Das Havamal: des Hohen Lied

Aus der Älteren Edda, hier in der von Dr. Manfred Stange überarbeiteten Übersetzung des deutschen Philologen und Dichters Karl Simrock aus dem Jahr 1851. Mit „dem Hohen“ ist Odin gemeint, der hier Ratschläge erteilt und von seinen Erfahrungen erzählt.

1. Teil

1) Der Ausgänge halber, bevor du eingehst,
Stelle dich sicher,
Denn ungewiß ist, wo Widersacher
Im Hause halten.

2) Heil dem Geber! Der Gast ist gekommen:
Wo soll er sitzen?
Atemlos ist, der unterwegs
Sein Geschäft besorgen soll.

3) Wärme wünscht, der vom Wege kommt
Mit erkaltetem Knie;
Mit Kost und Kleidern erquicke den Wandrer,
Der über Felsen fuhr.

4) Wasser bedarf, der Bewirtung sucht,
Ein Handtuch und holde Nötigung.
Mit guter Begegnung erlangt man vom Gast
Wort und Wiedervergeltung.

5) Witz bedarf man auf weiter Reise;
Daheim hat man Nachsicht.
Zum Augengespött wird der Unwissende,
Der bei Sinnigen sitzt.

6) Doch steife sich niemand auf seinen Verstand,
Acht hab er immer.
Wer klug und wortkarg zum Wirte kommt
Schadet sich selten:
Denn festern Freund als kluge Vorsicht
Mag der Mann nicht haben.

7) Vorsichtiger Mann, der zum Mahle kommt,
Schweigt lauschend still.
Mit Ohren horcht er, mit Augen späht er,
Und forscht zuvor verständig.

8) Selig ist, der sich erwirbt
Lob und guten Leumund.
Unser Eigentum ist doch ungewiß
In des andern Brust.

9) Selig ist, wer selbst sich mag
Im Leben löblich raten,
Denn übler Rat wird oft dem Mann
Aus des andern Brust.

10) Nicht beßre Bürde bringt man auf Reisen
Als Wissen und Weisheit.
So frommt das Gold in der Fremde nicht,
In der Not ist nichts so nütze.

11) Nicht üblern Begleiter gibt es auf Reisen
Als Betrunkenheit ist,
Und nicht so gut als so mancher glaubt
Ist Äl den Erdensöhnen,
Denn umso minder, je mehr man trinkt,
Hat man seiner Sinne Macht.

12) Der Vergessenheit Reiher überrauscht Gelage
Und stiehlt Besinnung.
Des Vogels Gefieder befing auch mich
In Gunnlöds Haus und Gehege.

13) Trunken ward ich und übertrunken
In des schlauen Fialars Felsen.
Trunk mag taugen, wenn man ungetrübt
Sich den Sinn bewahrt.

14) Schweigsam und vorsichtig sei des Fürsten Sohn
Und kühn im Kampf.
Heiter und wohlgemut erweise sich jeder
Bis zum Todestag.

15) Der unwerte Mann meint ewig zu leben,
Wenn er vor Gefechten flieht.
Das Alter gönnt ihm doch endlich nicht Frieden,
Obwohl der Speer ihn spart.

16) Der Tölpel glotzt, wenn er zum Gastmahl kommt,
Murmelnd sitzt er und mault.
Hat er sein Teil getrunken hernach,
So sieht man, welchen Sinns er ist.

17) Der weiß allein, der weit gereist ist,
Und hat vieles erfahren,
Welchen Witzes jeglicher waltet,
Wofern ihm selbst der Sinn nicht fehlt.

18) Lange zum Becher nur, doch leer’ ihn mit Maß,
Sprich gut oder schweig.
Niemand wird es ein Laster nennen,
Wenn du früh zur Ruhe fährst.

19) Der gierige Schlemmer, vergißt er der Tischzucht,
Schlingt sich schwere Krankheit an;
Oft wirkt Verspottung, wenn er zu Weisen kommt,
Törichtem Mann sein Magen.

20) Selbst Herden wissen, wann zur Heimkehr Zeit ist,
Und gehen vom Grase willig;
Der Unkluge kennt allein nicht
Seines Magens Maß.

21) Der Armselige, Übelgesinnte
Hohnlacht über alles
Und weiß doch selbst nicht, was er wissen sollte,
Daß er nicht fehlerfrei ist.

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Die Europäer und der Geschlechtsdimorphismus

Von Deep Roots (post-AdS)

In GEO 12-2014 stieß ich auf Seite 153 auf den nachfolgend wiedergegebenen Kurzbeitrag, der einen der beiden Auslöser und Aufhänger für meinen nun vorliegenden Artikel über die Ausprägung geschlechtsspezifischer Eigenschaften bei Europäern und anderen Rassen geliefert hat:

Tarzan aus der Stadt

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„Männlicher“ Mann, „weibliche“ Frau: Diese Stereotypen können doch nur Relikte aus der primitiven Vorzeit sein, heißt es. Doch die Theorien, die heutige Paarungspräferenzen und -probleme auf die Welt der Höhlenmenschen zurückführen – sie stimmen offenbar nicht alle.

Das ergaben jetzt anthropologische Studien eines Teams um Isabel Scott und Andrew Clark von der Brunel University London.

Die Forscher verglichen Attraktivitätsurteile für Bilder von Männern und Frauen in unterschiedlichen Kulturkreisen – modernen westlichen Stadtregionen und traditionellen bäuerlichen oder Stammeskulturen. Das überraschende Resultat nach der Befragung von 962 Teilnehmern auf allen Erdteilen: Die nach westlichen Maßstäben mutmaßlich attraktivsten Männer und Frauen wurden von traditionell lebenden Menschen nicht als besonders begehrenswert empfunden. Und das selbst dann, wenn Hautfarbe und andere ethnische Merkmale übereinstimmten. Besonders beliebt waren eher „neutrale“, weniger geschlechtstypische Gesichter.

Das für uns typische Muster – markiger, aggressiver Mann versus schutzbedürftiges Weibchen – hat sich Clark zufolge erst in den letzten Jahrhunderten entwickelt, im Verein mit fortschreitender Urbanisierung und Industrialisierung. Es ist also vermutlich nicht wesentlich älter als Edgar Rice Burroughs‘ Erzählung von Tarzan und Jane aus dem Jahr 1912.

Inwiefern die Aussage bezüglich der Bevorzugung neutralerer, weniger geschlechtstypischer Gesichter bei nichteuropäischen Völkern zutrifft, sei fürs erste einmal dahingestellt; für den Raum von Vorderasien über Südasien bis Ostasien könnte ich es mir vorstellen, worauf ich später in diesem Artikel noch zurückkommen werde.

Daß sich das für uns typische Muster erst in jüngerer Vergangenheit entwickelt haben soll, ist jedenfalls unlogisch, allein schon, wenn man bedenkt, daß der Bedarf nach einem maskulinen Mann mit Beschützerfähigkeit für Frauen in früheren, rauheren Zeiten mindestens nicht geringer gewesen sein kann als in der späten Neuzeit. Außerdem entsprechen die genetisch bedingten geschlechtstypischen Gesichtsausbildungen der europäischen Rasse diesem „westlichen“ Ideal und können sich somit nicht erst in den letzten Jahrhunderten zusammen mit diesen auch instinktiv verankerten Idealvorstellungen entwickelt haben.

Zusätzliche Bestätigung dieser Einschätzung erhält man, wenn man sich ansieht, welches Menschenbild in früheren – naturalistisch orientierten – Epochen der europäischen Kunst gepflegt wurde, zum Beispiel in der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts. Ein Beispiel ist dieses Gemälde von Agnolo Bronzino, in dem er um 1545 den Genueser Admiral Andrea Doria als Neptun darstellte:

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Sandro Botticelli malte sein „Weibliches Idealbildnis“ (um 1480, links unten) nach Simonetta Vespucci, die zu der Zeit als schönste Frau von Florenz galt; sein Bild „Der Heilige Augustinus“ (1480, rechts) zeigt den Kirchenvater als recht markanten Mann.

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Auch die nächsten beiden Bilder von Tizian (ca. 1490-1576) geben das angeblich erst später entstandene Ideal wieder: „Der Zinsgroschen“ (links) und „Venus bei der Toilette“.

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Weitere Beispiele aus der Renaissance kann sich jeder selbst heraussuchen.

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Der irreführende Vergleich mit den „robusten Promenadenmischungen“ und den „überzüchteten Rassehunden“

Keine vergleichbare genetische Situation: Rassemensch und Rassehund.

Keine vergleichbare genetische Situation: Rassemensch und Rassehund.

Von Deep Roots (post-AdS)

Eines der Argumente, das von gutmenschlicher Seite in Diskussionen um Rassenvermischung immer wieder vorgebracht wird, ist der Verweis auf die „überzüchteten Rassehunde“ und die im Vergleich dazu viel „vitaleren, robusteren Promenadenmischungen“. Deshalb, so diese Argumentationslinie, wäre Rassenvermischung auch beim Menschen nicht nur unbedenklich, sondern eher noch vorteilhaft und Reinrassigkeit tendenziell ungesund.

Diese oberflächliche Analogie ist aber irreführend und die darauf beruhende Argumentation somit falsch. Dafür gibt es mehrere Hauptgründe:

1. Natürliche Selektion versus menschliche Zuchtwahl

Natürlich entstandene Rassen alias Subspezies oder Unterarten bei Menschen, Wildtieren und Wildpflanzen gehen auf Selektionsprozesse in Anpassung an bestimmte Umweltverhältnisse unter Populationen zurück, die gleichzeitig von anderen Populationen derselben Spezies über längere Zeit genetisch isoliert sind oder wenig genetischen Austausch mit diesen haben.

Dabei bewirkt die natürliche Selektion, daß robustere, gesündere und hinsichtlich ihrer sonstigen Eigenschaften überlebensfähigere Individuen im Durchschnitt mehr Nachkommen hinterlassen als andere und somit ihre Gene in nachfolgenden Generationen überproportional weitergegeben werden. Die sexuelle Selektion ist hierbei ebenfalls ein wichtiger Faktor und wirkt in dieselbe Richtung, weil sich eine instinktive Vorliebe für die richtige Art von Geschlechtspartnern evolutionär besser auszahlt als andere Präferenzen.

Dagegen erfolgt die Evolution gezüchteter Tierrassen, z. B. von Hunden, aufgrund der Selektion durch ihre menschlichen Züchter nach deren Vorstellungen: Körperbau, Fell (Farbe, Zeichnung, Art der Behaarung), Steh- oder Hängeohren, Wesensart, bestimmte Schwerpunkte bei den Fähigkeiten und so weiter.

Besonders bei „Normrassen“, die großteils erst in den letzten paar Jahrhunderten entstanden sind (viele der heute beliebten europäischen Rassen erst im 19. Jahrhundert), gibt es da sehr eng gefaßte, an die EU-Richtlinien zur Gurkenkrümmung erinnernde Kriterien mit zu wenig Bedacht auf ein stimmiges Gesamtpaket, das heißt darauf, was für den Hund gut und gesund ist. Die sexuelle Selektion spielt nur eine geringe bis gar keine Rolle, weil die Fortpflanzungspartner von den Züchtern zusammengeführt werden, und bis sich Krankheiten oder frühe Alterswehwehchen auszuwirken beginnen, haben sich die betroffenen Individuen bereits fortgepflanzt, sofern sie aufgrund der künstlichen Kriterien dafür ausgewählt worden sind.

Aufgrund dessen kann es durchaus sein, daß sich bei Mischlingshunden (und Mischlingskatzen, etc.) solche zuchtbedingen genetischen Unausgewogenheiten von „Rassetieren“ einigermaßen ausgleichen und somit oft gesündere, robustere Tiere entstehen, wobei das nicht bei allen Individuen so sein muß und manche vielleicht eher die Schwächen beider Elternrassen erben. Die ohnehin gesünderen, durch natürliche Evolution entstandenen Menschen- und Tierrassen haben durch Hybridisierung nichts zu gewinnen.

Diesbezüglich relevant ist auch dieser Abschnitt in Kevin Alfred Stroms Das Richtige tun (fette Hervorhebung von mir):

Eine weitere Lüge, die die akademische Elite unseren Kindern täglich eintrichtert, ist die, daß ihre Technik des Genozids – Rassenvermischung – in Wirklichkeit gut für uns ist, weil sie „Vitalität durch Kreuzung“ bringt.

„Vitalität durch Kreuzung“ bezieht sich auf außergewöhnliches Wachstum, das sich manchmal zeigt, wenn Wissenschaftler Zuchtlinien von Pflanzen oder Tieren experimentell kreuzen oder hybridisieren. Vitalität durch Kreuzung bedeutet nichts im Sinne des menschlichen Genius, der nötig ist, um eine Zivilisation zu schaffen und zu erhalten. Wo es sie gibt, wie bei Getreide oder Apfelbäumen, verliert sie sich für gewöhnlich nach ein paar Generationen.

Ein weit wichtigeres Konzept bei der Kreuzung menschlicher Rassen ist „Regression zur Mitte“. Dies bedeutet, daß selbst bei der Paarung eines Negergenies mit einer weißen Person der Nachwuchs im Durchschnitt wahrscheinlich negroide Eigenschaften aufweist, die typischer für den durchschnittlichen Neger sind, und nicht notwendigerweise für dieses bestimmte Negergenie, und dies trifft noch mehr auf nachfolgende Generationen zu.

Regression zur Mitte bedeutet im Fall der Kreuzung mit Afrikanern Regression zur afrikanischen Mitte, mit Asiaten zur asiatischen Mitte. Keines davon verspricht, das Niveau des äußersten oberen Bereichs unserer Glockenkurve anzuheben – eher das Gegenteil. Die anderen Rassen haben sich mit Europäern vermischt, und überall sind die Ergebnisse nicht beeindruckend, um das Mindeste zu sagen. Sie haben uns nichts zu bieten.

2. Die unterschiedlichen Zahlen bei der Fortpflanzungsbasis

Auch hinsichtlich Inzucht sind gezüchtete Hunderassen nicht mit Menschen oder Wildtieren vergleichbar. Die Zucht einer neuen Rasse baut ja notwendigerweise auf recht wenigen, nah miteinander verwandten Tieren auf. Von deren Nachkommen wird immer nur ein Teil zur Weiterzucht verwendet – jener Teil, der den Züchtungszielen der menschlichen Halter schon am ähnlichsten ist. Je schneller man die neue Rasse entwickeln will – zur Erinnerung: die meisten Hunderassen gibt es erst seit ein paar Jahrhunderten, was ein recht schnelles Evolutionstempo ist -, desto enger muß die Auswahl der Kandidaten für die Weiterzucht gefaßt werden.

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Das Wikingererbe am Beispiel Island (2)

2a Stokksnes, Island

Von William R. Short und Jeffrey L. Forgeng, erschienen im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Die Wikinger“ in der Kunsthalle Leoben 2008; ISBN 987-3-9500840-4-0 (In dieser Form von „As der Schwerter“ übernommen; Karte und Bild von Edda-Handschrift aus dem Original, restliche Bilder von Deep Roots eingefügt). Teil 2 von 2 (Teil 1 hier):

FEHDEN, EHRE UND KAMPFKULTUR

Das isländische Rechtssystem diente in erster Linie zur Regelung des Umgangs mit Konflikten und Gewalt. In der Freistaatperiode herrschte in Island eine Kampfkultur vor. Es ist unbestritten, daß Gewalt oder die Androhung von Gewalt ein akzeptierter Bestandteil des Lebens in der Wikingerzeit waren. Gewalt wurde nicht nur als zulässiges Mittel betrachtet, um Konflikte zu lösen, sondern sie war in bestimmten Fällen sogar gesetzlich vorgesehen. Den Isländern der Wikingerzeit war jedoch klar, daß diese Gewalt so weit eingeschränkt werden mußte, daß sie das Gefüge der Gesellschaft nicht bedrohte und daß nicht ohne Notwendigkeit Leben genommen wurden. Im Hávamál (des Hohen Lied), einem in Gedichtform gegossenen Regelwerk für eine ethische Lebensführung, das teilweise vermutlich bis auf die Wikingerzeit zurückreicht, heißt es: „Der Hinkende reite, der Handlose hüte. Der Taube taugt noch zur Tapferkeit. Blind sein ist besser als verbrannt werden: Der Tote nützt zu nichts mehr.“

In Island wurden gewalttätige Konflikte im Rahmen der Fehdekultur entschieden. Die isländische Blutfehde ist am ehesten als stabilisierendes Instrument zu betrachten, mit dem versucht wurde, das Ausufern von Konflikten zu verhindern. In einer Gesellschaft, die keine zentrale staatliche Autorität kannte, mußten Einzelne und Familienverbände ihre Stellung aus eigener Kraft behaupten, um nicht Opfer ihrer Umgebung zu werden. Jeder Infragestellung eines Einzelnen oder einer Familie, sei es durch Beleidigung oder direkte Aggression, mußte mit einer abschreckenden Reaktion begegnet werden. Die Blutfehde war ein System gesellschaftlicher Konventionen, das einerseits die Sanktionierung mißliebiger Taten durch private Vergeltungsmaßnahmen zuließ, aber andererseits eine Eskalation und damit größere gesellschaftliche Schäden verhinderte.

Im Herzen der Fehdekultur stand das Konzept der Ehre – ein Wort, dem im modernen Sprachgebrauch kaum die Tiefe und Komplexität anhaftet, die in der Wikingerzeit mit diesem Begriff verbunden waren. Im praktischen Leben bezeichnete Ehre die gesellschaftliche Glaubwürdigkeit ihrer Inhaber. Ein Ehrenmann oder eine Ehrenfrau mußte respektvoll behandelt werden. Das Ansehen einer solchen Person hielt andere dazu an, sie in gesellschaftlichen, rechtlichen und geschäftlichen Belangen respektvoll zu behandeln. Jemand, der keine Ehre besaß, war Freiwild für Skrupellose. Ehre konnte nicht nur eine Einzelperson besitzen, sondern auch eine ganze Sippe: Verwandte zu haben, die hohes Ansehen genossen, war der eigenen Ehre zuträglich, während in Mißkredit geratene Familienmitglieder Schande über ihre Sippe brachten. Die Ehre war in allen Arten von Interaktionen mit Landsleuten ein wichtiges Gut. Doch die Ehre hatte auch eine metaphysische Dimension. Da das nordische Heidentum kein Leben nach dem Tod kannte, blieb von einem Verstorbenen nichts als sein guter Name, sein Ansehen und seine Ehre. Die Ehre war daher etwas von bleibendem Wert und stand über dem physischen Besitz.

Aus all diesen Gründen wurde von den Menschen erwartet, daß sie ihre Ehre, wie gering sie auch sein mochte, gegen jeden Angriff verteidigten. Natürlich war es besser, seine Ehre mit friedlichen Mitteln zu schützen, doch sie zu verteidigen – und sei es mit Waffengewalt – war Pflicht. Im Hávamál werden die Menschen aufgefordert, stets vor Angriffen auf ihre Ehre auf der Hut zu sein und mit ihren Feinden keinen Frieden zu schließen. Die Ehre einer Familie hochzuhalten war ein Tribut an die Vorfahren und ein Vermächtnis für die Nachkommen, und es galt als Pflicht, die Ehre zu schützen und nach Möglichkeit zu mehren.

Die Ehre konnte jederzeit beschädigt werden. Das war zum Beispiel der Fall, wenn jemand, dem offensichtlich Unrecht zugefügt worden war, auf Vergeltungsmaßnahmen verzichtete. Oft war das zugefügte Unrecht materieller Natur: Raub, Eigentumsbeschädigung, Körperverletzung oder auch nur eine geschäftliche Übervorteilung. Dabei spielte es keine Rolle, ob die eigene Ehre oder die eines Verwandten oder Untergebenen in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Die Ehre konnte durch immaterielle Rechtsverletzungen ebenso bedroht werden wie durch Verletzungen physischer Art. Bestimmte Beleidigungen galten als dermaßen empörend, daß der Adressat von Gesetzes wegen berechtigt war, denjenigen, der sie ausgestoßen hatte, zu töten. Die meisten dieser Beleidigungen beziehen sich auf Übertretungen der Geschlechterrollen. Dem altisländischen Rechtsbuch Grágás („Graugans“) ist zu entnehmen, daß ein Mann, der von einem anderen als weibisch bezeichnet wird oder behauptet, Opfer eines sexuellen Übergriffs durch einen anderen Mann geworden zu sein, diesen Mann als Vergeltungsmaßnahme töten darf.

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Das Wikingererbe am Beispiel Island (1)

1a Thingvellir

Von William R. Short und Jeffrey L. Forgeng, erschienen im Ausstellungskatalog zur Ausstellung „Die Wikinger“ in der Kunsthalle Leoben 2008; ISBN 987-3-9500840-4-0 (In dieser Form von „As der Schwerter“ übernommen; Bilder teils aus dem Original, teils von Deep Roots ausgewählt). Teil 1 von 2.

Um das Jahr 860 bestieg in Norwegen ein Wikinger namens Naddoddr ein Schiff und segelte nach Westen, in der Meinung, bei den Färöer-Inseln Land zu sichten. Er kam nicht an. Der Wind trieb sein Schiff vom Kurs ab, und er gelangte stattdessen an die Küste eines unbekannten Landes. Er und seine Mannschaft gingen an Land und stiegen auf einen hohen Berg, um nach Anzeichen menschlichen Lebens Ausschau zu halten. Sie entdeckten keine und schlossen daraus, das Land sei unbewohnt. Als sie auf den Färöern eintrafen, erzählten Naddoddr und seine Leute anderen von dem Land, das sie gefunden hatten. So begann die Erforschung und Besiedlung Islands während der Wikingerzeit. Nur 70 Jahre später war das Land vollständig in Besitz genommen und Heimat von vielleicht 40.000 Menschen.

Die Gesellschaft, die diese Siedler gründeten, erwies sich in mehrfacher Hinsicht als einzigartig. Bei seiner Entdeckung war Island wirklich unbewohnt und wurde ohne Eroberung und ohne Mitwirkung einer eingeführten Monarchie oder Aristokratie besiedelt.

Die Isländer schufen eine einzigartige Regierungsform, die eine zentrale Herrscherperson vermied und einem ungewöhnlich breiten Bevölkerungsquerschnitt aktive Mitwirkung erlaubte. So ungewöhnlich waren die Gesetze und das Regierungssystem, daß sie die Kontinentaleuropäer zu Kommentaren herausforderten – der Chronist Adam von Bremen, der im 11. Jahrhundert lebte, formulierte es so: „Sie haben keinen König, nur das Gesetz.“

Vielleicht noch bemerkenswerter waren die literarischen Leistungen der mittelalterlichen Isländer. In der Wikingerzeit traten Isländer als die Hofdichter skandinavischer Könige in herausragende Erscheinung, und ihre Verse bewahrten das Andenken berühmter Personen und Ereignisse ihrer Zeit. Nachdem die Skandinavier gegen Ende der Wikingerzeit eine schriftliche Kultur übernommen hatten, waren es isländische Autoren, die sich der von ihren wikingischen Vorfahren überlieferten Legenden, Gedichte und Geschichten annahmen. Untypischerweise schrieben sie nicht Lateinisch, sondern in der Volkssprache, Altisländisch.

Die Isländer bewahrten diese Werke über das Mittelalter hinaus auf. Als sich Gelehrte der Neuzeit für die Geschichte der skandinavischen und germanischen Kultur zu interessieren begannen, öffnete ihnen das schriftliche Vermächtnis Islands ein Fenster zu einer Welt, die andernfalls weitgehend verloren wäre. Auch heute sehen wir die Wikinger vor allem aus isländischem Blick. Eine Darstellung der Wikinger bleibt immer unvollständig, solange sie nicht beschreibt, wie es kam, daß diese abgelegene Insel zum Aufbewahrungsort des Wikingererbes wurde.

DAS LAND

Frostadavatn bei Landmannalaugar

Frostadavatn bei Landmannalaugar

Das Land, das Naddoddr entdeckte, ist eine Insel im Nordatlantik, auf halbem Weg zwischen Norwegen und Grönland gelegen, mit einer Fläche von 103.000 km². Sie ist jung und geologisch aktiv. Sie liegt auf der Grenze zwischen der nordamerikanischen und der eurasischen Platte, woraus sich eine vulkanische und tektonische Kraft ergibt, die von unten her das Land verändert. Sie liegt außerdem ziemlich weit im Norden, sodaß die Gletscher aus der letzten Eiszeit das Land auch von oben bearbeiten. Die vereinten Kräfte von Feuer und Eis haben eine spektakuläre Landschaft gemeißelt.

Im Osten, Norden und Westen wird die Küste von Fjorden beherrscht. Im Süden herrschen breite Sandstrände vor, die aus dem mit dem Schmelzwasser von den Gletschern im Hochland hierher transportierten und abgelagerten Schluff bestehen. Das Landesinnere – hohe, teils vergletscherte, teils von einer tundraähnlichen Heide bedeckte Gebirgsplateaus, die für die Wärme der angrenzenden Meeresströmungen nicht mehr erreichbar sind – ist weitgehend unbewohnbar. Ausgedehnte Lavafelder bedecken Teile des Landes.

Naddoddr und seine Schiffsmannschaft gingen in den Ostfjorden an Land. Als sie wieder abfuhren, sahen sie Schnee auf den Bergen und nannten das Land deshalb Snæland, Schneeland. Unsere Kenntnisse über Naddoddr und andere frühe Forscher und Siedler stammen aus dem Landnámabók, (Landnahmebuch), einer in Island zu Beginn des 12. Jahrhunderts verfaßten Geschichtschronik. Eine Ergänzung dazu bilden weitere Erzählungen aus der Geschichte verschiedener isländischer Familien, die Íslendingasögur (Isländersagas). Diese Familiensagas wurden im 13. und 14. Jahrhundert verfaßt, beziehen sich aber vorwiegend auf Ereignisse im 10. und 11. Jahrhundert, und nachdem sie Jahrhunderte nach den beschriebenen Vorfällen entstanden, gehen die Meinungen bezüglich ihrer Verläßlichkeit als historische Quellen auseinander. Dennoch bleiben sie unser wichtigster Ausgangspunkt, um uns nicht nur mit der isländischen Landnahme vertraut zu machen, sondern überhaupt mit der Geschichte und Kultur Skandinaviens während der Wikingerzeit.

Im Landnámabók heißt es, Naddoddr und seine Schiffsmannschaft hätten nach ihrer Rückkehr ins bewohnte Skandinavien Snæland trotz des wenig verheißungsvollen Namens, den sie ihm gaben, sehr gerühmt. Was Naddoddr und seine Gefolgschaft wirklich sagten, werden wir nie erfahren, doch ihre Berichte waren wohlwollend genug, um ihre Landsleute zu weiterer Erforschung anzuregen. Innerhalb der nächsten Jahre machte sich Garðarr Svávarsson, ein Mann schwedischer Herkunft, auf die Suche nach Snæland. Er umschiffte das Land, womit bewiesen war, daß es sich um eine Insel handelte. Dem Landnámabók zufolge hieß Island nach Garðarrs Reise für kurze Zeit Garðarrhólmr (Garðarrs Insel), „und sie war bewaldet von den Bergen hinab zum Meer“. Garðarr baute ein Haus und verbrachte den Winter im Norden der Insel, in Husavík. Im Frühjahr kehrte er nach Norwegen zurück.

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Islands sinnlose EU-Bewerbung

Husavik, Island

hjortur-logo  von Hjörtur J. Guðmundsson; Original: Iceland’s Pointless EU Application, erschienen am 23. April 2011 im Brussels Journal.

Es gibt natürlich viele Dinge, die die Europäische Union nie hätte tun sollen, und eines davon war, Islands Bewerbung um den Beitritt zu dem Block zu akzeptieren. Aber Brüssel kann einem bis zu einem gewissen Punkt leid tun, da ihm vorgetäuscht wurde, daß das isländische Volk die Mitgliedschaft wünschte. Nichts könnte jedoch weiter von der Realität entfernt sein. Das isländische Volk hat nie Mitglied werden wollen, und niemals so wenig wie heute. Laut aufeinanderfolgenden Umfragen von verschiedenen Meinungsforschungsinstituten sind bis zu zwei Drittel gegen die Mitgliedschaft. Ein schließlicher Beitrittsvertrag würde, falls es dazu kommt, in Island einer Volksabstimmung unterzogen werden müssen.

Nach dem wirtschaftlichen Zusammenbruch in Island im Herbst 2008 wurde von der Sozialdemokratischen Allianz – der einzigen isländischen politischen Partei, die eine EU-Mitgliedschaft unterstützt – ein Versuch unternommen, eine Bewerbung durchzubringen. Das gelang ihr nach den allgemeinen Wahlen, aber nicht als Ergebnis einer gesteigerten öffentlichen Unterstützung, sondern weil die Führung der euroskeptischen Linksgrünen Bewegung beschloß, ihre Parteilinie zu ignorieren und die Bewerbung zuzulassen, um eine Regierung mit den Sozialdemokraten zu bilden.

Die EU-Bewerbung wurde im Juli 2009 abgegeben, und seither ist darum ständig innerhalb der Regierung und unter den Parlamentsabgeordneten der Koalition nicht weniger gekämpft worden als in der Gesellschaft als Ganzes. Manche davon haben die Regierung jetzt kürzlich hauptsächlich wegen der EU-Frage verlassen, wodurch ihr eine Unterstützung von nur 32 Parlamentsabgeordneten von der Gesamtzahl von 63 bleibt. In anderen Worten: die kleinstmögliche Mehrheit. Die Regierung hat schon seit sie an die Macht kam, immer große Schwierigkeiten gehabt, ihre Politik im Parlament durchzubringen, und wird jetzt offenbar unter einer viel härteren Situation leiden.

Die EU wurde von Islands Sozialdemokraten und anderen Pro-EU-Leuten glauben gemacht, daß der Beitritt zum Block in Island die nötige Unterstützung genießt. Im Glauben, daß Brüssel die Bewerbung akzeptieren würde. Aber in den kommenden Monaten begannen europäische Journalisten und Politiker langsam die Wahrheit zu begreifen. Insbesondere jene, die Island besuchten, um sich selbst mit der Situation bekannt zu machen. Sie sind einfach verblüfft gewesen, als sie aus erster Hand erfuhren, welch begrenzte Unterstützung der Beitritt zur EU in Wirklichkeit im Land hat.

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Warum hat Island „nein“ gesagt?

Isländisches Staatswappen

Islands Wappen mit den vier Landwächtern Seeadler, Drache, Stier und Riese, die nach der Heimskringla-Saga im 10. Jahrhundert einen Eroberungszug des Dänenkönigs Harald Blauzahn verhinderten.

hjortur-logo  von Hjörtur J. Guðmundsson; Original: Why did Iceland say ‘no’?, erschienen am 13. April 2011 im Brussels Journal.

Am Samstag weigerte sich das Volk von Island ein zweites Mal per Referendum, die Schulden der gescheiterten Privatbank Landsbanki Íslands und ihrer Online-Tochter Icesave zu bezahlen, die in Großbritannien und den Niederlanden tätig war. Das Ergebnis des Referendums war mit einer Wahlbeteiligung von 75 Prozent eindeutig.

Fast 60 Prozent stimmten mit „Nein“ gegen ein Abkommen, das die isländischen Steuerzahler die Verantwortung für diese Schulden samt Zinsen hätte schultern lassen, die auf € 11.875,– für jeden von Islands 320.000 Einwohner geschätzt werden. Jedoch weiß niemand wirklich, wie hoch der Betrag am Ende gewesen wäre. Dies war einfach ein Barscheck.

Während des sogenannten Icesave-Streits – der im Herbst 2008 begann, nachdem fast das gesamte Bankensystem Islands im Gefolge der globalen Finanzkrise zusammenbrach – hat niemand auf irgendwelche brauchbaren rechtlichen Argumente dafür verweisen können, isländische Steuerzahler zur Bezahlung der Schulden der gescheiterten Privatbank zu verpflichten.

Tatsächlich haben sich die britische und die niederländische Regierung von Anfang an geweigert, den Streit auf dem Rechtsweg zu lösen, und haben stattdessen auf einer Lösung durch politische Verhandlungen beharrt.

Diesen Verhandlungen ließen die beiden Regierungen dann wiederholte Drohungen folgen, Island von den Finanzmärkten zu isolieren, das Land am Erhalt von Auslandskrediten zu hindern und die Bewerbung der isländischen Regierung um den Beitritt zur Europäischen Union (der in Island sowieso unpopulär ist) zu stoppen.

Gleich nach dem Bankzusammenbruch von 2008 setzte London sogar Antiterrorgesetze gegen isländische Interessen in Britannien ein, einschließlich jener des isländischen Staates. Dies fügte der bereits schwer getroffenen Wirtschaft Islands zweifellos schweren Schaden zu.

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Der Makrelenstreit als Maß für Souveränität

Scylla - Odinn

„Symbolfoto“ aus dem „Dritten Kabeljaukrieg“: Das isländische Kanonenboot „Odinn“ (vorn) rammt am 23. Februar 1976 die britische Fregatte „HMS Scylla“.

hjortur-logo  von Hjörtur J. Guðmundsson; Original: The Mackerel Dispute As A Measurement For Sovereignty, erschienen am 26. September 2010 im Brussels Journal.

In den letzten Wochen hat Island einen Streit mit der Europäischen Union wegen der Makrelenfischerei innerhalb der isländischen exklusiven Wirtschaftszone gehabt. Isländische Vertreter sind von Norwegen und der EU nicht am Verhandlungstisch über Makrelen zugelassen worden, obwohl die Spezies hauptsächlich aufgrund der Erwärmung des Meeres zunehmend innerhalb der isländischen EWZ angetroffen worden ist. Infolgedessen ist Island durch keine Abkommen über Makrelen gebunden gewesen, und daher hat die isländische Regierung einseitig Quoten für Makrelen in isländischen Gewässern vergeben.

Dieses Jahr hat es in der isländischen EWZ Makrelen in solcher Zahl gegeben, daß es für die Fischer schwierig war, andere Spezies zu fischen, ohne in ihren Netzen auch Makrelen zu erwischen. Viele isländische Häfen waren in diesem Sommer ebenfalls voller Makrelen, und sie konnten leicht mit Angelruten von den Hafenanlagen aus gefangen werden. Die überwältigende Zahl von Makrelen in isländischen Gewässern hat drastische negative Auswirkungen auf das marine Ökosystem gehabt und zum Beispiel in schwerem Nahrungsmangel für andere Spezies resultiert, die für Islands Wirtschaft wie auch für verschiedene Seevögel wie Papageitauscher lebenswichtig sind.

Die meisten der biologischen Auswirkungen der Makrelen müssen erst noch ans Licht kommen und werden das in den kommenden Monaten und Jahren tun. Als Folge von all dem hatte die isländische Regierung keine Wahl, als Anfang dieses Jahres bedeutend erhöhte, im Einklang mit wissenschaftlichen Daten und der Nachhaltigkeit stehende Quoten für Makrelen an isländische Fischer zu vergeben. Die EU hatte dagegen protestiert, wie auch manche schottische Politiker, die behaupteten, daß die Makrelen Schottland und der EU gehörten, trotz der Tatsache, daß sie sich in der isländischen EWZ befinden und Island in dieser Angelegenheit durch keine Abkommen gebunden ist.

Die EU hat sogar gedroht, ihre Häfen für isländische Schiffe zu sperren (und auch für solche von den Färöer-Inseln, die ihre Makrelenquote ebenfalls einseitig erhöhten), wie manche schottische Politiker verlangt haben, was im Falle der Durchführung mehrere Abkommen zwischen Island, Großbritannien und der EU verletzen würde. Immerhin sind von der isländischen Regierung keine Gesetze gebrochen worden. Falls das der Fall wäre, würde die EU Island mit rechtlichen Schritten drohen anstatt mit illegalen Wirtschaftssanktionen. Was die EU in dieser Angelegenheit tut, ist einfach ein Bully zu sein.

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EU-Mitgliedschaft? Nein danke!

Hallgrimskirkja Reykjavik

hjortur-logo  von Hjörtur J. Guðmundsson; Original: EU Membership? No thank you!, erschienen am 3. August 2010 im Brussels Journal.

Europäische Politiker und Journalisten, die Island in den letzten Monaten besuchten, waren sehr erstaunt, als sie aus erster Hand erfuhren, wie wenig Interesse isländische Parlamentarier und die Isländer im allgemeinen an einem Beitritt zur Europäischen Union haben. Tatsächlich so erstaunt, daß die isländischen Legislatoren wiederholt gefragt worden sind, ob das von der isländischen Regierung 2009 übergebene Beitrittsansuchen wirklich ernstgemeint ist. Nun, offen gesagt ist es das nicht. Es ist ein Lausbubenstreich an der Türklingel. Niemand ist da, wenn die Glocke klingelt und die Tür geöffnet wird.

Es hat seinen Grund, warum Island sich nie zuvor um einen Beitritt zur EU beworben hat. Es hat in dem Land immer eine starke Ablehnung einer Mitgliedschaft gegeben. Die notwendige Unterstützung im isländischen Volk war in Wirklichkeit nie vorhanden, und die gegenwärtige Regierung wußte und weiß das sehr wohl. Dennoch wurde der EU absichtlich etwas anderes gesagt. Und jetzt wacht die EU in einem bösen Traum auf und erkennt, daß die Isländer ganz einfach nicht der EU beitreten wollen und das niemals wollten. Daß die EU-Beitrittsbewerbung in Wirklichkeit eine lahme Ente ist.

Seit letztem Sommer haben wiederholte Meinungsumfragen gezeigt, daß mehr Menschen gegen einen Beitritt zu EU sind als je zuvor. Laut der letzten wollen 60 % der Isländer, daß das Beitrittsansuchen eingestampft wird, und nur 26 % wollen, daß das Verfahren fortgesetzt wird. Eine weitere kürzliche Umfrage zeigte, daß 70 % einen EU-Beitritt in einem Referendum ablehnen würden, und noch eine weitere, daß 58 % kein Vertrauen in die isländische Regierung haben, daß sie isländische Interessen in den Gesprächen mit der EU verteidigt. Und schließlich ist auch die Geschäftswelt gegen die Mitgliedschaft.

Es gibt eine Anzahl von Gründen dafür, warum die Isländer der EU nicht beizutreten wünschen. Zuallererst ist es die Selbstbestimmung, die Unabhängigkeit. Die Isländer glauben – und das aus sehr gutem Grund – daß ihre Unabhängigkeit nach einem EU-Beitritt nicht mehr existieren würde. Ein Zeichen dafür ist, daß sich die Menschen in Island beleidigt fühlten, als der Europäische Rat am 17. Juni beschloß, Beitrittsgespräche mit Island zu empfehlen. An diesem Tag feiern die Isländer, daß Island vor etwas mehr als 60 Jahren eine unabhängige Republik wurde.

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Island wird geopfert, um die EU zu retten: Schande über Britannien und Holland

House in October, South Iceland

hjortur-logo  von Hjörtur J. Guðmundsson; Original: Iceland Is Sacrificed to Save EU: Shame on Britain and Holland, erschienen am 5. Dezember 2009 im Brussels Journal.

Die Europäische Union hat, um sich vor den Fehlern ihrer eigenen Gesetze zu retten, beschlossen, daß Island und das isländische Volk entbehrlich sind. Ihre eigenen Versäumnisse erkennend, hat die EU über die britische und die niederländische Regierung entschieden, daß die isländischen Behörden die Verantwortung auf sich zu nehmen haben, die gerechterweise jene der EU-Regulierungsbehörden ist. Das ist es, worum es beim sogenannten Icesave-Streit hauptsächlich geht.

Der Streit fing im Oktober 2008 an, als fast das gesamte isländische Bankensystem zusammenbrach. Eine der drei größten isländischen Banken, Landsbanki, hatte Internetsparkonten im Vereinigten Königreich und den Niederlanden betrieben und große Mengen von Einlagen erhalten, indem sie hohe Zinsen bot. Diese Konten wurden mit der Genehmigung der britischen und niederländischen Behörden betrieben, und ich Betrieb wurde durch EU-Gesetze ermöglicht.

Sofort nachdem Landsbanki zusammengebrochen und anschließend von den isländischen Behörden übernommen worden war, bestanden die britische und die niederländische Regierung darauf, daß der isländische Staat für die Icesave-Sparkonten verantwortlich sei. Daher forderten die beiden Regierungen, daß Island und seine Bevölkerung von nur 300.000 Menschen die Milliarden Euros an verlorenen Ersparnissen plus Zinsen im Vereinigten Königreich und in den Niederlanden ersetzen.

Als Antwort auf die Forderungen der britischen und niederländischen Behörden verkündete die isländische Regierung ihrerseits, daß sie ihren Verpflichtungen bestimmt nachkommen würde, beharrte aber darauf, daß nicht klar war, wie hoch diese Verbindlichkeiten genau waren. Die Angelegenheit sollte daher von einem neutralen Gericht geklärt werden. Die britische und die niederländische Regierung lehnten dies jedoch ab und bestanden stattdessen darauf, daß die Frage politisch und nicht rechtlich geklärt werde.

Systemkrise

Das fragliche EU-Gesetz ist die Richtlinie 94/19/EC über Einlagensicherungssysteme, die 1999 gemäß dem EWR-Abkommen zwischen der EU und der EFTA, in der Island Mitglied ist, in isländisches Recht übernommen wurde. Gemäß der Vorschrift soll ein privat betriebener Garantiefonds in jedem Land betrieben werden, der Sparern den Ersatz von mindestens 20.000 Euro für jedes Konto garantieren soll.

Jedoch geht die Direktive nicht von einer Systemkrise aus, wie sie zweifellos im Oktober 2008 in Island auftrat, sondern nur vom Scheitern einer einzelnen Bank. In anderen Worten: es ist einfach kein Gesetz in Kraft, das die Situation abdeckt, wie sie letzten Herbst in Island eintrat. Außerdem sollte man daran denken, daß der isländische Finanzsektor durch das vorerwähnte EWR-Abkommen mehr oder weniger von der EU reguliert wird.

Diese Mängel der Richtlinie 94/19/EC sind seit langem bekannt und sind in den letzten Jahren bei einer Anzahl von Anlässen von führenden Gestalten in der EU öffentlich anerkannt worden. Dies wurde zum Beispiel in einem im Jahr 2000 veröffentlichten Bericht der französischen Zentralbank über Einlagensicherungssysteme erwähnt, in dem es heißt, daß es „akzeptiert“ ist, daß „solche Systeme weder dazu gedacht noch in der Lage sind, systemische Bankenkrisen zu bewältigen“.

Das vielleicht jüngste Beispiel eines solchen Eingeständnisses geschah am 3. März dieses Jahres, als der niederländische Finanzminister Wouter Bos in einer Rede sagte: „Zuerst und vor allem müssen europäische Länder sich genau ansehen, wie das Einlagensicherungssystem organisiert ist. Es war nicht dazu bestimmt, mit einer Systemkrise fertig zu werden, sondern mit dem Zusammenbruch einer einzelnen Bank.“ Trotzdem besteht Bos darauf, daß das System auf die isländische Systemkrise angewandt wird.

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