittelalterlichen Isländer. In der Wikingerzeit traten Isländer als die Hofdichter skandinavischer Könige in herausragende Erscheinung, und ihre Verse bewahrten das Andenken berühmter Personen und Ereignisse ihrer Zeit. Nachdem die Skandinavier gegen Ende der Wikingerzeit eine schriftliche Kultur übernommen hatten, waren es isländische Autoren, die sich der von ihren wikingischen Vorfahren überlieferten Legenden, Gedichte und Geschichten annahmen. Untypischerweise schrieben sie nicht Lateinisch, sondern in der Volkssprache, Altisländisch.

Die Isländer bewahrten diese Werke über das Mittelalter hinaus auf. Als sich Gelehrte der Neuzeit für die Geschichte der skandinavischen und germanischen Kultur zu interessieren begannen, öffnete ihnen das schriftliche Vermächtnis Islands ein Fenster zu einer Welt, die andernfalls weitgehend verloren wäre. Auch heute sehen wir die Wikinger vor allem aus isländischem Blick. Eine Darstellung der Wikinger bleibt immer unvollständig, solange sie nicht beschreibt, wie es kam, daß diese abgelegene Insel zum Aufbewahrungsort des Wikingererbes wurde.

DAS LAND

Frostadavatn bei Landmannalaugar

Frostadavatn bei Landmannalaugar

Das Land, das Naddoddr entdeckte, ist eine Insel im Nordatlantik, auf halbem Weg zwischen Norwegen und Grönland gelegen, mit einer Fläche von 103.000 km². Sie ist jung und geologisch aktiv. Sie liegt auf der Grenze zwischen der nordamerikanischen und der eurasischen Platte, woraus sich eine vulkanische und tektonische Kraft ergibt, die von unten her das Land verändert. Sie liegt außerdem ziemlich weit im Norden, sodaß die Gletscher aus der letzten Eiszeit das Land auch von oben bearbeiten. Die vereinten Kräfte von Feuer und Eis haben eine spektakuläre Landschaft gemeißelt.

Im Osten, Norden und Westen wird die Küste von Fjorden beherrscht. Im Süden herrschen breite Sandstrände vor, die aus dem mit dem Schmelzwasser von den Gletschern im Hochland hierher transportierten und abgelagerten Schluff bestehen. Das Landesinnere – hohe, teils vergletscherte, teils von einer tundraähnlichen Heide bedeckte Gebirgsplateaus, die für die Wärme der angrenzenden Meeresströmungen nicht mehr erreichbar sind – ist weitgehend unbewohnbar. Ausgedehnte Lavafelder bedecken Teile des Landes.

Naddoddr und seine Schiffsmannschaft gingen in den Ostfjorden an Land. Als sie wieder abfuhren, sahen sie Schnee auf den Bergen und nannten das Land deshalb Snæland, Schneeland. Unsere Kenntnisse über Naddoddr und andere frühe Forscher und Siedler stammen aus dem Landnámabók, (Landnahmebuch), einer in Island zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfaßten Geschichtschronik. Eine Ergänzung dazu bilden weitere Erzählungen aus der Geschichte verschiedener isländischer Familien, die Íslendingasögur (Isländersagas). Diese Familiensagas wurden im 13. und 14. Jahrhundert verfaßt, beziehen sich aber vorwiegend auf Ereignisse im 10. und 11. Jahrhundert, und nachdem sie Jahrhunderte nach den beschriebenen Vorfällen entstanden, gehen die Meinungen bezüglich ihrer Verläßlichkeit als historische Quellen auseinander. Dennoch bleiben sie unser wichtigster Ausgangspunkt, um uns nicht nur mit der isländischen Landnahme vertraut zu machen, sondern überhaupt mit der Geschichte und Kultur Skandinaviens während der Wikingerzeit.

Im Landnámabók heißt es, Naddoddr und seine Schiffsmannschaft hätten nach ihrer Rückkehr ins bewohnte Skandinavien Snæland trotz des wenig verheißungsvollen Namens, den sie ihm gaben, sehr gerühmt. Was Naddoddr und seine Gefolgschaft wirklich sagten, werden wir nie erfahren, doch ihre Berichte waren wohlwollend genug, um ihre Landsleute zu weiterer Erforschung anzuregen. Innerhalb der nächsten Jahre machte sich Garðarr Svávarsson, ein Mann schwedischer Herkunft, auf die Suche nach Snæland. Er umschiffte das Land, womit bewiesen war, daß es sich um eine Insel handelte. Dem Landnámabók zufolge hieß Island nach Garðarrs Reise für kurze Zeit Garðarrhólmr (Garðarrs Insel), „und sie war bewaldet von den Bergen hinab zum Meer“. Garðarr baute ein Haus und verbrachte den Winter im Norden der Insel, in Husavík. Im Frühjahr kehrte er nach Norwegen zurück.

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