Von James Patrick Hogan. Das Original „Inherit the Stars“ wurde 1977 veröffentlicht, die deutsche Fassung (übersetzt von Andreas Brandhorst) erschien 1981 im Moewig-Verlag (ISBN 3-8118-3538-6) und war lange nur noch in Gebrauchtexemplaren über Amazon erhältlich. Inzwischen gibt es wieder eine überarbeitete Neuauflage unter dem Titel Das Erbe der Sterne, die seit 30. Dezember 2016 erhältlich ist.
Zuvor erschienen: Der tote Raumfahrer – Teil 1, Teil 2 und Teil 3
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Caldwell trat einen Schritt näher heran, um das knapp drei Meter große Plastikmodell eingehender zu betrachten, das im Zentrum eines der Laboratorien des Biologischen Instituts von Westwood stand. Danchekker gab ihm reichlich Zeit, die Details in Augenschein zu nehmen, bevor er fortfuhr.
„Eine lebensgroße Kopie eines Ganymederskeletts“, sagte er. „Aufgrund der von Jupiter hierher übermittelten Daten konstruiert. Die erste unbestreitbar fremde intelligente Lebensform, die jemals von Menschen untersucht werden konnte.“ Caldwell sah zu dem in die Höhe ragenden Knochengerüst auf und schürzte in einem lautlosen Pfiff die Lippen.
Hunt rührte sich nicht und ließ in sprachloser Faszination seinen Blick über die ganze Größe des Modells auf und ab gleiten.
„Diese Körperstruktur ist in keiner Weise mit der irgendeiner noch existierenden oder ausgestorbenen Lebensform verwandt, die auf der Erde jemals untersucht wurde“, informierte sie Danchekker. Er zeigte auf das Modell. „Sie basiert auf einem inneren, aus Knochen bestehenden Skelett. Wie Sie sehen können, bewegte sich das Wesen aufrecht wie ein Zweifüßler, und der Kopf befand sich oben auf dem Rumpf. Aber abgesehen von solchen äußerlichen Ähnlichkeiten: Es entstammt zweifelsfrei einer völlig fremden Evolution. Nehmen Sie den Kopf als ein deutliches Beispiel. Die Gliederung des Schädels kann in keiner Weise mit der irgendeines bekannten Wirbeltieres in Übereinstimmung gebracht werden. Das Gesicht ist nicht wie bei uns in den unteren Schädelteil zurückgewichen, sondern nach wie vor eine lange, nach unten deutende Schnauze, die sich oben erweitert, um breite Zwischenräume für Augen und Ohren zu schaffen. Ferner hat sich der Hinterkopf vergrößert, um, wie beim Menschen, ein sich entwickelndes Hirn unterzubringen. Aber anstatt eine abgerundete Form anzunehmen, wölbt er sich über den Hals hinweg, um ein Gegengewicht zum hervorstehenden Gesicht und Kinn zu bilden. Und sehen Sie sich die Öffnung im Schädel an, mitten auf der Stirn. Ich glaube, hier könnte ein Wahrnehmungsorgan untergebracht gewesen sein, das wir nicht besitzen – möglicherweise in Infrarotdetektor, der von einem nachtaktiven, fleischfressenden Vorfahren geerbt wurde.“
Hunt trat bis an die Seite Caldwells vor und betrachtete eingehend die Schultern. „Die haben ebenfalls mit nichts Ähnlichkeit, was ich jemals gesehen habe“, kommentierte er. „Sie bestehen aus… einer Art sich überlappender Knochenplatten. Ganz und gar nicht wie unsere.“
„Eben“, bestätigte Danchekker. „Wahrscheinlich die Überbleibsel der Körperpanzerung eines Vorfahren. Und der Rest des Rumpfes ist ebenfalls völlig fremdartig. Zwar existiert, wie Sie sehen können, ein Rückgrat mit einer unterhalb der Schulterplatten gelegenen Rippengliederung. Aber die unterste Rippe – unmittelbar über der Bauchhöhle – hat sich zu einem massiven Knochenreifen mit diametralen Streben entwickelt, die aus einem vergrößerten Rückgratwirbel entspringen. Nun, beachten Sie die an den Seiten des Ringes gelegenen zwei Gruppen kleinerer, miteinander verbundener Knochen…“
Er deutete auf die entsprechende Stelle. „Wahrscheinlich dienten sie zur Unterstützung des Atmungsvorgangs, indem sie halfen, das Zwerchfell auszudehnen. Meiner Meinung nach sind sie degenerierten Überbleibseln einer zweigliedrigen Struktur verdächtig ähnlich. Mit anderen Worten: Obwohl dieses Wesen wie wir zwei Arme hatte und sich auf zwei Beinen bewegte, gab es irgendwo unter seinen frühen Vorfahren Tiere mit drei anstatt zwei Extremitätenpaaren. Allein das reicht aus, um sofort jeder Verwandtschaft mit irgendeinem Wirbeltier dieses Planeten auszuschließen.“
Caldwell bückte sich, um das Becken in näheren Augenschein zu nehmen. Es bestand nur aus einer Anordnung von dicken Riegeln und Streben, die die Gelenkpfannen der Oberschenkel aufnahmen. Nichts deutete auf die gewölbte schüsselartige Form des unteren menschlichen Torsos hin.
„Muß auch besondere Eingeweide gehabt haben“, meinte er.
„Es könnte sein, daß die inneren Organe mehr durch die Aufhängung an dem darüber gelegenen Knochenring getragen wurden als durch einen Halt darunter“, vermutete Danchekker. „Betrachten Sie schließlich die Glieder. Beide unteren bestehen wie auch die unsrigen aus zwei Knochen. Oberarm und Oberschenkel aber sind anders beschaffen – sie weisen ebenfalls eine Doppelknochen-Anordnung auf. Das hat die Flexibilität in hohem Maße gesteigert und die Ganymeder in die Lage versetzt, eine ganze Reihe von Bewegungen auszuführen, zu denen ein menschliches Wesen nicht in der Lage wäre. Die Hand verfügt über sechs Finger, von denen sich zwei gegenüberstehen. Ihr Besitzer hat sich also des Vorteils, zwei Daumen zu besitzen, erfreuen können. Er wäre in der Lage gewesen, sich beide Schuhe bequem mit einer Hand zu schnüren.“
Danchekker wartete, bis Caldwell und Hunt jedes Detail des Skeletts gründlich studiert hatten. Als sie sich wieder ihm zuwandten, fuhr er fort: „Seit das Alter der Ganymeder ermittelt ist, tendiert jedermann zu der Ansicht, ihre Entdeckung sei ein purer Zufall und es bestünde kein direkter Zusammenhang mit der Lunarierfrage. Meine Herren, ich glaube nun in der Lage zu sein, Ihnen demonstrieren zu können, daß den Ganymedern in der Tat eine sehr reale Bedeutung in dieser Frage zukommt.“
Hunt und Caldwell sahen ihn erwartungsvoll an. Danchekker schritt zu einer Bildschirmkonsole an der Wand des Laboratoriums, tastete einen Code ein und sah zu, wie sich der Schirm erhellte und das Bild eines Fischskeletts offenbarte. Zufrieden wandte er sich um und sah sie an.
„Was fällt Ihnen auf?“ fragte er.
Einige Sekunden lang starrte Caldwell gehorsam auf den Schirm. Hunt nahm das Bild schweigend in sich auf.
„Es ist ein komischer Fisch“, sagte Caldwell schließlich. „In Ordnung, sagen Sie’s mir.“
„Es ist nicht auf den ersten Blick zu sehen“, entgegnete Danchekker. „Aber mittels eines detaillierten Vergleichs ist es möglich, die Struktur dieses Fisches Knochen für Knochen mit der des Ganymederskeletts in Beziehung zu setzen. Beide entstammen der gleichen evolutionären Linie.“
„Der Fisch ist einer von denen, die in der Lunarierbasis auf der Mondrückseite gefunden wurden“, sagte Hunt plötzlich.
„Genau, Dr. Hunt. Der Fisch ist knapp fünfzigtausend Jahre alt und das Ganymederskelett rund fünfundzwanzig Millionen. Eine anatomische Untersuchung macht deutlich, daß sie verwandt sind und zu einer evolutionären Linie gehören, die sich irgendwann in ferner Vergangenheit bei einem gemeinsamen Vorfahren verzweigte. Daraus ergibt sich, daß sie auch den Ursprungsort gemeinsam haben. Wir wissen bereits, daß sich der Fisch in den Meeren Minervas entwickelte. Also kommen auch die Ganymeder von Minerva. Auf diese Weise haben wir einen Beweis für etwas erhalten, das einige Zeit nur reine Spekulation war. Unsere frühere Vermutung war nur in dem einen Punkt unrichtig, als wir nicht in der Lage waren, die zeitliche Lücke zwischen der Anwesenheit der Ganymeder auf Minerva und der der Lunarier genau abzuschätzen.“
„In Ordnung“, stimmte Caldwell zu. „Die Ganymeder kamen von Minerva, aber eine ganze Ecke früher, als wir glaubten. Wo ist die sensationelle Enthüllung, und warum haben Sie uns hierherbestellt?“
„Für sich genommen ist diese Schlußfolgerung zwar interessant, aber nicht mehr“, antwortete Danchekker. „Vergleicht man sie aber mit dem, was nun kommt, dann ist sie direkt langweilig. Der Rest“, er warf Hunt einen kurzen Blick zu, sagt uns nämlich all das, was wir wissen müssen, um das ganze Problem ein für allemal lösen zu können.“
Hunt und Caldwell sahen ihn eindringlich an.
Der Professor befeuchtete seine Lippen und fuhr dann fort: „Das ganymedische Schiff ist vollkommen erforscht worden, und wir haben inzwischen ein außerordentlich umfangreiches Verzeichnis praktisch aller Dinge, die es enthielt. Das Schiff war dazu konstruiert, große Frachtvolumen zu transportieren. Welches Unglück auch immer sich auf Ganymed ereignete, das Schicksal wollte, daß es Ladung an Bord hatte. Die Fracht, die es in sich trug, stellt meiner Meinung nach die sensationellste Entdeckung in der Geschichte der Paläontologie und Biologie dar. Wissen Sie, abgesehen von einigen anderen Dingen beförderte das Schiff ein umfangreiches Sortiment an botanischen und zoologischen Musterexemplaren, einige lebend und in Käfigen untergebracht, der Rest in Behältern konserviert. Vermutlich war die Ladung Teil einer ehrgeizigen wissenschaftlichen Expedition oder etwas in der Art, aber das spielt im Augenblick keine Rolle. Wichtiger ist, daß wir nun eine Sammlung von Tier- und Pflanzentrophäen besitzen, die noch niemals zuvor von menschlichen Augen betrachtet worden sind: einen umfassenden Querschnitt durch viele Lebensformen, die vor fünfundzwanzig Millionen Jahren, während des späten Oligozäns und frühen Miozäns, auf der Erde existiert haben!“
Hunt und Caldwell starrten ihn ungläubig an. Danchekker verschränkte die Arme und wartete.
„Die Erde!“ brachte Caldwell hervor und hatte Schwierigkeiten, die beiden Worte zu formulieren. „Wollen Sie mir erzählen, das Schiff käme von der Erde?“
„Ich sehe keine andere mögliche Erklärung“, gab Danchekker zurück. „Ohne jeden Zweifel beförderte das Schiff eine Vielfalt von tierischen Lebensformen, die eindeutig mit den Spezies identisch sind, die infolge von Untersuchungen terrestrischer Fossilien seit Jahrhunderten gut bekannt sind. Die Biologen des Jupiter-Vier-Unternehmens sind sich ihrer Schlußfolgerung völlig sicher. Und aufgrund der Daten, die sie uns übermittelten, sehe ich keinen Anlaß, ihre Überzeugung in Zweifel zu ziehen.“ Danchekker streckte seine Hand erneut zu der Tastatur aus. „Ich werde Ihnen einige Beispiele davon als Beweise zeigen“, sagte er.
Das Abbild des Fischskeletts verschwand und wurde durch das einer massiven, hornlosen, rhinozerosähnlichen Kreatur ersetzt. Im Hintergrund befand sich ein gewaltiger geöffneter Behälter, aus dem das Tier vermutlich herausgeholt worden war. Es lag vor einer Wand, die offenbar aus Eis war, umgeben von Kabeln, Ketten und Teilen eines aus Metallstreben bestehenden Gitterwerks.
„Ein Baluchitherium, meine Herren“, informierte sie Danchekker. „Oder etwas, das dem so ähnlich ist, daß mir der Unterschied nicht auffällt. Dieses Tier hatte eine Schulterhöhe von knapp drei Metern und war schwerer als ein Elefant. Es ist ein gutes Beispiel für die Titanotheres, die titanischen Tiere, die im Nord- und Südamerika des Oligozän weit verbreitet waren, kurz darauf aber ziemlich abrupt ausstarben.“
„Wollen Sie behaupten, daß dieser niedliche Kerl lebendig war, als das Schiff abstürzte?“ erkundigte sich Caldwell in einem ungläubigen Tonfall.
Danchekker schüttelte den Kopf. „Dieser hier nicht. Wie Sie sehen können, ist er uns praktisch in einem so guten Zustand in die Hände gefallen, als sei er lebendig. Er ist aus dem im Hintergrund zu sehenden Container herausgeholt worden, wo er gut verpackt und konserviert war, um eine lange Zeit zu überdauern. Glücklicherweise war der, der ihn eingepackt hat, ein Fachmann. Wie ich eben schon sagte, befanden sich an Bord des Schiffes aber auch Käfige und Gehege, die ursprünglich lebende Musterexemplare enthielten. Aber bis zu ihrer Entdeckung durch uns war außer ihrem Skelett nichts mehr übriggeblieben, wie auch im Falle der Besatzung. Von dieser besonderen Spezies befanden sich sechs Exemplare in den Gehegen.“
Mit einem Tastendruck wechselte der Professor das Bild und zeigte ihnen einen kleinen Vierfüßler mit spindeldürren Beinen.
„Mesohippus – Urahn des heutigen Pferdes. Ungefähr so groß wie ein Collie; lief auf dreizehigen Pfoten, wobei der mittlere Zeh stark verlängert war, was deutlich auf das heutige, einzehige Pferd hinweist. Es gibt noch eine lange Liste ebensolcher Beispiele, und jedes einzelne könnte von jedem beliebigen Studenten früherer, irdischer Lebensformen sofort eingeordnet werden.“
Sprachlos starrten Hunt und Caldwell auf den Schirm, als das Bild erneut wechselte. Diesmal zeigte es etwas, was auf den ersten Blick ein mittelgroßer Affe aus der Familie der Gibbons oder Schimpansen zu sein schien. Eine nähere Untersuchung jedoch offenbarte Unterschiede, die es von der allgemeinen Kategorie der Affen trennten. Die Schädelstruktur war feiner, besonders im Bereich des Unterkiefers. Das Kinn hatte sich zurückgeschoben und ragte fast nur bis zur Höhe der Nasenspitze vor. Für einen Affen waren die Arme verhältnismäßig kurz, die Brust war breiter und flacher, die Beine waren länger und geradliniger. Ferner war die Oppositionsstellung des großen Zehs verschwunden.
Bevor er mit seinem Kommentar fortfuhr, gab ihnen Danchekker reichlich Zeit, die Details zu registrieren.
„Das Wesen, welches Sie dort vor sich sehen, gehört offensichtlich zur allgemeinen Familie der Anthropoiden, der auch der Mensch und die Menschenaffen zuzuordnen sind. Nun, denken Sie daran, daß dieses Exemplar aus der Zeit des frühen Miozäns stammt. Das aus dieser Epoche stammende entwickeltste anthropoide Fossil, das man bisher auf der Erde fand, wurde während des letzten Jahrhunderts in Ostafrika entdeckt und ist als Proconsul bekannt. Man ist allgemein der Ansicht, daß der Proconsul eine erste Stufe über dem übrigen Tierreich steht, aber er ist zweifellos ein Affe. Auf der anderen Seite haben wir hier ein Geschöpf aus der gleichen Zeitperiode, aber mit entschieden ausgeprägteren menschlichen Charakteristika als beim Proconsul. Meiner Meinung nach nimmt dieses Geschöpf eine ähnliche evolutionäre Stellung ein wie der Proconsul, aber auf der anderen Seite der Spalte, die sich auftat, als Mensch und Affe ihre eigenen, unterschiedlichen Wege zu beschreiten begannen. Mit anderen Worten: Dies ist ein direkter Vorfahre des Menschen!“ Danchekker schloß mit einem verbalen Tusch und blickte die beiden anderen Männer erwartungsvoll an. Caldwell starrte mit aufgerissenen Augen zurück, und seine Kinnlade klappte herunter, als verwegene Gedanken durch sein Bewußtsein wirbelten.
„Wollen Sie behaupten… daß die Charlie-Leute… von dem hier…?“
„Ja!“ Danchekker schaltete den Schirm aus und drehte sich um, um sie triumphierend anzusehen. „Die etablierte Evolutionstheorie ist so korrekt, wie ich es die ganze Zeit hindurch behauptet habe. Die Vorstellung, daß die Lunarier Kolonisten von der Erde gewesen sein könnten, hat sich als richtig erwiesen, nur in anderer Art und Weise als vermutet. Auf der Erde sind keine Spuren ihrer Zivilisation zu finden, weil sie nie auf der Erde existierte – aber sie war auch nicht das Ergebnis eines parallelen evolutionären Prozesses. Die lunarische Zivilisation entwickelte sich auf Minerva, aus der gleichen Abstammungsgruppe wie auch wir und all die anderen irdischen Wirbeltiere – von Vorfahren, die vor fünfundzwanzig Millionen Jahren von den Ganymedern nach Minerva transportiert wurden!“ Danchekker schob herausfordernd sein Kinn vor und umfaßte die Aufschläge seiner Jacke. „Und das, Dr. Hunt, dürfte die Lösung Ihres Problems sein!“
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Der Weg zur raschen Aufeinanderfolge neuer Entwicklungen war bis hierher mit den aufgegebenen Rohbauten überlebter Ideen bedeckt. Sie erinnerten die Wissenschaftler an die Fallgruben, die den Unachtsamen erwarteten, wenn der Spekulation zuviel Raum gegeben und der Phantasie gestattet wurde, sich weiter und immer weiter vom Boden belegbarer Beweise und wissenschaftlicher Haltbarkeit zu entfernen. Um dieser Tendenz Einhalt zu gebieten, stieß Danchekkers Versuch, die ganze Sache mit einem Donnerschlag zu lösen, auf allgemein zurückhaltenderen Zuspruch, als man hätte erwarten können. Inzwischen hatte man sich in so vielen Sackgassen verfranst, daß jede neue Vermutung auf instinktiven Zweifel und Forderungen nach Bestätigung stieß.
Die Entdeckung von Tieren aus der Frühgeschichte der Erde an Bord des ganymedischen Raumschiffes bewies nur eine Sache eindeutig: daß Tiere aus der Frühgeschichte der Erde an Bord des ganymedischen Raumschiffes waren. Sie bewies nicht zweifelsfrei, daß andere Warensendungen Minerva erreicht hatten. Oder natürlich, ob diese besondere Sendung jemals für Minerva bestimmt gewesen war. Sie bewies also nur, daß diese Warensendung niemals ihren Bestimmungsort erreicht hatte, welcher immer das auch gewesen war.
Danchekkers Schlußfolgerungen über den Ursprung der Ganymeder fanden jedoch volle Zustimmung bei einer Londoner Gruppe von Experten der vergleichenden Anatomie. Sie bestätigte die Verwandtschaft zwischen dem Ganymederskelett und dem minervianischen Fisch. Die Folgerung aus diesem Tatbestand war, daß sich die Lunarier von verschleppten irdischen Vorfahren ebenfalls auf Minerva entwickelt hatten. Sie erklärte das Nichtvorhandensein lunarischer Spuren auf der Erde und das offensichtliche Fehlen entwickelter Raumfahrttechnologie, aber sie benötigte weiterhin mehr konkrete Beweise.
In der Zwischenzeit hatten sich die Linguistiker eifrig bemüht, ihre neuen, von der Mikropunkt-Bibliothek stammenden Kenntnisse auf das letzte ungelöste Rätsel unter Charlies Papieren anzuwenden: das Notizbuch mit den handschriftlichen Eintragungen. Das, was zum Vorschein kam, lieferte eine deutliche Bestätigung des breiten Bildes, das von Hunt und Steinfield bereits mit nüchternen und objektiven Begriffen gezeichnet worden war. Es war eine Zusammenfassung der letzten Tage von Charlies Leben. Die Enthüllungen aus diesem Buch warfen noch eine weitere intellektuelle Granate zwischen die bereits in Auflösung befindlichen Linien der Forscher. Doch es war Hunt, der schließlich den Stöpsel aus der Badewanne zog.
Einen Aktendeckel mit losen Papieren unter den Arm geklemmt, schlenderte Hunt durch den Hauptkorridor des dreizehnten Stocks der Navkomm-Zentrale in Richtung der Abteilung Linguistik. Vor Don Maddsons Büro blieb er stehen und betrachtete neugierig das an die Tür geheftete Schild, das mit fünf Zentimeter großen lunarischen Zeichen beschriftet war. Er zuckte mit den Achseln, schüttelte den Kopf und trat ein. Maddson und einer seiner Assistenten saßen vor dem immer noch nicht übersichtlicher gewordenen Chaos auf dem langen Tisch, etwas vom Schreibtisch entfernt. Hunt nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihnen.
„Sie haben die Übersetzungen durchgesehen“, stellte Maddson fest, als Hunt den Inhalt des Aktendeckels auf dem Tisch ausbreitete und er die Papiere wiedererkannte.
Hunt nickte. „Sind äußerst interessant. Einige Punkte würde ich gern noch einmal durchgehen, nur um sicher zu sein, daß ich’s auch kapiert habe. Einige Abschnitte ergeben einfach keinen Sinn.“
„Hätten wir uns denken sollen“, seufzte Maddson ergeben. „In Ordnung, schießen Sie los.“
„Lassen Sie uns die Eintragungen der Reihe nach durchgehen“, schlug Hunt vor. „Ich halte an, wenn wir zu den seltsamen Stellen kommen. Nebenbei gesagt…“ Er deutete mit dem Kopf in Richtung Tür. „Was soll das komische Schild da draußen?“
Maddson grinste stolz. „Das ist mein Name auf Lunarisch. Wörtlich bedeutet es Schüler Narren-Sohn. Kapiert? Don Mad-Son. Na?“
„O Himmel!“ stöhnte Hunt. Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Papieren zu.
„Sie haben die lunarisch datierten Eintragungen einfach mit fortlaufenden Ziffern gekennzeichnet, beginnend mit dem ‚Ersten Tag‘. Und die Unterteilungen ihrer Tage sind in unsere Stunden umgerechnet.“
„Genau“, bestätigte Maddson. „Wo ferner Zweifel an der Genauigkeit der Übersetzung vorhanden ist, ist der betreffende Ausdruck eingeklammert und mit einem Fragezeichen versehen worden. Das macht die Sache einfacher.“
Hunt nahm das erste Blatt zur Hand. „In Ordnung“, sagte er. „Beginnen wir mit dem Anfang.“ Er las laut vor:
„Erster Tag. Wie erwartet erhielten wir heute umfassenden (Mobilmachungsalarm?). Werden wahrscheinlich irgendwohin abkommandiert werden. Koriel… Das ist Charlies Kumpel, der später noch in Erscheinung tritt, nicht wahr?“
„Richtig.“
„…glaubt, wir könnten bei einer dieser (Abfangstellung in der Eiszone?) stationiert werden. Was bedeutet das?“
„Das ist ein schwieriger Begriff“, entgegnete Maddson. „Es ist ein zusammengesetztes Wort; Sie haben die wörtliche Übersetzung gelesen. Wir glauben, es könnte auf eine Raketenstellung verweisen, die Teil eines äußeren Verteidigungsgürtels ist und sich auf der Eisscholle befindet.“
„Mmm – klingt logisch. Nun ja: Hoffentlich. Es wäre eine Abwechslung gegenüber der Monotonie hier. Größere Nahrungsrationen in (Eisfeld-Kampfzonen?). Nun…“ Hunt sah auf. „Er schreibt ‚der Monotonie hier‘. Wie sicher können wir sein, wo dieses ‚hier‘ ist?“
„Ziemlich sicher“, gab Maddson mit einem nachdrücklichen Nicken zurück. „Der Name der Stadt steht neben der Datierung der Eintragung. Er stimmt mit dem einer Küstenstadt in Cerios überein, ebenso mit der im Soldbuch angegebenen Standortbezeichnung für seine letzte Postierung.“
„Also sind Sie sicher, daß er auf Minerva war, als er dies schrieb?“
„Klar, wir sind sicher.“
„In Ordnung. Die nächsten Seiten, die seine Gedankengänge beschreiben, überspringe ich. Zweiter Tag. Koriels Vorahnungen haben sich diesmal als falsch erwiesen. Wir fliegen nach Luna.“
Erneut sah Hunt auf. Diesen Abschnitt hielt er offenbar für wichtig. „Woher wissen Sie, daß er hier den Mond der Erde meint?“
„Nun, zum einen ist das hier von ihm verwendete Wort das gleiche, das sich auch in der letzten Postierungs-Eintragung im Soldbuch finden läßt. Wir vermuten, daß es ein Synonym für Luna ist, weil wir ihn dort gefunden haben. Zum anderen spricht er, wie Sie sicher gelesen haben, später davon, zu einer bestimmten Basis mit der Bezeichnung Seltar geschickt worden zu sein. Nun, unter den auf der Mondrückseite entdeckten Fundsachen haben wir einen Querverweis auf eine Liste für alle Stützpunkte auf ‚X‘ entdeckt. Der Name Seltar ist auf dieser Liste aufgeführt. X ist das gleiche Wort, das auch im Soldbuch und in der Eintragung, die Sie gerade gelesen haben, auftaucht. Schlußfolgerung: X ist die lunarische Bezeichnung für den Erdmond.“
Hunt dachte eine Zeitlang angestrengt nach.
„Er ist auch in Seltar angekommen, nicht wahr?“ sagte er schließlich. „Wenn er also so früh schon wußte, wohin er geschickt wurde, und wenn Sie sicher sind, daß er zum Mond abkommandiert wurde… und wenn er an seinem Bestimmungsort ankam… das schließt die andere Möglichkeit aus, die mir in den Sinn gekommen ist. Er kann also nicht in Richtung Luna auf die Reise geschickt, dann aber in letzter Minute an einen anderen Ort umdirigiert worden sein, ohne daß die Eintragung im Soldbuch geändert wurde, nicht wahr?“
Maddson schüttelte den Kopf. „Nein, unmöglich. Warum wollen Sie die Sache in dieser Weise zurechtbiegen?“
„Weil ich nach Möglichkeiten Ausschau halte, mit dem klarzukommen, was später folgt. Es ist ziemlich verrückt.“
Maddson sah Hunt neugierig an, unterdrückte aber seine Frage. Hunt richtete seinen Blick wieder auf die Papiere.
„Die Eintragungen des dritten und vierten Tages bringen Nachrichten über die Kämpfe auf Minerva. Offensichtlich war dort bereits ein großräumiger Konflikt ausgebrochen. Es sieht so aus, als seien auch schon Nuklearwaffen eingesetzt worden – diese Stelle am Ende des Vierten Tages zum Beispiel: Es scheint, als sei es den Lambianern gelungen, die (Himmelsnetze?) über Paverol durcheinanderzubringen. – Das ist eine cerianische Stadt, nicht wahr? Im Bruchteil einer Sekunde war die Hälfte der Stadt pulverisiert. Das hört sich nicht nach einem kleinen Scharmützel an. Was ist ein Himmelsnetz – so eine Art elektronischer Abwehrschirm?“
„Wahrscheinlich“, stimmte Maddson zu.
„Den fünften Tag verbrachte er damit, beim Beladen der Schiffe zu helfen. Aus den Beschreibungen der Fahrzeuge und der Ausrüstung kann man den Eindruck gewinnen, als seien größere Truppeneinheiten irgendeiner Waffengattung eingeschifft worden.“ Hunt überflog rasch das nächste Blatt.
„Ah ja… dies ist die Stelle, wo er Seltar erwähnt. Wir werden zusammen mit der Vierzehnten Brigade bei der Annihilator-Stellung von Seltar stationiert. Mit diesem Annihilator stimmt auch irgend etwas nicht. Aber darauf kommen wir gleich noch zurück.
Siebter Tag. Vor vier Stunden planmäßig an Bord gegangen. Sitzen immer noch hier. Start verschoben, da das ganze Gebiet unter schwerem Raketenbeschuß. Berge landeinwärts unter Sperrfeuer. Startrampen intakt, Situation oben an der Oberfläche aber chaotisch. Nichtneutralisierte, lambianische Satelliten immer noch im Bereich unseres Flugkorridors.
Später. Haben plötzlich Startfreigabe erhalten, und innerhalb von Minuten war der ganze Schwarm oben. Sind erst gar nicht in einen Orbit eingeschwenkt – ist noch immer nicht sehr empfehlenswert -, haben statt dessen sofort Kurs gesetzt. Zwei Schiffe auf dem Weg hinauf verlorengegangen. Koriel schließt Wetten ab, wie viele Schiffe unserer Flotte auf Luna landen. Wir fliegen im Schutze eines starken Abwehrschirms, müssen aber für das Suchradar der Lambianer deutlich auszumachen sein. Hier schildert eine Seite Koriels Flirt mit einem Mädchen von der Nachrichteneinheit – schon ein toller Typ, dieser Koriel, nicht wahr…? Unterwegs erreichten sie weitere Kriegsberichte… Ah, dies ist die Stelle, die ich meine.“ Hunt hatte die Eintragung mit dem Finger gefunden.
„Achter Tag. Endlich im Lunaorbit!“ Er legte das Blatt auf den Tisch und sah von einem Linguisten zum anderen. „‘Endlich im Lunaorbit!‘ Nun erklären Sie mir: Wie konnte dieses Schiff eigentlich in nur zwei Tagen von Minerva zum Mond fliegen? Entweder hatten sie einen Treibstoff, den die UNWO erst noch entwickeln muß, oder wir liegen bei der Beurteilung der lunarischen Technologien völlig falsch. Wenn sie dazu in der Lage waren, dann hatten sie überhaupt keine Probleme mit der Entwicklung der Raumfahrt. Dann waren sie uns weit voraus. Aber das glaube ich nicht – alles deutete darauf hin, daß sie Schwierigkeiten hatten.“
Maddson vollführte eine hilflose Geste. Er wußte, daß es verrückt war. Fragend sah Hunt Maddsons Assistenten an, der jedoch nur mit den Achseln zuckte und sein Gesicht verzog.
„Sie sind sicher, daß er die Umlaufbahn des Mondes meinte – unseres Mondes?“
„Wir sind sicher.“ Maddson war sich sicher.
„Und es gibt keinen Zweifel über das Datum seiner Einschiffung?“ bohrte Hunt.
„Das Einschiffungsdatum ist im Soldbuch eingestempelt und stimmt mit der Datierung der Eintragung überein, in der er schreibt, daß er an Bord ging. Vergessen Sie auch nicht die Formulierung beim – wo war’s – hier, beim siebten Tag. Vor vier Stunden plangemäß an Bord gegangen. ‚Plangemäß‘, sehen Sie? Nichts deutet auf eine Änderung im Zeitplan hin.“
„Und wie sicher ist die Zeitangabe darüber, wann er Luna erreichte?“ fragte Hunt.
„Nun, das ist ein bißchen haariger. Wenn wir uns einfach nach den Notizen richten, dann waren sie einen lunarischen Tag unterwegs, in Ordnung. Nun, es ist möglich, daß er sich auf Minerva nach minervianischer Zeit richtete, bei Erreichen des Mondes aber zu einer lokalen Zeiteinteilung überging. Wenn das der Fall ist, dann wäre es ein außerordentlicher Zufall, wenn beides übereinstimmte, wie es zu sein scheint.“ Er zuckte mit den Achseln. „Aber es wäre möglich. Das, was mich an dieser Vorstellung allerdings stört, ist das Fehlen jeglicher Eintragung zwischen dem Datum der Einschiffung und dem der Erreichung des Mondes. Charlie scheint regelmäßig Vermerke in sein Tagebuch geschrieben zu haben. Wenn die Reise Monate dauerte, wie es Ihrer Meinung nach hätte sein sollen, dann erscheint es mir seltsam, daß zwischen diesen beiden Zeitangaben überhaupt keine Eintragung erfolgte. Es ist nicht so, als hätte er zu wenig Freizeit gehabt.“
Hunt dachte einige Augenblicke über diese Möglichkeiten nach und sagte dann: „Es kommt noch schlimmer. Lassen Sie uns erst mal weitermachen.“
Er nahm die Blätter zur Hand und fuhr fort:
„Vor fünf Stunden schließlich gelandet. (Fluch)… was für ein Schlamassel! Als wir den (Anflugkorridor?) herunterkamen, konnten wir sehen, daß über Kilometer hinweg das Gebiet um Seltar an vielen Stellen rot glühte. Dort befanden sich Seen aus geschmolzenem Gestein, in strahlendem Orange, einige von Felswällen umgeben, die dort steil zu ihnen abfielen, wo ganze Berge davongepustet worden waren. Der Stützpunkt liegt unter gewaltigen Staubmassen begraben, und einige der Oberflächenanlagen sind durch davongeschleuderte Gesteinstrümmer zermalmt worden. Die Abwehrstellungen haben standgehalten, aber der äußere Verteidigungsgürtel ist (vollkommen zerfetzt?). Was wichtiger ist… [unleserlich] dicke Abschirmungsplatte des Annihilators ist intakt, das Gerät einsatzfähig. Die hintersten Schiffe unserer Flotte sind durch einen feindlichen Feuerschlag aus dem freien Raum zerstört worden. Koriel hat von allen Leuten seine Wettgelder kassiert.“
Hunt legte das Blatt zur Seite und sah Maddson an. „Don“, sagte er. „Wie viele Steinchen habt ihr in Sachen dieses Annihilators zusammensetzen können?“
„Es war eine Art Superwaffe. In einigen anderen Texten war mehr darüber zu lesen. Beide Seiten besaßen sie. Sie war auf Minerva selbst, und, wie Sie gerade gelesen haben, auch auf dem Mond stationiert.“ Er fügte noch hinzu: „Vielleicht auch an anderen Orten.“
„Warum auf dem Mond? Irgendwelche Vermutungen?“
„Wir nehmen an, daß die Raumfahrttechnologie von Cerianern und Lambianern fortgeschrittener waren, als wir bisher geglaubt haben“, sagte Maddson. „Vielleicht hatten sich beide Seiten die Erde als Zielort für den großen Exodus erwählt. Beide Seiten schickten Vorausabteilungen zum Mond, die dort einen Brückenkopf bilden sollten, um… eine Blockade zu verhindern.“
„Aber warum nicht direkt auf der Erde?“
„Keine Ahnung.“
„Na, lassen wir das für den Augenblick“, sagte Hunt. „Wieviel wissen wir über diese Annihilatoren?“
„Das Wort Abschirmungsplatte deutet offenbar auf eine Art Strahlenprojektor hin. Aus anderen Quellen wissen wir, daß sie mit hochenergetischen Protonenstrahlen feuerten, die wahrscheinlich durch intensive Materie-Antimateriereaktionen entstanden. Wenn das der Fall ist, ist die Bezeichnung Annihilator besonders zutreffend, sie hat eine doppelte Bedeutung.“
„In Ordnung.“ Hunt nickte. „Das habe ich mir gedacht. Jetzt kommt’s dick.“ Er konsultierte seine Notizen. „Am neunten Tag werden sie dazu herangezogen, die durch die Schlacht verursachten Schäden zu reparieren. Hm, was ist denn mit dem zehnten Tag?“ Er las weiter:
„Zehnter Tag. Annihilator zum erstenmal an diesem Tag eingesetzt. Drei Fünfzehn-Minuten-Feuerüberfälle auf Calvares, Paneris und Sellidorn. Nun, das sind alles lambianische Städte, nicht wahr? Sie hatten also diese Annihilatorstellung, saßen auf unserem Mond und radierten fröhlich Städte auf der Oberfläche Minervas aus.“
„Sieht so aus“, stimmte Maddson zu. Er machte keinen sehr glücklichen Eindruck.
„Nun, ich glaube es nicht“, erklärte Hunt ruhig. „Ich glaube nicht an ihr Vermögen, eine Waffe über eine solche Distanz genau ausrichten zu können. Und selbst wenn sie dazu in der Lage waren: Ich glaube nicht, daß der Strahl nach einer solchen Strecke noch energiereich genug war, um überhaupt irgendwelche Schäden anrichten zu können.“ Er sah Maddson flehentlich an. „Himmel, angesichts einer solchen Technologie hätten sie gar nicht zu versuchen brauchen, die interplanetare Raumfahrt zu perfektionieren – sie wären bereits überall in der verdammten Galaxis gewesen!“
Maddson ruderte mit den Armen. „Ich habe nur die Bedeutung der Worte übersetzt. Sie werten es aus.“
„Gleich wird’s vollkommen irre“, prophezeite Hunt. „Nun, wo war ich…?“
Er fuhr fort, laut zu lesen, beschrieb das Duell, das zwischen dem cerianischen Annihilator Seltars und der letzten noch intakten Stellung auf Minerva ausgetragen wurde. Mit einer Waffe, die aus dem Raum heraus feuerte und die gesamte Oberfläche Minervas bestreichen konnte, hielten die Cerianer den kriegsentscheidenden Schlüssel in der Hand. Diese Waffe zu vernichten, mußte natürlich oberste Priorität für die lambianischen Streitkräfte gehabt haben und die vordringlichste Aufgabe ihres eigenen Annihilators auf Minerva gewesen sein. Zwischen zwei Feuerstößen mußten sich die Annihilatoren eine Stunde lang aufladen. Charlies Notizen vermittelten deutlich die Anspannung, die sich in Seltar während des Wartens breitmachte. Sie wußten ja, daß jeden Augenblick ein gegnerischer Feuerschlag kommen konnte. Rings um Seltar herum begann eine wilde Schlacht zu toben, als die lambianischen Boden- und Raumstreitkräfte alles nach vorn warfen, um Seltar auszuschalten, bevor man dort einen Treffer auf das ferne Ziel verbuchen konnte. Die Waffenbedienung erforderte viel Geschicklichkeit, da die elektronischen Störmaßnahmen des Gegners, die das Zielsystem beeinträchtigten, berechnet und kompensiert werden mußten. In einem Abschnitt beschrieb Charlie detailliert die Auswirkungen eines sechzehn Minuten andauernden Feuerschlages von Minerva, der das Ziel verfehlte. Er schmolz eine etwa zwanzig Kilometer von Seltar entfernte Bergkette, einschließlich der Zweiundzwanzigsten und Neunzehnten Panzerdivision und der Fünfundvierzigsten taktischen Raketenstellung, die dort stationiert gewesen waren.
„Hier ist es“, sagte Hunt und winkte mit einem Blatt. „Hören Sie sich das an: Wir haben es geschafft! Vor vier Minuten haben wir einen konzentrierten Strahl mit Maximalenergie abgefeuert. Gerade ist durch die Lautsprecher unten bekanntgegeben worden, daß er direkt ins Ziel getroffen hat. Alle lachen und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Einige der Frauen weinen erleichtert. Das“, meinte Hut, knallte die Papiere auf den Tisch und ließ sich ärgerlich in seinen Sessel zurückfallen, „ist einfach lächerlich! Vier Minuten nach dem Feuerstoß erhielten sie die Bestätigung eines Treffers! Wie? Wie, zum Kuckuck, ist das möglich? Wir wissen, daß die Entfernung am nächsten Begegnungspunkt zwischen der Erde und Minerva zweihundertdreißig bis zweihundertvierzig Millionen Kilometer betragen hat. Der Strahl wäre über diese Distanz etwa dreizehn Minuten unterwegs gewesen. Und es wären mindestens noch einmal dreizehn Minuten vergangen, bevor irgend jemand auf dem Mond hätte wissen können, wo er einschlug. Selbst wenn sich also die Planeten in Konjunktion zueinander befanden, wären mindestens sechsundzwanzig Minuten vergangen, bevor sie eine solche Meldung erhalten konnten. Charlie behauptet, sie sei nach nicht einmal vier Minuten erfolgt! Das ist absolut einhundertprozentig unmöglich! Don, wie weit sind diese Zahlen abgesichert?“
„Genausoweit wie jede andere lunarische Zeitmessungseinheit. Wenn sie falsch sind, dann können Sie den Kalender, mit dem Sie uns auf die Sprünge geholfen haben, gleich zerreißen und wieder von vorn anfangen.“
Eine lange Zeit starrte Hunt auf das Blatt, als könne er durch seine Willensanstrengung die Botschaft verändern, die die sauber getippten Seiten des Schreibmaschinenmanuskripts enthielten. Diese Zeitangaben konnten nur eines bedeuten, und das warf sie direkt an den Anfang zurück. Schließlich fuhr er fort: „Die nächste Stelle beschreibt, wie das ganze Seltargebiet unter Dauerbombardement geriet. Eine Abteilung, der auch Charlie und Koriel angehörten, wurde über die Oberfläche geschickt, um die Notgefechtsstände zu besetzen, die etwa siebzehn Kilometer vom Seltar-Stützpunkt entfernt waren… Ich überspringe die entsprechenden Details… Ja, hier ist die nächste Stelle, die mich stört. Am zwölften Tag: Pünktlich mit einem kleinen Konvoi aus zwei Spähwagen und drei Kettenfahrzeugen aufgebrochen. Die Reise war unheimlich – kilometerweit verbrannte Felsen und glühende Spalten. Wir konnten die Hitze im Innern des Wagens spüren. Hoffe, daß die Abschirmung in Ordnung war. Unser neues Zuhause ist eine Kuppel, und darunter befinden sich verschiedene Etagen, die sich bis in eine Tiefe von knapp zwanzig Metern erstrecken. Armee-Einheiten haben sich überall in den umgebenden Hügeln eingegraben. Wir haben per Kabel Kontakt mit Seltar, aber sie scheinen den Kontakt mit dem Hauptquartier in Gorda verloren zu haben. Bedeutet wahrscheinlich, daß alle Überlandkabel unterbrochen und unsere Komsats zerstört sind. Wieder keine Nachrichten von Minerva. Eine ganze Menge verzerrter, militärischer Funksprüche. Sie müssen (Funkpriorität?) übernommen haben. Heute zum erstenmal seit vielen Tagen auf der Oberfläche. Minerva sieht schmutzig und fleckig aus. Das hier“, sagte Hunt. „Als ich das zum erstenmal las, dachte ich, er bezöge sich auf eine Videoübertragung. Aber wenn man darüber nachdenkt: Warum drückt er es so aus und in diesem Zusammenhang? Warum direkt nach ‚seit vielen Tagen zum erstenmal an der Oberfläche‘? Von seinem Standpunkt aus konnte er doch gar kein Detail Minervas gesehen haben, oder?“
„Er könnte ein ganz gewöhnliches Teleskop benutzt haben“; vermutete Maddsons Assistent.
„Könnte er vielleicht“, dachte Hunt laut. „Aber man sollte meinen, daß er mitten in diesem Schlamassel wichtigere Dinge zu tun hatte, als sich die Sterne zu begucken. Nun ja, er schreibt weiter: Ungefähr zwei Drittel werden von riesigen braunen und grauen Wolken bedeckt, und die Küstenlinien sind nur stellenweise zu sehen. Irgendwo unmittelbar nördlich des Äquators glüht ein seltsamer roter Fleck, und Stunde um Stunde breitet sich etwas Schwarzes davon aus. Koriel hält es für eine brennende Stadt, aber es muß ein gewaltiges Feuer sein, wenn man den Schein selbst durch die Wolkendecke sehen kann. Wir haben zugesehen, wie sich der Fleck im Laufe des Tages mit Minervas Rotation zur Seite bewegte. Gewaltige Explosionen bei der Bergkette hinter Seltar.“
Der Bericht setzte sich fort und bestätigte, daß Seltar vollständig zerstört wurde, als die Schlacht ihren Höhepunkt erreichte. Zwei Tage lang wurde das ganze Gebiet systematisch pulverisiert, aber seltsamerweise blieben die unterirdischen Anlagen der Station unbeschädigt, obgleich die oberen Bereiche weggepustet wurden. Die über das ganze Gebiet versprengten Überlebenden der Truppeneinheiten, die in den umgebenden Hügeln stationiert gewesen waren, begannen später zur Station zurückzukehren, die derzeit kilometerweit der einzige bewohnbare Ort war, teilweise in Fahrzeugen, die meisten jedoch zu Fuß.
Die erwarteten Angriffswellen siegreicher lambianischer Truppentransporter und Panzerkolonnen blieben aus. Infolge der sich in gleichbleibenden Abständen wiederholenden gegnerischen Salven begriffen die cerianischen Offiziere langsam, daß von den Feindstreitkräften, die in die Berge um Seltar vorgedrungen waren, nichts übriggeblieben war. In der Schlacht mit der cerianischen Abwehr hatten die Lambianer erhebliche Verluste erlitten. Ihre Überlebenden hatten sich zurückgezogen und Raketenstellungen hinterlassen, die so programmiert waren, daß die automatisch ausgelösten Salven ihren Rückzug deckten.
Am fünfzehnten Tag schrieb Charlie:
„Zwei weitere rote Flecken auf Minerva, einer nordöstlich des ersten, der andere weiter südlich. Der erste hat sich von Nordwesten bis Südosten ausgedehnt. Die ganze Oberfläche ist jetzt nur noch eine schmutzigbraune Masse mit großen schwarzen Flächen, die darin eigebettet sind. Über Radio oder Video kommt überhaupt nichts mehr von Minerva. Alles von atmosphärischen Störungen überlagert.“
In Seltar blieb nichts mehr zu tun. Die bewohnbaren Teile dessen, was einmal die Basis gewesen war, waren mit Überlebenden und Verwundeten vollgestopft. Viele mußten bereits in den Fahrzeugen unterkommen, die sich draußen an die Überreste des Stützpunktes drängten. Die Vorräte an Nahrungsmitteln und Sauerstoff, die nie für mehr als eine kleine Kompanie vorgesehen gewesen waren, würden ihnen nur eine zeitweilige Atempause geben. Ihre einzige Hoffnung, so dürftig sie auch war, bestand darin, über Land das Hauptquartier in Gorda zu erreichen – eine Reise, die schätzungsweise zwanzig Tage dauern würde.
In den Eintragungen des achtzehnten Tages wurde der Aufbruch wie folgt beschrieben:
„Haben uns zu zwei Fahrzeugkolonnen formiert. Unsere brach als vorgeschobene Vorausabteilung eine halbe Stunde vor der zweiten auf. Wir erreichten eine etwa fünf Kilometer von der Basis entfernte Anhöhe und konnten die Hauptkolonne sehen, die die Beladung beendete und Aufstellung bezog. In diesem Augenblick schlugen die Raketen ein. Die erste Salve erwischte sie alle im Freien. Sie hatten nicht die geringste Chance. Eine Zeitlang richteten wir unsere Empfänger auf das betreffende Gebiet, doch alles blieb still. Wir haben nur noch dann eine Möglichkeit, der tödlichen Umarmung dieser Welt zu entkommen, wenn sich in Gorda noch Raumschiffe befinden. Soweit ich weiß, sind wir 340 Leute, einschließlich über hundert Mädchen. Die Kolonne besteht aus fünf Spähwagen, acht Kettenfahrzeugen und zehn schweren Panzern. Es wird eine beschwerliche Reise werden. Selbst Koriel schließt keine Wetten darauf ab, wie viele von uns ankommen werden.
Minerva ist nur noch ein schwarzer, rußiger Ball, der im Himmel schwer auszumachen ist. Zwei der roten Flecken sind zusammengewachsen und bilden einen Streifen, der sich dicht über dem Äquator erstreckt. Muß Hunderte von Kilometern lang sein. Ein weiterer roter Streifen dehnt sich nach Norden hin aus. Dann und wann glühen einige ihrer Abschnitte für einige Stunden orangefarben durch die Rauchwolken hindurch, um dann wieder zu verblassen. Muß da unten ganz schön beschissen sein.“
Die Kolonne kroch langsam durch die Wüste aus verbranntem grauem Staub, und die Zahl der Reisenden nahm rapide ab, als Verwundungen und Strahlenkrankheiten ihren Tribut verlangten. Am sechsundzwanzigsten Tag trafen sie auf eine lambianische Bodenstreitmacht, und drei Stunden lang tobte inmitten von Felsblöcken und -zacken ein wütender Kampf. Die Schlacht endete, als die übriggebliebenen lambianischen Panzer ihre Deckung verließen und geradewegs die cerianischen Stellungen angriffen, nur um direkt vor der äußeren Verteidigungslinie von der mit Frauen besetzten Laserartillerie vernichtet zu werden, als sie auf Kernschußweite heran waren. Nach der Schlacht waren noch 165 Cerianer übrig, aber nicht mehr genug Fahrzeuge, um sie alle aufzunehmen.
Nach einer Beratung ersannen die cerianischen Offiziere den Plan, die Reise grüppchenweise fortzusetzen. Die Hälfte der Kompanie würde über die halbe Distanz transportiert und dort mit einem Kettenfahrzeug als Unterkunft zurückgelassen werden, während die verbliebenen Fahrzeuge zurückkehrten, um die Zurückgelassenen einzusammeln. So sollte es den ganzen Weg bis nach Gorda weitergehen. Charlie und Koriel gehörten zur ersten Gruppe, die losgeschickt wurde.
„Achtundzwanzigster Tag. Ereignislose Fahrt. Errichteten in einer schattigen Schlucht ein Lager und sahen zu, wie der Konvoi umkehrte und den langen Weg zurück zu den anderen begann. Bis morgen um diese Zeit sollten sie zurück sein. Bis dahin nicht viel zu tun. Zwei starben während der Fahrt, also sind jetzt achtundfünfzig von uns hier. Wir wechselten uns damit ab, im Inneren des Schleppers zu essen und auszuruhen. Wenn man nicht an der Reihe ist, macht man es sich so bequem, wie es inmitten der Felsen möglich ist. Koriel ist sauer. Er hat zwei Stunden damit verbracht, draußen mit vier Mädchen von der Artillerie herumzusitzen. Wer auch immer die Raumanzüge entworfen hat, meint er, hätte Situationen wie diese berücksichtigen sollen.“
Mit dem einzigen übriggebliebenen Kettenfahrzeug fuhr die Gruppe mit der gleichen Taktik wie zuvor fort, transportierte eine Abteilung, lud sie aus, kehrte zurück, um den Rest aufzunehmen. Bis zum dreiunddreißigsten Tag hatten Krankheiten, Unfälle und ein Selbstmord ihre Anzahl soweit verringert, daß alle Überlebenden auf einmal Platz im Kettenfahrzeug fanden. Das Hin und Her hatte ein Ende. Wenn sie ohne Unterbrechung fuhren, würden sie Gorda am achtunddreißigsten Tag erreichen, schätzten sie. Am siebenunddreißigsten Tag hatte das Fahrzeug eine schwere Panne. Die für eine Reparatur erforderlichen Ersatzteile waren nicht verfügbar.
Viele waren zu schwach. Eines war klar: Ein Versuch, Gorda zu Fuß zu erreichen, würde so anstrengend sein, daß ihn niemand überleben konnte.
„Siebenunddreißigster Tag. Sieben von uns – vier Männer (ich selbst, Koriel und zwei Infanteristen) und drei Mädchen – versuchen, Gorda in einem Gewaltmarsch zu erreichen. Die anderen bleiben währenddessen im Kettenfahrzeug und warten auf einen Rettungstrupp. Koriel kocht eine Mahlzeit, bevor wir aufbrechen. Er hat gesagt, was er vom Leben bei der Infanterie hält – scheint absolut nicht viel davon zu halten.“
Einige Stunden, nachdem sie das Kettenfahrzeug verlassen hatten, kletterte einer der Infanteristen auf einen Felsvorsprung, um die Wegstrecke voraus in Augenschein zu nehmen. Er rutschte aus, schlitzte sich den Anzug auf und starb auf der Stelle an explosiver Dekompression. Später verletzte sich eines der Mädchen am Bein und blieb, als die Schmerzen zunahmen, weiter und weiter hinter ihnen zurück. Die Sonne ging unter, und sie durften keine Zeit verlieren. Jedermann in der Gruppe quälte sich in Gedanken mit derselben Gleichung – ein Leben oder achtundzwanzig? – sagte aber nichts. Das Mädchen löste das Problem für sie, indem es bei einer Rast stillschweigend seine Luftzufuhr unterbrach.
„Achtunddreißigster Tag. Jetzt nur noch Koriel und ich – wie in alten Zeiten. Der Infanterist krümmte sich plötzlich zusammen und erbrach sich heftig im Innern seines Helms. Wir standen da, ohne ihm helfen zu können, und mußten zusehen, wie er starb. Einige Stunden später brach eines der Mädchen zusammen und sagte, es könne nicht mehr weiter. Das andere beharrte darauf, so lange bei ihm zu bleiben, bis wir Hilfe von Gorda schickten. Konnten es ihr eigentlich nicht übelnehmen – sie waren Schwestern. Das war vor einiger Zeit. Wir haben eine Pause eingelegt, um Atem zu schöpfen. Ich bin fast am Ende. Koriel marschiert ungeduldig auf und ab und will wieder aufbrechen. Der Mann hat die Kraft von zwölf (Löwen?).
Später. Endlich für ein paar Stunden Schlaf haltgemacht. Ich bin sicher, Koriel ist ein Roboter – wie eine Maschine setzte er einen Fuß vor den anderen. Ein menschlicher Panzer. Sonne steht tief am Horizont. Müssen Gorda erreichen, bevor die lunare Nacht beginnt.
Neununddreißigster Tag. Steifgefroren aufgewacht. Mußte die Anzugheizung bis zum Maximum aufdrehen – fühle mich noch immer nicht gut. Denke, sie funktioniert nicht mehr richtig. Koriel meint, ich mache mir zuviel Sorgen. Zeit weiterzumarschieren. Fühle mich durch und durch steifgefroren. Frage mich ernsthaft, ob ich’s schaffe. Kein Wort darüber verloren.
Später. Der Marsch war ein Alptraum. Bin immer wieder gestürzt. Koriel beharrt darauf, daß unsere einzige Chance die sei, aus dem Tal, in dem wir uns befinden, herauszuklettern und eine Abkürzung über einen hohen Bergrücken zu versuchen. Ich habe es bis zur halben Höhe der Spalte geschafft, die in Richtung des Rückens führt. Bei jedem Schritt den Einschnitt hinauf konnte ich Minerva sehen, direkt über der Mitte des Massivs, überall von klaffenden Wunden aus Orange und Rot bedeckt, wie ein (schauerliches?), uns verspottendes Gesicht. Dann wurde ich bewußtlos. Als ich wieder zu mir kam, hatte mich Koriel ins Innere irgendeiner Probegrabung geschleppt. Vielleicht wollte hier jemand einen Vorposten Gordas errichten. Das ist nun eine Weile her. Koriel ist weitermarschiert und hat gesagt, bevor ich bis drei zählen könne, sei Hilfe da. Mir wird immer kälter. Füße taub und Hände steif. Eisblumen bilden sich an der Innenseite der Helmscheibe – kann kaum noch sehen.
Denke die ganze Zeit an die reihenweise zurückgelassenen Leute dort draußen in der hereinbrechenden Nacht. Sind alle wie ich, fragen sich, ob sie wieder eingesammelt werden. Wenn wir aushalten können, kommt alles in Ordnung. Koriel schafft es. Selbst wenn es noch tausend Kilometer bis nach Gorda wären, Koriel würde es schaffen.
Denke an das, was auf Minerva geschehen ist, und frage mich, ob nach alldem unsere Kinder auf einer wärmeren Welt leben werden – und wenn, ob sie jemals wissen werden, was wir getan haben.
Denke an Dinge, an die ich vorher überhaupt noch nie gedacht habe. Die Leute sollten ihr Leben nicht nur in Fabriken, Minen oder Armeelagern verbringen müssen. Weiß aber nicht, was es sonst noch gibt – wir kennen nichts anderes. Aber wenn es irgendwo Wärme und Farbe und Licht in diesem Universum gibt, dann entsteht aus dem, was wir durchgemacht haben, vielleicht doch etwas, was die ganze Mühe wert gewesen ist.
Zu viele Gedanken für einen einzigen Tag. Muß jetzt ein bißchen schlafen.“
Hunt entdeckte, daß er ohne Unterbrechung bis zum Ende durchgelesen hatte, gefesselt vom Pathos jener letzten Tage. Seine Stimme hatte einen ernsten Tonfall angenommen. Langes Schweigen folgte.
„Nun, das wär’s“, schloß er ein wenig lebhafter. „Haben Sie diese Stelle direkt am Ende bemerkt? In den letzten Zeilen sprach er darüber, erneut die Oberfläche Minervas gesehen zu haben. Nun, vielleicht haben sie vorher Teleskope verwendet, aber in der Situation, in der sie dort waren, haben sie wohl kaum ein halbes Observatorium mit sich herumgeschleppt, oder?“
Maddsons Assistent machte einen nachdenklichen Eindruck. „Wie steht’s mit dem Video-Periskop im Helm?“ fragte er. „Vielleicht ist irgend etwas mit der Übersetzung nicht in Ordnung. Könnte er nicht eine Übertragung gemeint haben, die er dadurch gesehen hat?“
Hunt schüttelte den Kopf. „Glaub‘ ich kaum. Ich kenne Leute, die an allen möglichen und unmöglichen Orten Fernsehen gucken, aber nicht in halber Höhe eines verdammten Berges. Und noch etwas: Er hat es so formuliert, als hinge Minerva über der Bergkette. Das läßt darauf schließen, daß sich der Planet wirklich dort befand. Wenn es eine Videoübertragung gewesen wäre, hätte er es doch niemals in dieser Weise ausgedrückt. Nicht wahr, Don?“
Maddson nickte müde. „Vermutlich“, entgegnete er. „Und was nun?“
Hunt ließ seinen Blick von Maddson zum Assistenten und dann wieder zurückwandern. Er stützte die Ellenbogen auf die Tischkante und rieb sich mit den Fingern Gesicht und Augen. Dann seufzte er und lehnte sich zurück.
„Was steht als sicher fest?“ fragte er schließlich. „Wir wissen, daß diese lunarischen Raumschiffe unseren Mond in zwei Tagen erreichten. Wir wissen, daß die Lunarier eine auf dem Mond stationierte Waffe exakt auf ein minervianisches Ziel ausrichten konnten. Wir wissen ebenfalls, daß die Hin- und Rückreise elektromagnetischer Wellen wesentlich kürzer war, als es überhaupt der Fall sein kann, wenn wir über den gleichen Ort sprechen. Und schließlich: Wir können nicht beweisen, wir glauben es nur, daß Charlie auf unserem Mond stehen und ganz deutlich die Oberflächenstrukturen Minervas sehen konnte. Nun, worauf läuft das hinaus?“
„Es gibt nur einen Ort im Universum, auf den alle diese Punkte zutreffen“, sagte Maddson benommen.
„Genau – und er ist direkt zu unseren Füßen! Vielleicht existierte außerhalb der Marsbahn ein Planet namens Minerva, und vielleicht trug er eine Zivilisation. Vielleicht haben die Ganymeder ein paar Tiere dorthin gebracht, vielleicht auch nicht. Aber es spielt überhaupt keine Rolle mehr nicht, wahr? Denn der einzige Planet, von dem Charlies Schiff nur gestartet sein kann, der einzige Planet, auf den sie mit ihrem Annihilator zielen konnten, und der einzige Planet, den er vom Mond aus in allen Einzelheiten sehen konnte – ist dieser!
Sie kamen von der Erde – von Anfang an!
Wenn dies bei Navkomm die Runde macht, dann flippen die Leute gleich scharenweise aus.“
17
Mit der ersten, umfassenden Übersetzung des Notizbuches mit den handschriftlichen Eintragungen war das Paradoxon komplett. Nun gab es zwei folgerichtige und offenbar unwiderlegbare Beweisketten. Die eine wies nach, daß die Lunarier von der Erde stammen mußten, und die andere, daß dies unmöglich war.
Schlagartig machte sich erneut Verwirrung breit, und abermals brachen Kontroversen aus. Die Nacht in Houston und anderswo wurde zum Tage, als die gleichen, unvermeidbaren Beweisrollen abgespult wurden und wieder die gleichen Tatsachenpakete nach neuen Anhaltspunkten oder Interpretationsmöglichkeiten durchsucht wurden. Aber keine neue Antwort konnte gefunden werden. Nur die Auffassung, die Lunarier seien das Produkt einer parallelen Evolutionslinie, schien endgültig ignoriert zu werden. Es gab mehr als genug andere im Umlauf befindliche Theorien, als daß irgend jemand auch noch diese hätte beschwören müssen. Die Navkommgemeinschaft löste sich in unzählige Gruppen und Grüppchen auf, die umherhasteten und mal mit dieser und mal mit jener Vorstellung liebäugelten. Als der Aufruhr nachließ, wurden die letzten Verteidigungslinien von vier Hauptlagern errichtet.
Die reinen Erdler akzeptierten die Folgerungen aus Charlies Tagebuch vorbehaltslos. Sie behaupteten, daß sich die lunarische Zivilisation auf der Erde entwickelte, auf der Erde aufblühte, sich auf der Erde selbst zerstörte und damit basta. Deshalb seien alle Hinweise auf Minerva und die angeblich dort entstandene Zivilisation Quatsch. Auf Minerva habe nie eine Zivilisation existiert, außer jener der Ganymeder, und das läge zu weit in fernster Vergangenheit, um irgendeine Bedeutung hinsichtlich der Lunarierfrage zu haben. Die auf Charlies Karten veranschaulichte Welt war die Erde, nicht Minerva. Also mußten die Berechnungen, die diese Welt fas 400 Millionen Kilometer von der Sonne entfernt placierten, einen groben Fehler aufweisen. Daß dieser Wert dem Orbitalradius des Asteroidengürtels entsprach, war Zufall. Die Asteroiden hatten sich schon immer dort befunden, und alle Daten von Iliad waren zweifelhaft und bedurften der Gegenkontrolle.
Damit blieb nur eine unbeantwortete Frage übrig: Warum hatten Charlies Karten keine Ähnlichkeit mit der Erde? Um dieses Problem zu lösen, starteten die reinen Erdler eine Reihe von Sturmangriffen auf die Bastionen der etablierten geologischen Theorie und der Methoden geologischer Datierung. Sie verwiesen auf die Hypothese, nach der die Kontinente ursprünglich aus einer einzelnen Granitmasse bestanden hatten, welche unter dem Gewicht gewaltiger Eiskappen zerbrochen und von den Eismassen, die in die so entstandenen Spalten stürzten, auseinandergedrängt worden war. Sie deuteten auf das auf der Karte angegebene Ausmaß der Eiskappen und betonten, daß sie wesentlich größer als die waren, die man bisher auf der Erde vermutet hatte. Wenn die Karten also tatsächlich die Erde und nicht Minerva abbildeten, dann mußte die Eiszeit auf der Erde umfassender als bisher angenommen und ihre Auswirkungen auf die Oberflächenstruktur daher entsprechend ausgeprägter gewesen sein. Berücksichtigte man dazu noch das Aufbrechen der Kruste und den Vulkanismus, den Charlie in seinen Beobachtungen der Erde (nicht Minerva) geschildert hatte, dann reichte dies alles vielleicht aus, um die Umwandlung von Charlies Erde in die moderne Erde zu erklären. Warum also konnte man heute keine Spuren der lunarischen Zivilisation entdecken? Antwort: Aus den Karten ging deutlich hervor, daß sich der größte Teil auf den Äquatorial-Gürtel konzentrierte. Heute war diese Region vollständig vom Meer, undurchdringlichem Dschungel oder sich ausweitenden Wüsten bedeckt – was ausreichte, um die rasche Austilgung all dessen zu erklären, was immer auch nach dem Krieg und dem klimatischen Kataklysmus übriggeblieben sein mochte.
Die Gruppe der reinen Erdler zog hauptsächlich Physiker und Techniker an, die überglücklich waren, den Geologen und Geographen die Klärung lästiger Details überlassen zu können. Ihre Hauptsorge war, daß das heilige Prinzip der Konstanz der Lichtgeschwindigkeit nicht zusammen mit all den anderen Dingen in den Schmelztiegel des Argwohns geworfen wurde.
Indem sie sich hinter der Idee des irdischen Ursprungs verschanzt hatten, nahmen die reinen Erdler die Positionen ein, die vorher von den Biologen fanatisch verteidigt worden waren. Jetzt, da Danchekker seine ganymedische Arche Noah entdeckt hatte, vollführten sie eine abrupte Kehrtwendung und sammelten sich hinter ihrer neuen Feststellung, die einen minervianischen Ursprung verschleppter irdischer Vorfahren postulierte. Was war mit Charlies Minerva-Lunaflugzeit und der Dauer der Rückmeldungsverzögerung beim Annihilatorfeuerleitsystem? In der Interpretation der minervianischen Zeiteinteilung, die für diese Werte verantwortlich war, war irgend etwas nicht in Ordnung. Nun gut, wie konnte Charlie Minerva vom Mond aus gesehen haben? Videoübertragung. In Ordnung. Wie konnten sie über eine solche Entfernung hinweg den Annihilator genau aufs Ziel ausrichten? Sie konnten es nicht. Das Gerät in Seltar war nur eine Fernkontrolljustierungsstation. Die Waffe selbst war in einem Satelliten untergebracht, der Minerva umkreiste.
Die dritte Flagge wehte über der Theorie der abgeschnittenen Kolonie. Danach hatte eine frühe irdische Zivilisation Minerva kolonisiert und war dann in ein dunkles Zeitalter gestürzt, in dem der Kontakt mit der Kolonie verlorenging. Die sich durch die Eiszeit verschlechternden Umweltbedingungen initiierten auf beiden Planeten eine Renaissance, mit dem Unterschied, daß es für die Minervianer um Leben oder Tod ging und sie den Kampf um die Rückgewinnung des verlorenen Wissens mit dem Ziel aufnahmen, zur Erde zurückzukehren. Auf der Erde jedoch herrschten ebenfalls magere Jahre, und als die minervianischen Voraustruppen schließlich einen Kontakt herstellten, war man von der Idee, die hungrigen Mäuler eines weiteren Planeten stopfen zu müssen, nicht gerade entzückt. Nachdem man mit Diplomatie nicht weitergekommen war, errichteten die Minervianer auf dem Mond einen Invasionsbrückenkopf. Der Annihilator von Seltar hatte deshalb auf irdische Ziele gefeuert. Die Übersetzer hatten sich von identischen Ortsbezeichnungen auf beiden Planeten in die Irre führen lassen – wie Boston, New York, Cambridge und hundert andere Orte in den USA waren die minervianischen Ansiedlungen nach Städten auf der Erde benannt worden, als die ursprüngliche Kolonie gegründet wurde.
Die Verteidiger dieser Argumente wurden aus dem Lager der reinen Erdler heftig attackiert und aufgefordert, das Fehlen lunarischer Relikte auf der Erde zu erklären. Aber sie erhielten aus einer unerwarteten Richtung Verstärkung: aus der Domäne der Untersuchung fossiler Korallen im Pazifik. Schon lange war bekannt, daß die Analysen der Wachstumsringe uralter fossiler Korallen Hinweise darauf lieferten, wie viele Tage das Jahr in verschiedenen historischen Epochen enthalten hatte und wie stark die Kräfte der Gezeitenreibung gewesen waren, die die Rotation der Erde um die eigene Achse abgebremst hatten. Diese Untersuchungen wiesen zum Beispiel nach, daß vor 350 Millionen Jahren das Jahr ungefähr vierhundert Tage aufgewiesen hatte. Die Forschungsarbeiten, die vor zehn Jahren vom Darwin Institute of Oceanography in Australien durchgeführt und bei denen verfeinertere und genauere Techniken verwendet worden waren, hatten ergeben, daß die Abbremsungskontinuität von damals bis heute nicht so gleichmäßig wie angenommen war. In jüngerer Vergangenheit – ungefähr vor fünfzigtausend Jahren – war es zu einer verworrenen Periode gekommen, während der die Kurve diskontinuierlich verlief und es zu einer vergleichsweise abrupten Verlängerung des Tages gekommen war. Der weiteren war die Abbremsungsrate nach dieser Diskontinuität meßbar größer als vorher. Niemand wußte, wie so etwas hatte geschehen können, aber es schien auf eine Epoche heftiger klimatischer Umwälzungen hinzudeuten, da die Korallen viele Generationen benötigt hatten, um zu einem stabilen Wachstumsmuster zurückzukehren. Die Forschungsergebnisse schienen die Vermutung zu erhärten, daß es während dieser geheimnisvollen Zeitspanne auf der Erde zu weitreichenden Veränderungen gekommen war, die wahrscheinlich zu globalen Überschwemmungen geführt hatten. Alles in allem gesehen konnte genug dahinterstecken, um das vollständige Fehlen jedes Hinweises auf eine frühere irdische Präsenz der Lunarier zu erklären.
Die vierte Haupttheorie sprach von der Rückkehr aus dem Exil, und sie hielt diese Versuche, das Verschwinden von Spuren irdischer Lunarier zu erklären, für unwesentlich und an den Haaren herbeigezogen. Nach der Grunddoktrin dieser Theorie gab es nur eine zufriedenstellende Erklärung für die Tatsache, daß auf der Erde keine Spuren von Lunariern existierten: Auf der Erde hatten sich nie so viele Lunarier aufgehalten, daß sie der Rede wert gewesen seien. Infolgedessen waren sie so auf Minerva entstanden, wie es Danchekker behauptete, und hatten dort eine hochentwickelte Zivilisation aufgebaut – im Gegensatz zu ihren Zeitgenossen auf der Erde, die dagegen zurückblieben. Durch die tödliche Gefahr in Gestalt der Eiszeit entstanden schließlich die beiden Supermächte Cerios und Lambia, die in der von den Linguisten beschriebenen Art und Weise das Wettrennen in Richtung Sonne begannen. Die Linguisten hatten sich jedoch in einem Punkt geirrt: Zur Zeit von Charlies Bericht waren diese Ereignisse bereits Geschichte. Das Ziel war schon erreicht. Die Lambianer hatten einen Vorsprung erzielt und begonnen, auf der Erde Siedlungen zu gründen, von denen einige nach ihren Städten auf Minerva benannt wurden. Die Cerianer folgten ihnen dicht auf den Fersen und gründeten eine Militärbasis auf dem Mond, natürlich zu dem Zweck, die lambianischen Vorposten auf der Erde auszulöschen, um sich dann selbst dort niederzulassen.
Diese Theorie erklärte nicht die Flugzeit von Charlies Raumschiff, aber ihre Verfechter führten diese Verlegenheit auf nicht bekannte Unterschiede zwischen minervianischer und lokaler (lunarer) Zeit zurück. Andererseits postulierte sie, daß zur Zeit des Krieges nur einige erste Stützpunkte der Lambianer auf der Erde errichtet waren. Was auch immer davon nach dem cerianischen Angriff übriggeblieben war, es konnte innerhalb von fünfzigtausend Jahren sicherlich verschwunden sein.
Während man an den Frontlinien Aufstellung bezog und die ersten Salven durch die Navkomm-Korridore hinauf und hinab zu heulen begannen, verweilte Hunt im Niemandsland. Irgendwie war er davon überzeugt, daß jeder recht hatte. Er wußte um die Kompetenz seiner Kollegen und Mitarbeiter, und er zweifelte nicht an ihrer Fähigkeit, richtig zu rechnen. Wenn einer von ihnen nach monatelangen, geduldigen Bemühungen bekannt gab, daß x gleich ∆ war, dann war er ganz sicher, daß aller Wahrscheinlichkeit nach x tatsächlich gleich ∆ war. Deshalb mußte es sich bei dem Paradoxon um eine Illusion handeln. Sich darüber zu streiten, welche Seite richtig und welche falsch lag, ging am Kern der Sache vorbei. Irgendwo in dem Durcheinander mußte sich ein Trugschluß befinden, etwas so Grundlegendes, daß niemand auch nur daran gedacht hatte, es in Frage zu stellen – irgendeine falsche Annahme, die so offensichtlich gewesen war, daß sich niemand des Fehlers hatte bewußt werden können. Wenn sie einfach zum Wesentlichen zurückkehren und diesen einzelnen Irrtum identifizieren konnten, dann würde das Paradoxon verschwinden. Und all das, worüber man sich jetzt stritt, würde sich von ganz allein zu einem folgerichtigen, einheitlichen Ganzen anordnen.
18
„Sie wollen, daß ich zum Jupiter fliege?“ wiederholte Hunt langsam, um sicherzugehen, daß er richtig gehört hatte.
Mit ausdruckslosem Gesicht starrte ihn Caldwell über den Schreibtisch hinweg an. „Das Jupiter-Fünf-Unternehmen wird in sechs Wochen vom Mond aus seinen Anfang nehmen“, stellte er fest. „Danchekker ist in dieser Charlie-Sache so weit gekommen, wie es ihm möglich war. Um die letzten Details, die noch herausgefunden werden müssen, kann sich sein Mitarbeiterstab in Westwood kümmern. Die Dinge auf Ganymed reizen ihn mehr. Dort befindet sich eine ganze Kollektion fremder Gerippe und eine Schiffsladung zoologischer Muster aus einer Zeit, die noch nie zuvor eines Menschen Auge gesehen hat. Sie erregen ihn. Er will sie in die Finger kriegen. Jupiter-Fünf fliegt direkt dorthin, also hat er ein Biologenteam zusammengestellt, das die Reise mitmacht.“
Hunt wußte dies bereits alles. Nichtsdestoweniger ging er noch einmal daran, diese Information zu durchdenken und dahingehend zu prüfen, ob er einen Punkt übersehen hatte. Nach einer angemessenen Pause erwiderte er:
„Prima – seinen Standpunkt kann ich verstehen. Aber was hat das mit mir zu tun?“
Caldwell runzelte die Stirn und trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch, als habe er diese Frage erwartet, aber gehofft, sie bliebe ihm erspart.
„Betrachten Sie es als Erweiterung Ihres Auftrages“, sagte er schließlich. „In der ganzen Streiterei, die hier im Augenblick stattfindet, scheint niemand eine Vorstellung davon zu haben, welche Rolle die Ganymeder in der Charlie-Sache spielen. Vielleicht sind sie ein großer Teil der Antwort, vielleicht auch nicht. Niemand ist sich da sicher.“
„Richtig.“ Hunt nickte.
Caldwell nahm dies als die Bestätigung, die er brauchte. „In Ordnung“, sagte er mit einer Geste, die keinen Einspruch mehr zulassen sollte. „Was die Charlie-Seite der Waagschale anbelangt, haben Sie Ihre Sache bisher gut gemacht. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, die Gewichtung ein wenig zu verändern und Sie auch zur anderen Seite zu stoßen. Nun“, er zuckte mit den Achseln, „die Informationen sind nicht hier – sie sind auf Ganymed. In sechs Wochen läuft J-Fünf nach Ganymed aus. Es liegt mir viel daran, daß Sie mitfliegen.“
Hunts Augenbrauen zogen sich zusammen und machten deutlich, daß er noch immer nicht völlig einverstanden war. Er stellte die auf der Hand liegende Frage. „Was wird aus meinem Job hier?“
„Was daraus wird? Im Grunde genommen korrelieren Sie Informationen, die von verschiedenen Bereichen kommen. Die Informationen werden auch weiterhin von diesen Bereichen fließen, ob Sie nun in Houston oder an Bord von Jupiter-Fünf sind. Ihr Assistent ist in der Lage, ins kalte Wasser zu springen und dafür zu sorgen, daß die routinemäßige Grundlagenforschung und Gegenkontrolle in Gruppe L reibungslos weiterläuft. Es gibt keinen Grund, warum Sie nicht auf dem Laufenden bleiben könnten, wenn Sie dort draußen sind. Nun denn, ein Tapetenwechsel hat noch niemandem geschadet. Sie arbeiten jetzt anderthalb Jahre an dieser Sache.“
„Aber wir sprechen von einer Unterbrechung von vielleicht mehreren Jahren.“
„Nicht unbedingt. Jupiter-Fünf ist ein neueres Modell als J-Vier. Es wird Ganymed in weniger als sechs Monaten erreichen. Außerdem werden an dem Jupiter-Fünf-Unternehmen auch einige Schiffe teilnehmen, die den Grundstein einer dort draußen stationierten Flotte bilden sollen. Sobald eine Einsatzreserve geschaffen ist, wird es zu einem regulären Verkehr mit der Erde kommen. Mit anderen Worten: Sobald Sie die Nase von Ganymed voll haben, können wir Sie ohne Schwierigkeiten zurückschaffen.“
Hunt dachte daran, daß nichts über längere Zeit in den eingefahrenen Gleisen verlief, wenn Caldwell in der Nähe war. Er verspürte nicht das Bedürfnis, sich über seine neue Direktive zu streiten. Im Gegenteil, die Aussicht reizte ihn sogar. Aber unter Caldwells Begründung war etwas, das nicht ganz hineinpaßte. Wie schon bei früheren Gelegenheiten hatte er wieder das Gefühl, als läge der wirkliche Grund irgendwo unter der Oberfläche verborgen. Trotzdem, das spielte eigentlich keine Rolle. Caldwell schien zu einem Entschluß gekommen zu sein, und Hunt wußte eines aus Erfahrung: Wenn Caldwell zu dem Entschluß gekommen war, daß sich irgend etwas in bestimmter Weise zu entwickeln hatte, dann würde es genau so kommen. Es war, als hätte er die Macht, sich das Schicksal untertan machen zu können.
Caldwell wartete auf mögliche Einwände. Als er bemerkte, daß keine zum Vorschein kamen, schloß er: „Als Sie zu uns kamen, sagte ich Ihnen, daß Ihr Platz in der UNWO in vorderster Front sei. Diese Bemerkung beinhaltete ein Versprechen. Und ich halte meine Versprechen immer.“
Während der nächsten zwei Wochen arbeitete Hunt wie ein Besessener. Er organisierte die Tätigkeit von Gruppe L neu und traf seine eigenen persönlichen Vorbereitungen für eine längere Abwesenheit von der Erde. Danach wurde er für zwei Wochen nach Galveston geschickt.
In den dreißiger Jahren des einundzwanzigsten Jahrhunderts konnten bei jedem angesehenen Reisebüro kommerzielle Flugreservierungen zum Mond gebucht werden, entweder für Plätze auf regulären UNWO-Schiffen oder auf gecharterten Schiffen, deren Besatzung aus UNWO-Offizieren bestand. Der Komfortstand, der auf Passagierflügen geboten wurde, war hoch und die Unterbringung in den größeren Mondbasen angenehm. Dadurch wurden Reisen zum Mond im Leben vieler Geschäftsleute zur Routine und für mehr als nur ein paar gelegentliche Besucher zu einem denkwürdigen Ereignis. Niemand von ihnen benötigte eine spezielle Vorbereitung oder Fachkenntnisse. Ein aus einer Hotelkette, einer internationalen Fluglinie, einem Reiseunternehmen und einer Baugesellschaft bestehendes Unternehmenskonsortium hatte sogar mit dem Bau einer Ferienanlage auf dem Mond begonnen, die für die beginnende Saison bereits voll ausgebucht war.
Orte wie Jupiter jedoch waren für die Öffentlichkeit noch nicht zugänglich. Personen, die für Aufgaben im Zusammenhang mit den UNWO-Fernraumunternehmen vorgesehen waren, mußten wissen, auf was sie sich einließen und wie sie in Notfällen zu handeln hatten. Die Eiswüsten von Ganymed und die Dampfkessel der Venus eigneten sich nicht für Touristen.
In Galveston lernte Hunt mit UNWO-Raumanzügen und den Standard-Bauteilen der Hilfsausstattung umzugehen. Er wurde im Gebrauch von Kommunikationsanlagen, Überlebensausrüstungen, Not-Lebenserhaltungssystemen und Reparatursätzen unterwiesen. Er übte sich an Routinetests, Funkortungsverfahren und Techniken zur Diagnostizierung von Ausrüstungsfehlfunktionen. „Ihr Leben könnte von diesem kleinen Kasten abhängen“, teilte der Instruktor der Gruppe mit. „Sie könnten in eine Situation geraten, in der er versagt. Und die einzige Person im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, die ihn wieder in Ordnung bringen kann, sind Sie.“ Ärzte hielten Vorträge über die Grundlagen der Raummedizin und empfahlen Methoden, mit denen man Kohlendioxidübersättigung, Dekompression, Hitzschlag und Hypothermie begegnen konnte. Physiologen beschrieben, welche Auswirkungen längere Perioden reduzierten Körpergewichts auf das Kalzium der Knochen hatten, und zeigten, wie man ein richtiges Gleichgewicht durch speziell zusammengestellte Nahrung und Arzneimittel aufrechterhalten konnte. UNWO-Offiziere gaben weitere nützliche Hinweise; sie umfaßten die ganze Bandbreite dessen, wie man in einer fremden Umwelt bei Verstand und am Leben blieb, und reichten von dem Problem, wie man sich zu Fuß auf einer lebensfeindlichen Welt durch die Nutzung von Satellitensignalen als Bezugspunkte zurechtfand, bis hin zu der Frage, wie man sich bei Nullgravitation das Gesicht wusch.
Gut vier Wochen nachdem er die Direktive von Caldwell erhalten hatte, fand sich Hunt bei der Startbasis Zwölf des Terminalkomplexes Nummer zwei wieder, fünfzehn Meter unter der Erde und dreißig Kilometer außerhalb von Houston. Er schritt über eine der Zugangsrampen, die die Hülle des Startsilos mit der schimmernden Außenhaut der Wega-Fähre verbanden. Eine Stunde später schoben die hydraulischen Pressen unter der Plattform, die das Heck trug, das Schiff langsam in die Höhe und nach draußen, bis es frei über dem Dach des Gerüstes stand. Innerhalb weniger Minuten raste die Fähre in die dunkle Leere jenseits der Atmosphäre. Dreißig Minuten später dockte sie mit zweieinhalb Sekunden Verspätung an das achthundert Meter durchmessende Transferschiff Kepler.
Mit der Kepler reisten die Passagiere zum Mond: Hunt, drei Triebwerkssystem- Experten, die ganz versessen darauf waren, den vermuteten ganymedischen Gravitationsantrieb zu untersuchen, vier Kommunikationsspezialisten, zwei Statiker und Danchekkers Team, alle dafür ausersehen, an Bord von Jupiter-Fünf zu gehen. Im Mondorbit wechselten sie auf eine der häßlichen und plumpen Mondfähren der Kapella-Klasse über, mit der sie den Rest der Reise von der Erdumlaufbahn bis zur Mondoberfläche zurücklegen würden. Die Reise verlief ruhig und dauerte dreißig Stunden. Nachdem sie zwanzig Minuten in der Mondumlaufbahn gewartet hatten, kam über Lautsprecher die Ankündigung, daß das Schiff zum Landeanflug freigegeben sei.
Kurz darauf kam auf dem Kabinenbildschirm die nicht enden wollende Prozession aus Ebenen, Bergen, Felszacken und Hügeln zum Stillstand, und das Bild begann sich merklich zu vergrößern. Hunt erkannte die von zwei Ringwällen umgebenen Ebenen Ptolemäus und Albategnius, ihre kegelförmigen Zentralberge und den Krater Klein, der die rundum laufenden Hänge unterbrach. Dann drehte das Schiff nach Norden ab, und diese Details rückten aus dem oberen Bereich des sich stetig vergrößernden Abbildes heraus. Das Bild stabilisierte sich, und in den Mittelpunkt geriet nun die zerfurchte und zerklüftete Bergkette, die Ptolemäus von den südlicheren Ausläufern der Hipparchus-Ebene trennte. Was erst wie ebenes Terrain ausgesehen hatte, entpuppte sich nun als ein Durcheinander aus scharfkantigen Klippen und tiefen Tälern. In der Mitte begann es zu funkeln: Sonnenlicht, das von den Metallkonstruktionen des ausgedehnten Stützpunkts unter ihnen reflektiert wurde.
Als sich die Konturen der Oberflächenanlagen aus dem grauen Hintergrund herausschälten und den Schirm auszufüllen begannen, verbreiterte sich im Zentrum des Bildes ein gelbes Glühen. Allmählich verwandelte es sich in den aufklaffenden Zugang zu einem der unterirdischen Mondfährenliegeplätze. Für einen Augenblick konnte man die sich weithin erstreckenden Reihen weiterer Eingangstore erkennen, die gewaltigen Wartungsgerüste, die zur Seite glitten, um dem Schiff Zugang zu gewähren. Eine Anzahl strahlend heller Lichtbögen beleuchtete die Szenerie, dann versperrten die Düsenstrahlen aus den Bremstriebwerken die Aussicht. Ein kurzer Ruck signalisierte, daß das Landegestell den Mondfels berührt hatte, und als sich die Motoren ausgeschaltet hatten, herrschte im Schiff plötzlich Stille. Über dem gedrungenen Bug der Mondfähre rollten zwei massive, stählerne Torhälften aufeinander zu und nahmen die Sicht auf die Sterne. Als sich der Hangar mit Atemluft füllte, erschloß sich den Insassen der Fähre eine neue akustische Welt. Kurz darauf glitten weich die Zugangsrampen aus den Wänden, um das Schiff mit den Empfangsbereichen zu verbinden.
Dreißig Minuten nach der Erledigung der Empfangsformalitäten trat Hunt hoch oben in der Aussichtskuppel, die über die Anlagen der Ptolemäus-Hauptbasis hinausragte, aus dem Lift. Lange Zeit starrte er ruhig auf die öde Trostlosigkeit, in die der Mensch diese Lebensoase gegraben hatte. Die blauweiß gestreifte Scheibe der Erde hing bewegungslos über dem Horizont. Sie brachte ihm plötzlich die Ferne solcher Orte wie Houston, Reading und Cambridge zu Bewußtsein und ließ ihn erkennen, was ihm all das Vertraute bedeutete, das er bis vor kurzem als selbstverständlich erachtet hatte. Durch sein Wanderleben war er nie dazu gekommen, einen bestimmten Ort als sein Zuhause zu betrachten. Unbewußt war er immer der Meinung gewesen, daß jeder Teil der Welt genauso sein Zuhause war wie jeder andere. Nun begriff er, daß er zum erstenmal in seinem Leben von zu Hause fort war.
Als Hunt sich umwandte, um die unter ihm liegende Szene genauer in Augenschein zu nehmen, bemerkte er, daß er nicht allein war. Auf der gegenüberliegenden Seite der Kuppel stand eine hagere, kahlköpfige Gestalt, die schweigend und ebenfalls in Gedanken versunken ins Ödland hinausstarrte. Hunt zögerte lange Zeit. Schließlich schritt er hinüber und trat neben die Gestalt. Um sie herum erstreckte sich der Wirrwarr einer silbergrauen Metallgeometrie inmitten eines Durcheinanders aus Röhren, Trägern, Masten und Antennen. Auf hohen Türmen befindliche Radaranlagen suchten in endlosen Kreisen den Horizont ab. Schlanke, wie Gottesanbeterinnen wirkende Lasersender und -empfänger starrten unerschütterlich zum Firmament hinauf und wickelten den pausenlosen Dialog zwischen den Basiscomputern und den in achtzig Kilometern Höhe schwebenden, unsichtbaren Kommunikationssatelliten ab. In der Ferne jenseits des Stützpunkts thronten die zerklüfteten Bastionen der Ptolemäusberge über der Ebene. Aus der Schwärze über ihnen glitt ein Oberflächentransporter in seinem Anflugkorridor auf die Basis zu.
Schließlich sagte Hunt: „Wenn man bedenkt… vor einer Generation war dies alles nur Wüste.“
Danchekker schwieg lange Zeit. Als er antwortete, blickte er weiterhin nach draußen.
„Aber der Mensch wagte zu träumen…“ murmelte er langsam. Nach einer Pause fügte er hinzu: „Und was der Mensch heute zu träumen wagt, setzt er morgen in die Tat um.“
Erneut folgte langes Schweigen. Hunt nahm eine Zigarette aus seinem Etui und zündete sie an. „Wissen Sie“, sagte er schließlich und blies eine Rauchwolke gegen die Glaswand der Kuppel, „es ist eine lange Reise bis zum Jupiter. Wir könnten uns unten einen Drink genehmigen – als Marschverpflegung sozusagen.“
Eine Zeitlang schien Danchekker diesen Vorschlag in Gedanken von allen Seiten abzuwägen. Schließlich wandte er sich, soweit das innerhalb der Kuppel möglich war, von der Aussicht ab und drehte sich um, um Hunt direkt anzublicken.
„Lieber nicht, Dr Hunt“, sagte er ruhig.
Hunt seufzte und erweckte den Anschein, als wolle er sich abwenden.
„Jedoch…“ Der Tonfall von Danchekkers Stimme hielt ihn zurück, bevor er sich bewegen konnte. Er sah auf. „Wenn Ihr Metabolismus in der Lage ist, den ungewohnten Schock nichtalkoholischer Getränke auszuhalten, dann wäre ein ordentlicher Kaffee… äh… vielleicht ausgesprochen willkommen.“
Es war ein Witz. Danchekker hatte tatsächlich einen Witz gerissen.
„Ich werde es schon irgendwie überleben“, gab Hunt zurück, als sie auf die Lifttür zuschritten.
19
Die Einschiffung in das in der Umlaufbahn befindliche Jupiter-Fünf-Leitschiff war erst ein paar Tage später vorgesehen. Danchekker würde reichlich damit zu tun haben, letzte Vorbereitungen für den Transport seines Teams und der Geräteausstattung von der Mondoberfläche hinauf in den Orbit zu treffen. Hunt, der mit diesen Aktivitäten nichts zu tun hatte, arbeitete eine Reiseroute für die Örtlichkeiten aus, die er während der freien, ihm zur Verfügung stehenden Zeit besuchen wollte.
Zuerst einmal flog er mit einem Oberflächentransporter nach Tycho, wo er sich ein Bild von den Ausgrabungsarbeiten verschaffte, die in den Gebieten, in denen man auf Spuren der Lunarier gestoßen war, immer noch durchgeführt wurden. Hier lernte er schließlich die Leute kennen, die bisher für ihn nur als Gesichter auf Bildschirmen existiert hatten. Er besuchte auch die nicht weit von Tycho stattfindenden Tiefengrabungen und -bohrungen, mit denen Ingenieure versuchten, bis zu den Kernregionen des Mondes vorzustoßen. Sie glaubten, daß dort umfangreiche Erzadern gefunden werden konnten. Wenn dies der Fall war, dann konnte der Mond innerhalb von Jahrzehnten zu einer gewaltigen Raumschiffswerft werden, in der Teile in Fertigungsanlagen auf der Oberfläche vorfabriziert und dann zur Endmontage in die Umlaufbahn transportiert wurden. Die ökonomischen Vorteile, Fernraumschiffe hier und aus Rohmaterialien des Mondes zu konstruieren, ohne alles aus dem Gravitationsfeld der Erde hierherschaffen zu müssen, versprachen gewaltig zu sein.
Als nächstes reiste Hunt zu den riesigen optischen Radioobservatorien von Giordano Bruno auf der Mondrückseite. Gigantische Teleskope, die durch keine Atmosphäre mehr behindert und deren Meßdaten nicht mehr durch das Eigengewicht entstellt wurden, und empfindliche Empfänger, die hier von den unablässigen irdischen Interferenzen abgeschirmt waren, schoben die Grenzen des bekannten Universums weit über die Schranken hinaus, die ihren erdgebundenen Vorgängern auferlegt gewesen waren. Hut saß fasziniert vor den Bildschirmen und suchte die Planeten einiger naher Sterne heraus. Man zeigte ihm einen, der auf einer verrückten achtphasigen Bahn einen Doppelstern umkreiste. Er blickte tief ins Herz der Andromeda-Galaxis, betrachtete ferne Fleckchen an der äußersten Grenze des Erkennbaren. Wissenschaftler und Physiker beschrieben das neue, seltsame Bild des Kosmos, das sich aufgrund ihrer Arbeiten hier abzuzeichnen begann, und erklärten einige ihrer aufregenden Fortschritte im Verständnis der Raum-Zeitmechanik. Möglicherweise ließen sich bald Methoden für die Umgestaltung der astronomischen Geodäsie entwickeln. Bisher hatte man immer geglaubt, extrem hohen Geschwindigkeiten sei eine oberste Grenze gesetzt, doch vielleicht konnte man sie umgehen. Falls ja, dann würde die interstellare Reise zu einem durchführbaren Vorhaben werden. Einer der Wissenschaftler sprach die Überzeugung aus, daß der Mensch in fünfzig Jahren die Galaxis durchqueren würde.
Hunts letztes Ziel brachte ihn zurück auf die erdzugewandte Seite – zur Kopernikus-Basis, in deren Nähe Charlie gefunden worden war. Die Wissenschaftler von Kopernikus hatten die Beschreibungen des Terrains, über das Charlies Route geführt hatte, und die beigefügten Skizzen studiert. Die Informationen, die das Notizbuch enthielt, waren ihnen von Houston übermittelt worden. Aus den Reisezeiten, Entfernungen und Schätzungen über die Durchschnittsgeschwindigkeit hatten sie die Vermutung abgeleitet, daß Charlies Reise irgendwo auf der Mondrückseite begonnen und ihn dann über die Juraberge, das Sinus Iridum und Mare Imbrium zum Kopernikuskrater geführt hatte. Diese Auffassung wurde jedoch nicht von allen geteilt. Es gab ein Problem. Aus irgendeinem Grunde standen die in Charlies Notizen erwähnten Richtungen und Kompaßstriche in keiner Beziehung zum lunaren Nord-Südverlauf, der auf der Rotationsachse beruhte. Die einzige Route für Charlies Reise, die überhaupt einen Sinn ergab, war die von der Mondrückseite durch das Mare Imbrium. Aber selbst die ergab nur einen Sinn, wenn eine völlig neue Richtung für den Verlauf der Nord-Südachse angenommen wurde.
Die Versuche, Gorda zu lokalisieren, waren bisher nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Aus der Ausdrucksweise der letzten Tagebucheintragungen ging hervor, daß Gorda nicht sehr weit von der Gegend entfernt gewesen sein konnte, in der Charlie gefunden worden war. Gut fünfundzwanzig Kilometer von diesem Punkt entfernt befand sich ein Gebiet, in dem man auf zahlreiche, sich überlappende Krater stieß. Alle waren jüngeren Ursprungs und als meteoritisch klassifiziert. Die meisten Forscher folgerten, daß dies der Standort Gordas gewesen sein mußte und daß die lunarische Basis von einem zufällig eingeschlagenen Schwarm aus dem bisher noch immer unerklärlichen Meteoritensturm total zerstört worden war.
Bevor er Kopernikus verließ, nahm Hunt eine Einladung zu einem Überlandflug an, um den Ort zu besuchen, an dem man Charlie entdeckt hatte. Er wurde von einem Professor Alberts aus dem Stützpunkt und der Mannschaft eines UNWO-Vermessungsfahrzeugs begleitet.
In einer ausgedehnten Schlucht, zwischen zerklüfteten Wänden aus schiefergrauem Fels, kam das Vermessungsfahrzeug rumpelnd zum Stehen. Überall um sie herum war der Staub von Gleisketten, Rädern, Fahrgestellen und menschlichen Füßen zu einem verwirrenden Muster aus Furchen und Rillen aufgewühlt worden. Beweise für die intensive Aktivität, die hier während der letzten achtzehn Monate geherrscht hatte. Aus der Beobachtungskuppel in der oberen Kabine erkannte Hunt das Terrain sofort wieder. Zum erstenmal hatte er es in Caldwells Büro gesehen. Er identifizierte den großen Schuttwall an der nahen Schluchtwand und darüber den Einschnitt, der in die Spalte führte.
Eine Stimme rief ihn von unten. Hunt erhob sich. Als er durch die Bodenluke und dann die kurze Leiter hinunter in die Kontrollkabine kletterte, waren seine Bewegungen in dem unförmigen Raumanzug langsam und schwerfällig. Der Fahrer streckte sich in seinem Sitz aus und nahm einen ausgiebigen Schluck aus der Thermosflasche mit heißem Kaffee. Hinter ihm saß der das Kommando über das Fahrzeug führende Sergeant an einem Videoschirm. Über Komsat erstattete er der Basis Bericht, daß sie ihr Ziel ohne Probleme erreicht hatten. Das dritte Besatzungsmitglied – ein Corporal, der Hunt und Alberts nach draußen begleiten sollte und bereits fertig war – half dem Professor bei der Sicherung des Helms. Hunt nahm seinen eigenen Helm aus dem Ablagegestell an der Tür und setzte ihn auf. Als die drei fertig waren, überwachte der Sergeant die letzte Kontrolle des Lebenserhaltungs- und Kommunikationssystems. Dann gestattete er ihnen, einer nach dem anderen nach draußen zu gehen.
„So, nun ist es soweit, Vic. Jetzt stehen Sie wirklich auf dem Mond.“ Alberts‘ Stimme drang aus dem Lautsprecher im Innern seines Helms. Hunt spürte, wie der weiche Staub unter seinen Stiefeln nachgab, und versuchsweise trat er ein paar Schritte vor und zurück.
„Wie am Strand der Costa Brava“, sagte er.
„Alles klar, Leute?“ erkundigte sich die Stimme des UNWO-Corporals.
„Alles klar.“
„Bestens.“
Die drei grellfarbenen Gestalten – eine orangefarbene, eine rote und eine grüne – bewegten sich langsam an der deutlich sichtbaren Furche entlang, die sich in der Mitte des Schuttwalls bis hinauf erstreckte. Oben hielten sie inne und starrten zum Vermessungsfahrzeug zurück, das in der Schlucht unter ihnen bereits wie ein Spielzeug wirkte.
Sie schritten in die Spalte hinein und kletterten zwischen vertikalen Felswänden entlang, die sich verengten, als sie die Biegung erreichten. Über der Biegung erweiterte sich die Spalte, und in der Ferne konnte Hunt das gewaltige Massiv aus zerklüfteten Türmen erkennen, die die Vorberge über ihnen überragten – offensichtlich das Gebirge, das in Charlies Notizen beschrieben wurde. Er konnte sich das, was sich an diesem Ort vor so langer Zeit zugetragen hatte, plastisch vorstellen: Zwei andere Gestalten in Raumanzügen hatten sich auf- und abwärts gequält, und ihre Blicke waren auf die gleiche Szenerie gerichtet gewesen. Während der letzten, verzweifelten Anstrengungen hatte über dem Bergrücken das rotschwarze Omen eines gemarterten Planeten geglüht und…
Hunt hielt verwirrt inne. Wieder sah er zum Massiv hinauf, dann drehte er sich um und betrachtete die helle Erdscheibe, die weit hinter seiner rechten Schulter glänzte. Einmal ging sein Blick zum Bergrücken, dann erneut zurück zur Erde.
„Etwas nicht in Ordnung?“ Alberts, der ein paar Schritte weitermarschiert war, hatte sich umgedreht und starrte zu ihm zurück.
„Ich bin mir nicht sicher. Warten Sie einen Augenblick. „Hunt kletterte hinaus, trat an die Seite des Professors und deutete in Richtung des Bergrückens. „Sie kennen sich hier besser aus als ich. Sehen Sie sich das Massiv dort oben an… Könnte die Erde zu irgendeiner Zeit im Jahr darüber sichtbar werden?“
Alberts folgte Hunts ausgestrecktem Finger, blickte kurz zur Erde zurück und schüttelte hinter der Sichtscheibe entschieden den Kopf.
„Nein. Von der Mondoberfläche aus gesehen ist die Position der Erde beinah konstant. Infolge der Libration schwankt die Durchschnittsposition etwas, aber nicht annähernd in diesem Ausmaß.“ Er sah erneut hinauf. „Sie kommt niemals auch nur in die Nähe davon. Eine seltsame Frage. Wie kommen Sie darauf?“
„Ich hatte nur so einen Gedanken. Spielt im Augenblick eigentlich keine Rolle.“
Hunt senkte den Blick. Im unteren Teil einer der Felswände voraus entdeckte er ein Loch. „Das muß es sein. Lassen Sie uns hingehen.“
Die Höhle war genauso, wie er sie von unzähligen Fotos in Erinnerung hatte. Trotz ihres Alters verriet die Form einen künstlichen Ursprung. Hunt näherte sich ihr fast ehrfurchtsvoll und hielt inne, um mit seinem Stulpenhandschuh den Fels an der einen Seite der Öffnung zu berühren. Die Kerbmarkierungen waren offensichtlich von einem Bohrer oder etwas in der Art geschaffen worden.
„Nun gut, das ist sie“, ließ sich die Stimme von Alberts vernehmen, der ein paar Schritte hinter ihm stand. „Charlies Höhle haben wir sie genannt. Sie sieht mehr oder weniger genauso aus wie damals, als Charlie und sein Kumpel sie zum erstenmal erblickt haben. Fast so, als würde man in die geweihten Kammern einer Pyramide eindringen, nicht wahr?“
„So könnte man meinen.“ Hunt beugte sich nieder, um ins Innere zu blicken. Als er zögerte, um nach seinem Scheinwerfer am Gürtel zu tasten, nahm ihm die plötzliche Dunkelheit vorübergehend die Orientierung.
Die Gesteinslawine, die den Körper ursprünglich bedeckt hatte, war weggeräumt worden, und das Innere war geräumiger, als er erwartet hatte. Seltsame Empfindungen wallten in ihm empor, als er auf die Stelle blickte, wo – Jahrtausende, bevor das erste Blatt der Geschichte geschrieben worden war – eine zusammengekauerte Gestalt das letzte Blatt eines Berichts vollgekritzelt hatte, den Hunt erst vor kurzem in seinem Büro gelesen hatte, dreihundertachtzigtausend Kilometer von hier entfernt. Er dachte an die Zeiten, die seit jenem Ereignis vergangen waren – an die Reiche, die entstanden und wieder untergegangen waren, die zu Staub zerfallenen Städte, die Leben, die kurz aufgeschäumt und dann von der Vergangenheit verschluckt worden waren. Und während all dieser Zeit hatte das Geheimnis dieser Felsen der Enträtselung geharrt. Viele Minuten verstrichen, bevor Hunt in die Wirklichkeit zurückkehrte und sich im grellen Sonnenlicht aufrichtete.
Erneut blickte er in Richtung des Bergrückens hinauf. Irgendein quälender Gedanke hämmerte an die Tür zu den bewußten Regionen seines Hirns, als ob irgend etwas aus dem dahinter liegenden Schattenreich des Unbewußten beharrlich kreischend um Aufmerksamkeit buhlte. Dann war das Pochen wieder verschwunden.
Er hakte den Scheinwerfer in die Gürtelhalterung zurück und trat an die Seite Alberts‘, der an der gegenüberliegenden Wand einige Gesteinsformationen studierte.
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Fortsetzung: Der tote Raumfahrer – Teil 5
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Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.