Im verlöschenden Nachglühen der Schöpfung kam etwas von den Sternen, schwebte durch unser Sonnensystem und hinterließ ein Zeugnis seiner Reise.
Von Arthur Charles Clarke, aus „Das Beste aus Reader’s Digest“ Oktober 1988 (Original: „The Sentinel“, 1951; aus dieser Kurzgeschichte entstand die Idee zu „2001 – Odyssee im Weltraum“). Die etwas gekürzte deutsche Fassung aus „Reader’s Digest“ wurde von mir (Lichtschwert/Lucifex) durch eigene Übersetzungen nach dem Originaltext (PDF, 6 Seiten) ergänzt. (Der damalige Erkenntnisstand über die Natur der Mondmeere und ihre Entstehung war noch ein anderer, als wir ihn heute haben, was aber das Funktionieren der Geschichte nicht beeinträchtigt.) Das Titelbild stammt aus der Veröffentlichung in Reader’s Digest, das Mondfoto wurde von mir eingefügt.
* * *
Wenn Sie das nächste Mal den Vollmond hoch droben am Südhimmel sehen, betrachten Sie genau die rechte Seite der Scheibe. Stellen Sie sich jetzt ein aufgelegtes Zifferblatt vor, dann können Sie etwa bei zwei Uhr einen dunklen, ovalen Fleck erkennen; jeder mit normaler Sehkraft kann ihn recht leicht finden. Das ist die große Ebene, eine der schönsten auf dem Mond. Sie heißt Mare Crisium – das Krisenmeer. Es hat einen Durchmesser von 420 Kilometern, ist fast vollständig von einer herrlichen Gebirgskette umgeben und war noch vollkommen unerforscht, als wir im Spätsommer 1996 dorthin kamen.
Unsere Expedition war eine große. Wir hatten zwei schwere Frachter, die unsere Vorräte und Ausrüstung von der lunaren Hauptbasis im Mare Serenitatis, achthundert Kilometer entfernt, eingeflogen hatten. Es gab auch drei kleine Raketen, die für den Kurzstreckentransport über Bereiche bestimmt waren, die unsere Oberflächenfahrzeuge nicht überqueren konnten. Zum Glück ist der Großteil des Mare Crisium sehr flach. Es gibt keine der großen Spalten, die anderswo so häufig und so gefährlich sind, und sehr wenige Krater oder Berge irgendwelcher Größe. Soweit wir sagen konnten, würden unsere starken Raupentraktoren keine Schwierigkeit damit haben, uns überall hinzubringen, wo wir hinwollten.
Ich war ein Geologe – oder Selenologe, wenn Sie pedantisch sein wollen -, der die Gruppe leitete, die den südlichen Abschnitt der Ebene untersuchen sollte. Wir hatten ein paar hundert Meilen davon in einer Woche durchquert und waren die Ausläufer der Berge entlang des Ufers von etwas entlanggefahren, das einst das uralte Meer war, vor etwa tausend Millionen Jahren. Als das Leben auf der Erde begann, starb es hier bereits. Die Wasser wichen über die Flanken jener gewaltigen Klippen zurück und zogen sich in das leere Herz des Mondes zurück. Über dem Land, das wir durchquerten, war der gezeitenlose Ozean einst achthundert Meter tief gewesen, und nun war die einzige Spur von Feuchtigkeit der Rauhreif, den man manchmal in Höhlen finden konnte, in die das sengende Sonnenlicht nie vordrang.
Wir hatten unsere Reise früh im langen Morgengrauen des Mondes begonnen; nach Erdzeitrechnung blieb uns noch beinahe eine Woche, bis es wieder Nacht wurde. Etwa sechsmal am Tag verließen wir das Fahrzeug in behelmten Raumanzügen, um nach interessanten Mineralien Ausschau zu halten, oder um Markierungen zur Anleitung zukünftiger Reisender anzubringen. Es war ereignislose Routine. Es ist nichts Riskantes oder auch nur besonders Aufregendes an der Erforschung des Mondes. Wir konnten bequem einen Monat lang in unseren druckgeregelten Traktoren leben, und falls wir auf Schwierigkeiten stießen, konnten wir immer um Hilfe funken und abwarten, bis eines der Raumschiffe zu unserer Rettung kam.
Ich sagte gerade, daß es nichts Aufregendes an der Erforschung des Mondes gibt, aber das ist natürlich nicht wahr. Wir konnten uns an jenen unglaublichen Bergen nicht satt sehen, die viel zerklüfteter und scharfkantiger waren als die sanften Erhebungen auf der Erde. Wenn wir um ein Vorgebirge oder Kap jenes verschwundenen Meeres herumfuhren, wußten wir nie, welche prachtvollen Ausblicke sich uns offenbaren würden. Die gesamte südliche Krümmung des Mare Crisium ist ein riesiges Delta, wo eine Anzahl von Flüssen einst ihren Weg in den Ozean fanden, vielleicht gespeist von den Sturzregen, die die Berge in dem kurzen vulkanischen Zeitalter gepeitscht haben mußten, als der Mond jung war. Jedes dieser uralten Täler war eine Einladung, die uns dazu herausforderte, in die unbekannten Hochländer dahinter zu klettern. Aber wir hatten immer noch über hundertsechzig Kilometer zurückzulegen und konnten nur sehnsüchtig die Höhen betrachten, die andere erklimmen mußten.
Wir orientierten uns an Bord des Traktors weiterhin an der Erdzeit, und exakt um 22 Uhr wurde die letzte Nachricht an die 800 Kilometer entfernte Zentrale gefunkt. Draußen glühten immer noch die Berge im fast senkrecht einfallenden Sonnenlicht, aber für uns war es Nacht, bis wir acht Stunden später wieder erwachten. Dann pflegte einer von uns das Frühstück zuzubereiten, es gab viel Gesumm von elektrischen Rasierapparaten, und jemand schaltete das Kurzwellenradio von der Erde ein. Tatsächlich war es, wenn der Geruch von Bratwürsten die Kabine zu füllen begann, manchmal schwer zu glauben, daß wir nicht zurück auf unserer eigenen Welt waren – alles war so normal und gemütlich, abgesehen vom Gefühl des verringerten Gewichts und der unnatürlichen Langsamkeit, mit der Gegenstände fielen.