Von James Patrick Hogan. Das Original „Inherit the Stars“ wurde 1977 veröffentlicht, die deutsche Fassung (übersetzt von Andreas Brandhorst) erschien 1981 im Moewig-Verlag (ISBN 3-8118-3538-6) und war lange nur noch in Gebrauchtexemplaren über Amazon erhältlich. Inzwischen gibt es wieder eine überarbeitete Neuauflage unter dem Titel Das Erbe der Sterne, die seit 30. Dezember 2016 erhältlich ist.
Zuvor erschienen: Der tote Raumfahrer – Teil 1
7
Hunt hob die Arme, lehnte sich weit zurück und gähnte ausgiebig in Richtung Labordecke. Für ein paar Sekunden verblieb er in dieser Haltung, dann sank er mit einem Seufzen nach vorn zurück. Schließlich rieb er sich mit den Fingerknöcheln die Augen, setzte sich aufrecht, so daß er die Konsole vor ihm betrachten konnte, und konzentrierte sich erneut auf die knapp einen Meter große, zylindrisch geformte Glaskonstruktion an seiner Seite.
Das Betrachtungsterminal des Trimagniskops zeigte ein vergrößertes Abbild eines jener Bücher im Taschenbuchformat, die bei Charlie gefunden worden waren und die ihnen Danchekker vor drei Wochen, an ihrem ersten Tag in Houston, gezeigt hatte. Es steckte unter dem auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes befindlichen Abtastmodul des Gerätes. Das Skop war so justiert, daß es auf Veränderungen im spezifischen Gewicht reagierte, die von beschrifteten und nicht beschrifteten Stellen einer Seite hervorgerufen wurden, und nur noch die Zeichen selbst projizierte. Irgendwie erinnerte der ganze Vorgang an einen Eierkarton, bei dem man die obere Hälfte abgeschnitten hatte. Die abgebildeten Symbole waren jedoch in Anbetracht von Alter und Zustand des Buches undeutlich und an einigen Stellen unvollständig. Der nächste Schritt bestand darin, die Skopprojektionen mit Fernsehkameras optisch festzuhalten und den Navkomm-Computerkomplex dann mit diesen Daten zu füttern. Dort wurden die Daten einem speziellen Dekodierungs- und Analyseverfahren, einer statistisch-empirischen Hochrechnungstechnik, unterzogen, mittels der man eine Kopie des Buches herstellte, in der unvollständige oder fehlende Fragmente restauriert beziehungsweise hinzugefügt waren.
Hunt betrachtete die kleinen Monitore auf seiner Konsole, von denen jeder einen vergrößerten Ausschnitt einer bestimmten Seite zeigte, und tippte dann einige Anweisungen in die Tastatur.
„Auf Monitor fünf habe ich ein verschwommenes Bild“, meldete er. „Die Koordinaten sind eins zwo null null zu eins drei acht null auf der X-Achse; Y neun neun null null und, äh, eins null sieben fünf.“
Rob Gray, der ein paar Schritte entfernt vor einer anderen Konsole saß und von Bildschirmen und Kontrolltafeln fast vollständig umgeben war, musterte einige der Zahlenkolonnen, die vor ihm auf den Schirmen flimmerten.
„Z-Modus linear im Feld“, rief er. „Eine Teilverstärkung…“
„Gut. Versuchen Sie’s.“
„Ich gehe auf der Z-Achse von zwei null null auf zwei eins null… steigere die Verstärkung um jeweils einen Punkt… in Schritten von null Komma fünf Sekunden.“
„Verstanden.“ Hunt betrachtete den Schirm. Das Abbild eines Seitenabschnitts aus dem Buch verzerrte sich an einigen Stellen, dann begann es sich zu verändern.
„Jetzt anhalten!“ rief er.
Gray betätigte eine Taste. „In Ordnung?“
Eine Zeitlang betrachtete Hunt das nun modifizierte Bild. „In der Mitte ist nun alles klar“, sagte er schließlich. „Stabilisieren Sie das neue Niveau auf vierzig Prozent. Diese Randverzerrungen stören mich noch immer. Geben Sie mir mal einen Vertikalschnitt durch das Zentrum.“
„Auf welchen Bildschirm?“
„Äh… Nummer sieben.“
„Kommt sofort.“
Auf Hunts Konsole leuchtete eine Kurve auf, die einen Querschnitt durch den schmalen Bereich zeigte, mit dem sie sich beschäftigten. Er betrachtete sie einige Augenblicke, dann rief er: „Nehmen Sie eine Interpolation der Randverzerrung vor! Fangen Sie mit, sagen wir, minus fünf und fünfunddreißig Prozent auf Y an.“
„Parameter sind klar… Interpolator dazugeschaltet“, meldete Gray. „Wird jetzt im Abtastprogramm eingegliedert.“ Wieder veränderte sich das Bild ein wenig. Jetzt wies es eine merkliche Kontrastverbesserung auf.
„An den Rändern noch immer nicht ganz klar“, sagte Hunt. „Versuchen Sie’s mit einer Peripherieverstärkung von plus zehn. Wenn das nichts hilft, müssen wir den Isobandbreitenregler hinzunehmen.“
„Plus zehn auf zwei fünf und sieben fünf null“, wiederholte Gray, während er an der Tastatur arbeitete. „Erledigt. Wie sieht’s aus?“
Auf dem Seitenausschnitt, der auf Hunts Monitor zu sehen war, hatten sich die verschwommenen Symbole auf rätselhafte Weise in deutlich zu erkennende Zeichen verwandelt. Hunt nickte zufrieden.
„Alles klar. Jetzt stabilisieren. In Ordnung – das wäre das. Oben rechts ist noch immer ein unsauberer Punkt. Den nehmen wir uns jetzt vor.“
Seit jenem Tage, an dem das Trimagniskop fertig installiert war, hatte es für die beiden fast nur noch solche Arbeit gegeben. Die erste Woche hatten sie damit zugebracht, eine Reihe von Querschnittsansichten des Körpers selbst herzustellen. Dieses Unterfangen hatte sich als eine nicht so leicht zu vergessende Mischung aus Unbequemlichkeiten und noch unangenehmeren Widrigkeiten erwiesen. Sie mußten in elektrisch beheizten Anzügen arbeiten, weil die Mediziner unbeugsam darauf bestanden, daß Charlie in einer gekühlten, keimfreien Umgebung verblieb. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen waren enttäuschend. Es hatte sich herausgestellt, daß Charlie überraschend – oder nicht so überraschend, das kam ganz auf den Standpunkt an – menschlich war. Während der zweiten Woche nahmen sie sich die persönlichen Dinge vor, die bei Charlie gefunden worden waren, insbesondere die „zerknüllten“ Papiere und die Taschenbücher. Diese Untersuchungen hatten zu wesentlich interessanteren Ergebnissen geführt.
Von den Beschriftungssymbolen auf den Texten hatte man zuerst die Zahlen identifizieren können. Ein Team von Kryptographen, das in der Navkomm-Zentrale zusammengestellt worden war, entschlüsselte bald das Zahlensystem, das auf dem Duodezimal- statt dem Dezimalsystem basierte und links neben der letzten Ziffer eine mathematische Ordnungsbezeichnung verwendete. Die nichtnumerischen Symbole zu dechiffrieren erwies sich als weitaus schwieriger. Linguisten von wissenschaftlichen Instituten und Universitäten verschiedener Länder wurden hinzugezogen. Mit Hilfe einer ganzen Reihe von Computern versuchten sie, aus der Sprache der Lunarier, wie Charlies Spezies angesichts seines Fundortes genannt wurde, schlau zu werden. Bisher hatten ihre Bemühungen nur zu dem Ergebnis geführt, daß das lunarische Alphabet aus siebenunddreißig Buchstaben bestand, die horizontal von rechts nach links geschrieben wurden, und ein Äquivalent zu Großbuchstaben enthielt.
Angesichts der kurzen Zeitspanne konnte man mit dem Erfolg recht zufrieden sein. Die meisten untersuchenden Wissenschaftler waren sich darüber im klaren, daß die Ergebnisse, die man bisher erzielt hatte, ohne die Hilfe des Trimagniskops nicht zustande gekommen wären. Und die Namen der beiden Engländer waren bald in aller Munde. Das Skop erregte große Aufmerksamkeit unter dem technischen Personal der UNWO, und an vielen Abenden ergoß sich ein Strom von Besuchern in das Ocean Hotel, die alle darauf brannten, mit den Erfindern dieses Instruments zu sprechen und mehr über seine Funktionsprinzipien zu erfahren. Bald darauf war das Ocean Hotel der Sitz eines Debattierclubs, in dem jedermann die Zügel schießen und seine wildesten Spekulationen über die Geheimnisse, die Charlie umgaben, äußern konnte – frei vom Zwang der beruflichen Vorsicht und Sorgfalt, der den Wissenschaftlern während der Arbeit auferlegt war.
Caldwell wußte natürlich genau darüber Bescheid, wer im Ocean Hotel was gesagt und was die anderen dazu gemeint hatten. Lyn Garland war bei den meisten Diskussionen dabei, und sie pflegte einen heißen Draht zur Navkomm-Zentrale. Niemand kümmerte das sonderlich – schließlich gehörte es zu ihrem Job. Und sie hatten erst recht nichts dagegen, als sie mit einigen anderen Mädchen von Navkomm im Schlepptau auftauchte und so den Diskussionsabenden eine Partyatmosphäre verschaffte. Bei den Besuchern, die von außerhalb der Stadt kamen, fand diese Neuerung allgemeine Zustimmung. Bei den paar Ortsansässigen jedoch führte es zu gewissen familiären Unstimmigkeiten.
Hunt betätigte eine letzte Schaltung auf der Tastatur und lehnte sich zurück, um das Bild der vollständigen Seite zu betrachten. „Gar nicht schlecht“, meinte er. „Diese hier hat kaum noch Strukturverbesserungen nötig.“
„Prima“, entgegnete Gray. Er zündete sich eine Zigarette an und warf, ohne daß Hunt ihn darum gebeten hätte, die Packung herüber. „Die optische Entschlüsselung ist beendet“, fügte er hinzu und starrte auf den Bildschirm. „Nummer siebenundsechzig ist ebenfalls stabilisiert.“ Er erhob sich aus seinem Sessel und trat an Hunts Konsole heran, um das Bild im Betrachtungsterminal näher in Augenschein zu nehmen. Eine Zeitlang betrachtete er es schweigend.
„Zahlenkolonnen“, stellte er schließlich überflüssigerweise fest. „Sieht nach einer Liste oder etwas in der Art aus.“
„Sieht danach aus…“ Hunts Stimme klang so, als käme sie aus weiter Ferne.
„Mmm… Reihen und Spalten… dicke und dünne Linien… könnte alles mögliche sein – eine Entfernungstabelle, Meßdaten, eine Art Zeitplan. Wer weiß?“
Hunt antwortete nicht, sondern fuhr damit fort, gelegentliche Rauchwolken in Richtung Konsole zu blasen. Er legte den Kopf erst auf die eine und dann auf die andere Seite.
„Keine der Zahlen deutet großen Wert an“, stellte er nach einer Weile fest. „Nicht mehr als zwei Ziffern pro Position. Wieviel hat das im duodezimalen System zu bedeuten? Höchstens einhundertdreiundvierzig.“ Dann fügte er hinzu: „Ich frage mich, was wohl die größte Zahl ist.“
„Ich habe hier irgendwo eine Liste über die Dezimaläquivalente der lunarischen Ziffern. Soll ich’s mal versuchen?“
„Nein, machen Sie sich keine Umstände. Ist bald Zeit für’s Mittagessen. Vielleicht bei einem Bier heute abend im Hotel.“
„Ein oder zwei kommen mir bekannt vor“, sagte Gray. „Und… he! Wissen Sie was – sehen Sie sich mal die Kolonnen da rechts an, in den breiten Spalten. Die Werte steigen konstant an!“
„Sie haben recht. Und sehen Sie mal – das gleiche Muster wiederholt sich in den anderen Spalten. Scheint so ‘ne Art zyklische Anordnung zu sein.“ Hunt dachte einen Augenblick nach, runzelte in höchster Konzentration die Stirn. „Und noch etwas anderes – sehen Sie die alphabetischen Gruppen an den Seiten? Die gleichen Gruppen wiederholen sich in bestimmten Intervallen auf der ganzen Seite…“ Er unterbrach sich erneut.
Gray wartete vielleicht zehn Sekunden lang. „Was halten Sie davon?“
„Ich hab‘ keine blasse Ahnung… Zahlenkolonnen mit ständig zunehmendem Wert. Periodisch… ein alphabetisches Zeichen an der Seite jeder sich wiederholenden Zahlengruppe. Innerhalb von größeren Gruppen wiederholt sich diese Anordnung, und die größeren Gruppen wiederholen sich ebenfalls. Vielleicht eine bestimmte Einteilung, eine Sequenz…“
Sein Murmeln brach ab, als sich die Tür hinter ihnen öffnete. Lyn Garland trat ein.
„Hallo Jungs. Was liegt heute an?“ Sie trat zwischen die beiden und sah auf die Abbildung. „Oho, Tabellen! Wie aufregend. Wo stammen sie her, aus dem Buch?“
„Hallo, Schätzchen“, sagte Gray grinsend. Er nickte in Richtung des Abtasters. „Richtig.“
„Hallo“, sagte auch Hunt, als er endlich den Blick vom Bild wenden konnte. „Was können wir für Sie tun?“
Sie antwortete nicht sofort, sondern starrte weiter auf den Betrachtungsterminal.
„Was bedeuten diese Zahlenkolonnen? Habt ihr eine Vermutung?“
„Bis jetzt wissen wir’s noch nicht. Wir haben gerade darüber gesprochen, als Sie hereinkamen.“
Sie marschierte durch das Labor und beugte sich über den Abtaster. Ihre wohlgeformten Beine und das prächtige Hinterteil unter ihrem dünnen Rock entlockten den beiden Wissenschaftlern anerkennende Blicke. Dann kehrte sie wieder zurück und betrachtete erneut das Abbild der Buchseite.
„Sieht wie ein Kalender aus, wenn Sie mich fragen“, meinte sie. Ihr Tonfall schloß jede andere Deutung aus.
Gray lachte. „Ein Kalender? Sie scheinen sich ja ziemlich sicher zu sein. Was soll das? Eine Demonstration der unfehlbaren weiblichen Intuition oder was?“ Es war nur scherzhaft gemeint.
Sie drehte sich um und sah ihn mit vorgeschobenem Kinn und in die Hüften gestemmten Armen an. „Hören Sie mal, Sie Insulaner… ich habe ein Recht auf eine eigene Meinung , nicht wahr? Ich finde nun mal, daß es wie ein Kalender aussieht. Das ist meine Meinung.“
„Okay, okay.“ Gray hob die Hände. „Wir wollen den Unabhängigkeitskrieg schließlich nicht neu auflegen. Ich werde eine Aktennotiz machen: ‚Lyn ist der Meinung, daß…“
„Gütiger Himmel!“ Hunt unterbrach ihn mitten im Satz. „Wissen Sie, daß sie recht haben könnte? Sie könnte verdammt recht haben!“
Gray drehte sich zum Betrachtungsterminal um. „Wieso?“
„Nun, sehen Sie sich’s mal an. Die größeren Gruppen könnten so etwas wie Monate sein – und die periodischen Positionen im Innern Wochen, die in Tage aufgeteilt sind. Schließlich sind Tage und Jahre unabdingbare Bestandteile eines jeden Kalenders. Sehen Sie, was ich meine?“
Gray sah skeptisch drein. „Ich bin mir nicht sicher“, sagte er langsam. „Scheint mit unserem Jahr nicht viel Ähnlichkeit zu haben, nicht wahr? Ich meine, da sind doch eine Menge mehr als dreihundertfünfundsechzig Zeichen in einer Gruppe, mehr als zwölf Monate, oder was das darstellen soll… oder nicht?“
„Ich weiß. Interessant, was?“
„He! Ich bin auch noch da“, meldete sich eine dünne Stimme hinter ihnen. Sie traten beiseite, um Lyn ebenfalls einen Blick auf die Abbildung zu gestatten.
„Entschuldigung“, sagte Hunt. „Ich war zu überrascht.“ Er schüttelte den Kopf und mustere sie mit einem ungläubigen Gesichtsausdruck. „Wie, zum Teufel, kamen Sie auf die Idee, es könne ein Kalender sein?“
Sie zuckte mit den Achseln und schürzte die Lippen. „Keine Ahnung, wirklich nicht. Das Buch da drüben sieht wie ein Tagebuch aus. Und jedes Tagebuch, das ich bisher gesehen habe, enthielt auch einen Kalender. Also muß es ein Kalender sein.“
Hunt seufzte. „Eine überaus wissenschaftliche Methode. Nun ja, wir werden auf jeden Fall mal eine Kopie anfertigen. Dann kann ich mir die Sache später noch mal genauer ansehen.“ Er sah Lyn an. „Nein, Kommando zurück. Sie werden die Kopie anfertigen. Schließlich ist es Ihre Entdeckung.“
Sie runzelte argwöhnisch die Stirn. „Was soll ich denn machen?“
„Setzen Sie sich dort an die Hauptkonsole. Genau richtig, ja. Schalten Sie jetzt die Kontrolltafel ein… die rote Taste da… genau die.“
„Und was jetzt?“
„Tippen Sie folgendes ein: FK Komma DAZUSB sieben Strich PCH Punkt siebenundsechzig Strich KOP eins. Das bedeutet: ‚Funktions-Kontrollmodus über Datenzugriffs-Subsystemblock Nummer sieben; Quellendatenspeicher Projekt Charlie, erstes Buch, Seite siebenundsechzig, optische Anzeige auf Schreibwerk, eine Kopie‘.“
„Ja? Im Ernst? Ist ja großartig!“
Sie tastete die Operationsbefehle ein, als Hunt sie ein ganzes Stück langsamer wiederholte. Sofort begann das Schreibwerk, das sich direkt neben dem Abtaster befand, zu summen. Ein paar Sekunden später flatterte ein Glanzpapierblatt in den Auswurfkasten an der Seite. Gray schritt hinüber und nahm es heraus.
„Alles klar“, bestätigte er.
„Jetzt bin ich also auch ein Skop-Experte“, vermeldete Lyn heiter.
Hunt warf einen flüchtigen Blick auf das Blatt, nickte und schob es dann in seine Aktentasche, die er auf der Konsole abgelegt hatte.
„Für die Hausaufgaben?“ erkundigte sich Lyn.
„Nee, mir gefällt die Tapete in meinem Hotelzimmer nicht.“
„Die Relativitätstheorie bedeckt das ganze Schlafzimmer seiner Wohnung drüben in Wokingham“, vertraute ihr Gray an, „…und Schröders Theorie der Wellenmechanik klebt in der Küche.“
Mit einem sonderbaren Ausdruck musterte sie die beiden Männer. „Wißt ihr, daß ihr spinnt? Beide. Ihr seid beide nicht ganz dicht. Bisher bin ich immer zu höflich gewesen, um das zu erwähnen, aber irgend jemand muß es euch mal sagen.“
Hunt sah sie ernst an. „Sie sind doch bestimmt nicht den ganzen Weg heruntergekommen, um uns zu sagen, daß wir verrückt sind?“, meinte er.
„Wissen Sie was? Sie haben sogar recht. Heute morgen ist eine interessante Neuigkeit eingetroffen, und da ich sowieso hierherkommen mußte, dachte ich, das wird Sie vielleicht interessieren. Gregg hat mit den Sowjets gesprochen. Eines ihrer Materialforschungs-Labors hat ein offensichtlich recht merkwürdiges Metallstück untersucht. Eine Legierung, die einige bisher für unmöglich gehaltene Eigenschaften aufweist. Und jetzt kommt die Hauptsache: Sie haben das Metallstück auf dem Mond gefunden, irgendwo in der Nähe des Mare Imbrium. Und als sie einige Altersbestimmungstests durchführten, stellte sich heraus, daß es ungefähr fünfzigtausend Jahre alt ist! Na, was sagen Sie dazu! Interessant, was?“
Gray pfiff durch die Zähne.
„Es war nur eine Frage der Zeit, wann irgend etwas anderes entdeckt werden würde“, entgegnete Hunt und nickte. „Kennen Sie die Einzelheiten?“
Sie schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Aber ein paar von den Burschen werden sicherlich in der Lage sein, Ihnen heute abend im Hotel etwas darüber zu erzählen. Sprechen Sie mal mit Hans, wenn er da ist; er hat sich in dieser Sache heute morgen lange mit Gregg unterhalten.“
Hunt war mehr als neugierig, doch er entschied, daß sie noch genügend Zeit haben würden, sich damit zu beschäftigen.
„Wie geht’s Gregg?“ fragte er. „Hat er kürzlich einmal zu lächeln versucht?“
„Werden Sie nicht unverschämt“, wies ihn Lyn zurecht. „Gregg ist in Ordnung. Er ist nur beschäftigt, das ist alles. Oder glauben Sie, daß er vor diesem Projekt auf der faulen Haut gelegen hat?“
Hunt wollte sich darüber nicht streiten. In den vergangenen Wochen hatte er viele Beweise des gewaltigen Nachrichtenverkehrs mit der ganzen Welt gesehen, für den Caldwell sich verantwortlich zeichnete. Fast gegen seinen Willen war er von dem Organisationstalent des Direktors und seiner erbarmungslosen Tüchtigkeit bei der Ausschaltung möglicher Rivalen beeindruckt. Was einige andere Dinge anbelangte, hatte Hunt ganz entschiedene Einwände gegen Caldwell.
„Was macht er denn die ganze Zeit?“ fragte er. Sein Tonfall war neutral. Den feinen und geschärften Sinnen des Mädchens entging das nicht. Ihre Augen zogen sich fast unmerklich zusammen.
„Nun, Sie haben das meiste von dem gesehen, was hier los ist. Was glauben Sie, was er macht?“
Er versuchte der Auseinandersetzung auszuweichen, die aufgrund ihrer vorsichtigen Gegenfrage drohte.
„Geht mich ja auch nichts an, nicht wahr? Wir sind schließlich in dieser ganzen Angelegenheit nur die Knöpfedrücker.“
„Nein, ernsthaft… es interessiert mich wirklich. Was meinen Sie?“
Umständlich drückte Hunt seine Zigarette aus. Dann runzelte er die Stirn und kratzte sich am Kopf.
„Sie haben ebenfalls das Recht auf eine eigene Meinung“, beharrte sie. „Das steht in unserer Verfassung, also, wie lautet Ihre Meinung?“
Es gab weder eine Lücke, durch die er hindurchschlüpfen konnte, noch vermochte er dem Blick ihrer großen braunen Augen auszuweichen.
„Alle Untersuchungsergebnisse werden nach oben weitergegeben“, gab er schließlich nach. „Das Fußvolk verrichtet munter seine Arbeit…“ Er ließ das Ende offen.
„Aber…?“
„Aber… die Auswertung. Die Art und Weise, in der die großen Köpfe weiter oben die gewonnenen Informationen verwenden, ist zu dogmatisch, zu unbeweglich. Es kommt einem so vor, als könnten sie nicht die Grenzen der überlieferten Lehrmeinung überschreiten, in denen sie sich jahrelang bewegt haben. Vielleicht sind sie überspezialisiert. Vielleicht lehnen sie auch von vornherein alles ab, was nicht in die Schemata paßt, an die sie immer geglaubt haben.“
„Zum Beispiel?“
„Hm, ich weiß nicht… nehmen wir nur einmal Danchekker. Sein ganzes Leben lang hat er wahrscheinlich die orthodoxe Evolutionstheorie als ehernes Gesetz betrachtet, und deshalb muß Charlie von der Erde stammen. Etwas anderes ist nicht möglich. Die Lehrmeinung muß richtig sein, also werden neue Informationen so behandelt, daß sie ins Bild passen.“
„Glauben Sie, daß er unrecht hat? Daß Charlie von einem anderen Planeten kommt?“
„Verdammt, ich hab‘ keine Ahnung. Vielleicht hat er recht. Es ist ja auch nicht seine Behauptung, die ich ablehne, es ist nur die Art und Weise, wie er sie verkauft. Man muß wesentlich flexibler vorgehen, um diese Fragen zu klären.“
Lyn nickte sich langsam selbst zu, als hätte Hunt etwas Richtiges festgestellt. „Ich habe vermutet, daß Sie etwas in der Art sagen würden“, meinte sie. „Es wird auch Gregg interessieren. Er macht sich über die gleiche Sache Gedanken.“
Hunt hatte den Eindruck, daß ihre Fragen mehr als nur eine zufällige Gesprächswendung gewesen waren. Er musterte sie lange und eingehend.
„Warum sollte sich Gregg für so etwas interessieren?“
„Oh, Sie würden überrascht sein. Gregg weiß eine Menge über Sie beide. Er interessiert sich für jedes Wort, das irgend jemand sagt. Die Menschen sind’s, die ihn interessieren. Er ist ein Genie, wenn es darum geht, mit Menschen umzugehen. Er weiß, wie man sie dazu bringt, gut zu arbeiten. Das ist der Hauptbestandteil seines Berufes.“
„Nun, das Problem sind ja gerade die Leute“, sagte Hunt. „Warum bringt er es nicht in Ordnung?“
Plötzlich kehrte Lyns gute Laune zurück, und ihr Gesicht erhellte sich wieder, als hätte sie jetzt all das in Erfahrung gebracht, was sie hatte wissen wollen.
„Oh, das wird er – wenn er der Meinung ist, daß die Zeit dafür gekommen ist. Das richtige Timing ist auch eine seiner Stärken.“ Sie entschloß sich dazu, dieses Thema nun ganz fallenzulassen. „Wie dem auch ist, es ist Zeit für’s Mittagessen.“ Sie erhob sich und hakte sich bei Hunt und Gray ein. „Was halten zwei verrückte Insulaner davon, ein armes Mädchen aus den Kolonien zu einem Drink einzuladen?“
8
Im Hauptversammlungssaal der Navkomm-Zentrale tagte bereits seit mehr als zwei Stunden eine Konferenz, die sich mit den bisherigen Ergebnissen der Forschung auseinandersetzte. Ungefähr zwei Dutzend Personen saßen oder räkelten sich an dem langen Tisch in der Mitte des Raumes, auf dem ein Durcheinander von Aktenstapeln, Papieren, überquellenden Aschenbechern und halbleeren Gläsern herrschte.
Bisher war nicht wirklich Aufregendes entdeckt worden. Die verschiedenen Redner hatten über die Ergebnisse ihrer jeweiligen Untersuchungen gesprochen, die alle in der Erkenntnis gipfelten, daß Blutkreislauf, Lungen, Nerven, endokrine Drüsen, Lymphgefäße, Verdauungstrakt und all der anderen Körperbestandteile, die einem in den Sinn kommen mochten, genauso normal wie die der an diesem Tisch versammelten Personen waren. Charlies Skelettaufbau glich dem eines Menschen, seine Körperchemie ebenfalls, und selbst seine Blutgruppe war nicht unbekannt. Volumen und Entfaltung des Hirns entsprachen den Normalwerten eines Homo sapiens, und einige Anzeichen deuteten darauf hin, daß er Rechtshänder gewesen war. Der genetische Code seiner Fortpflanzungszellen war analysiert worden. Eine Computersimulation hatte bestätigt, daß aus einer Verbindung dieses Codes mit dem einer durchschnittlichen irdischen Frau ein völlig normalentwickelter Mensch hervorgehen würde.
Während des ganzen Diskussionsverlaufs verhielt Hunt sich als passiver Beobachter, der sich durchaus seiner Stellung als inoffizieller Gast bewußt war und sich von Zeit zu Zeit fragte, warum man ihn überhaupt eingeladen hatte. Nur ein einziges Mal war ihm bisher Beachtung geschenkt worden, und zwar als Caldwell in seiner Eröffnungsrede der unschätzbaren Hilfe, die das Trimagniskop bei den Forschungsarbeiten geleistet hatte, seinen Tribut zollte. Abgesehen von dem Gemurmel, das auf diesen Kommentar gefolgt war, war keine weitere Bemerkung über das Instrument oder seinen Erfinder gemacht worden. Lyn Garland hatte ihm gesagt: „Die Tagung findet am Montag statt, und Gregg wünscht, daß Sie zugegen sind, um einige Fachfragen zum Skop zu beantworten.“ Hier war er also. Aber bisher hatte niemand etwas über das Skop in Erfahrung bringen wollen – nur über die Daten, die es besorgte. Er hatte das unangenehme Gefühl, daß der wirkliche Grund für seine Einladung ein ganz anderer war.
Nachdem man sich mit Charlies computermäßigem und mathematisierten Innenleben beschäftigt hatte, wandte sich die Versammlung einer neuen Theorie zu. Ein texanischer Planetologe, der Hunt gegenübersaß, äußerte die Vermutung, die Lunarier stammten womöglich vom Mars. Der Mars hatte eine längere planetare Evolution als die Erde hinter sich und möglicherweise früher ebenfalls Leben hervorgebracht. Der These folgten dann die Beweise. Die Marsforschung reichte bis in die siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zurück; jahrelang hatte die UNWO seine Oberfläche mit Satelliten und von bemannten Basen aus untersucht. Warum aber waren dabei keine Anzeichen der lunarischen Zivilisation entdeckt worden? Antwort: den Mond kennen wir schon ein ordentliches Stück länger, und doch sind wir erst jetzt auf die Spuren der Lunarier gestoßen. Also könne man davon ausgehen, daß ihre Hinterlassenschaften auf dem Mars erst später gefunden werden. Einwand: Wenn sie vom Mars kommen, dann muß sich ihre Zivilisation auch dort entwickelt haben. Die Überbleibsel einer ganzen Zivilisation aber sollten wesentlich leichter auszumachen sein als die Spuren von Besuchen auf anderen Himmelskörpern wie dem Erdmond – und deshalb hätten Hinweise auf die Lunarier auf dem Mars wesentlich früher entdeckt werden müssen. Antwort: Man muß die starke Erosion auf der Marsoberfläche berücksichtigen. Ihre Hinterlassenschaften könnten längst zerfallen oder unter dem Sand begraben sein. Zumindest könnte das erklären, warum man auf der Erde nichts gefunden hatte. Dann machte jemand deutlich, daß diese Theorie das Problem nicht löste, sondern nur auf einen anderen Ort verlagerte. Wenn die Lunarier wirklich vom Mars stammten, dann saß die Lehrmeinung über die Evolution genauso in der Klemme.
Also ging die Diskussion weiter.
Hunt fragte sich, wie Rob Gray drüben in Westwood zurechtkam. Sie mußten nun ein Untersuchungsprogramm in die alltägliche Datensammlungsroutine integrieren. Vor ungefähr einer Woche hatte Caldwell sie davon in Kenntnis gesetzt, daß er es gerne sähe, wenn vier Navkomm-Techniker als Trimagniskop-Operateure ausgebildet würden. Seine Erklärung, daß damit ein Betrieb rund um die Uhr ermöglicht und höhere Produktivität erreicht würde, hatte Hunt nicht überzeugt. Auch nicht die Behauptung, daß Navkomm die Absicht habe, selbst einige dieser Instrumente zu erstehen. Vorher wollte man aber, solange noch die Möglichkeit bestand, eine hausinterne Expertise erarbeiten lassen.
Vielleicht beabsichtigte Caldwell, Navkomm in der Skop-Bedienung unabhängig und selbständig zu machen. Aber warum? Übte Forsyth-Scott oder jemand anders Druck auf ihn aus, um Hunt nach England zurückzuholen? Wenn dies das Vorspiel zu seiner Abreise war, dann würde das Skop sicher in Houston verbleiben. Das bedeutete, daß er, war er erst wieder drüben, Tag und Nacht würde arbeiten müssen, um einen zweiten, funktionierenden Prototyp zu bauen. Mist auch!
Die Versammlung kam schließlich zu dem Schluß, daß die Theorie über die Marsherkunft mehr Probleme aufwarf als sie löste und sowieso nur reine Spekulation war. Die rituellen Worte „Also keine unumstößlichen Anhaltspunkte“ wurden laut, und Charlies Leiche wurde mit der Grabinschrift unerledigt, die jedermann am Tisch unter der Rubrik „Weitere Maßnahmen“ in die Arbeitsplanungstabellen eintrug, zur Seite gelegt.
Dann hielt ein Kryptologe einen ausufernden Vortrag über die Zeichen- und Symbolgruppen, auf die man in Charlies Papieren gestoßen war. Eine erste, einleitende Durchsicht dieser Papiere, des Inhalts der Brieftasche und eines der Bücher war bereits abgeschlossen; die zweite, gründlichere, war schon weit fortgeschritten. Man hatte eine Menge Tabellen entdeckt, über deren Bedeutung aber noch niemand etwas zu sagen vermochte; auf eine Art von speziell strukturierten Symbollinien, die an mathematische Formeln erinnerten; auf gewisse Seiten- und Abschnittsüberschriften, deren Stichworte sich im Text selbst wiederholten. Einige Symbolgruppen wiederholten sich oft, andere weniger; einige waren nur auf ein paar Seiten anzutreffen, während andere auf fast allen Seiten des Buches auftauchten. Eine Menge Zahlenkolonnen und Statistiken waren ausfindig gemacht worden. Trotz der Lebhaftigkeit des Redners intensivierte sich die Niedergeschlagenheit unter den Anwesenden. Sie wußten alle, daß er ein fähiger Kopf war, und wünschten, er hätte ihnen dies nicht ständig so deutlich vor Augen geführt.
Danchekker hatte sich während der meisten Vorträge erstaunlich zurückgehalten. Nun aber, da sie kein Ende zu nehmen schienen, wurde er immer unruhiger und machte Anstalten, sich von seinem Stuhl zu erheben und das Wort an die Versammlung zu richten. Er stand auf, knöpfte seine Jacke zu und räusperte sich. „Wir haben jetzt wirklich genug Zeit damit zugebracht, unwahrscheinliche und phantastische Vermutungen zu untersuchen, die sich, wie sich herausgestellt hat, als irreführend erwiesen haben.“ Er sprach ohne falsche Scheu und unterstrich seine Ausführungen mit Gesten, die alle am Tisch Sitzenden mit einschlossen. „Es wird höchste Zeit, meine Damen und Herren, uns von diesem Unsinn zu lösen und unsere Aufmerksamkeit auf das zu konzentrieren, was die einzig richtige Schlußfolgerung sein kann. Ich stelle kategorisch fest, daß die Spezies, die wir inzwischen alle Lunarier zu nennen belieben, hier entstanden ist, auf der Erde, so wie wir. Vergessen Sie alle die Hirngespinste über Besucher von anderen Welten, interstellare Reisende und was der Dinge mehr sind. Die Lunarier gehörten einer Zivilisation an, die hier auf unserem eigenen Planeten entstanden und aus Gründen, die wir noch herausfinden müssen, untergegangen ist. Was ist daran so ungewöhnlich? In der Zeitspanne, die unsere eigene Geschichte umfaßt, sind etliche Zivilisationen aufgestiegen und wieder untergegangen, und es gibt keinen Zweifel daran, daß dies auch in der Zukunft so sein wird. Diese Schlußfolgerung basiert auf umfassendem, folgerichtig aufgebautem Beweismaterial und berücksichtigt die außer jedem Zweifel stehenden Prinzipien und Gesetze der verschiedenen Naturwissenschaften. Sie erfordert keine weiteren ungesicherten Annahmen, Vermutungen oder Hypothesen, sondern leitet sich direkt aus unumstrittenen Tatsachen und der einfachen Verwendung allgemein anerkannter Logik ab.“ Er legte eine kurze Pause ein und ließ seinen Blick über die Zuhörer gleiten, um Kommentare herauszufordern.
Niemand sagte ein Wort. Alle kannten bereits seine Argumente. Danchekker jedoch schien die Absicht zu hegen, alles noch einmal durchzukauen. Offensichtlich war er zu dem Schluß gekommen, daß die Versuche, sie mittels eines Appells an die Vernunft das auf der Hand Liegende erkennen zu lassen, allein nicht ausreichten. Also blieb ihm nur die ständige, beharrliche Wiederholung, bis sie entweder begriffen oder durchdrehten.
Hunt lehnte sich auf seinem Stuhl zurück, entnahm der vor ihm auf dem Tisch liegenden Schachtel eine Zigarette und legte seinen Kugelschreiber auf den Block. Er hatte immer noch Vorbehalte gegen die dogmatische Einstellung des Professors, aber er war sich auch darüber im klaren, daß nur sehr wenige lebende Personen es mit der Breite von Danchekkers wissenschaftlicher Qualifikation aufnehmen konnten. Außerdem war dies nicht Hunts Gebiet. Sein Haupteinwand ging in eine andere Richtung. Er akzeptierte die darin enthaltene Wahrheit aus sich selbst heraus und war nicht so dumm, sie verstandesmäßig erklären zu wollen. Alles an Danchekker irritierte ihn. Danchekker war zu hager; seine Kleidung war zu altmodisch – sie sah an ihm aus, als hätte er sie gerade zum Trocknen aufgehängt. Seine anachronistische, goldgeränderte Brille wirkte einfach lächerlich. Seine Ausdrucksweise war zu steif. Wahrscheinlich hatte er in seinem ganzen Leben noch nie gelacht. Ein in Haut vakuumverpackter Schädel, sagte sich Hunt.
„Ich darf noch einmal kurz wiederholen“, fuhr Danchekker fort. „Homo sapiens – der moderne Mensch – gehört zur Gruppe der Wirbeltiere. Wie auch alle Säugetiere, Fische, Vögel, Amphibien und Reptilien, die jemals in irgendeinem Winkel der Erde umherspazierten, krochen, flogen, glitten oder schwammen. Alle Wirbeltiere haben ein bestimmtes architektonisches Grundmuster gemeinsam, das sich trotz der äußerlichen, spezialisierten Anpassung, die auf den ersten Blick eine Gliederung in unzählige unterschiedliche Arten hindeutet, über Jahrmillionen unverändert erhalten hat.
Diese Grundmerkmale, die alle Wirbeltiere gemeinsam haben, sind folgende: ein inneres Skelett aus Knochen und/oder Knorpeln und ein Rückgrat. Das Rückgrat weist zwei Paare von Anhängseln auf, die entweder hoch entwickelt oder degeneriert sind und als Schwanz bezeichnet werden. Ein Wirbeltier besitzt ein abdominal gelegenes Herz, das in zwei oder mehr Kammern aufgeteilt ist, und einen geschlossenen Kreislauf, in dem Blut zirkuliert. Das wiederum besteht aus roten Zellen, in denen Hämoglobin enthalten ist. Es verfügt über einen dorsalen Nervenstrang, der sich an dem einen Ende in ein fünffach unterteiltes Hirn verwandelt, das im Kopf untergebracht ist. Es weist auch eine Bauchhöhle auf, die den größten Teil der lebenswichtigen Organe sowie den Verdauungstrakt enthält. Bei allen Wirbeltieren sind diese Merkmale anzutreffen, und deshalb sind sie miteinander verwandt.“
Der Professor hielt inne und sah sich um, als mache diese Feststellung weitere Ausführungen unnötig. „Mit anderen Worten: Charlies ganze Körperstruktur beweist, daß er mit den unzähligen unterschiedlichen Tierarten, die ausgestorben sind, heute existieren und morgen entstehen werden, direkt verwandt ist. Überdies kann die Erbfolge aller irdischen Wirbeltiere, uns und Charlie eingeschlossen, auf eine ununterbrochene Aufeinanderfolge von Fossilien zurückgeführt werden, die ihren gleichen Aufbau alle von einem gemeinsamen frühen Vorfahren übernommen haben“, Danchekkers Stimme schwoll zu einem Crescendo an, „nämlich dem ersten mit Gräten ausgestatteten Fisch, der in den Ozeanen des Devons im Paläozoikum vor über vierhundert Millionen Jahren auftauchte!“ Er hielt inne, um Atem zu holen, und fuhr dann fort: „Charlie ist genauso menschlich wie Sie und ich, in jeder Hinsicht. Kann es auch nur den geringsten Zweifel geben, daß er nicht nur die Merkmale der Wirbeltiere, sondern auch die Vorfahren mit uns gemeinsam hat? Und wenn er die gleichen Vorfahren wie wir hat, dann ist auch sicher, daß seine Art am gleichen Ort entstanden ist. Charlie stammt vom Planeten Erde.“
Danchekker setzte sich und schenkte sich ein Glas Wasser ein. Ein Durcheinander aus murmelnden und brummenden Stimmen setzte an, aus dem sich das Papierrascheln und Gläserklirren heraushob. Hier und dort knarrten Stühle, als verkrampfte Glieder gereckt wurden. Eine Metallurgin am Ende des Tisches redete lebhaft auf ihren Nachbarn ein. Der Mann zuckte mit den Achseln, hob seine leeren Hände und nickte in Richtung Professor Danchekkers. Sie wandte sich um und rief den Professor an.
„Professor Danchekkker… Professor!“ Sie verschaffte sich lautstark Gehör. Das Murmeln erstarb, Danchekker sah auf. „Wir werden uns über ein Problem nicht einig… vielleicht fällt Ihnen dazu etwas ein. Warum könnte Charlie keiner parallelen evolutionären Linie entstammen, die sich woanders entwickelt hat?“
„Das frage ich mich auch“, bestätigte eine andere Stimme.
Danchekker runzelte für einen Augenblick die Stirn, bevor er zur Antwort ansetzte.
„Nun, Sie übersehen die Tatsache, daß der evolutionäre Prozeß vollständig auf Zufällen beruht. Jeder lebende Organismus, der heute existiert, ist das Produkt einer sich über Jahrmillionen erstreckenden Kette aus aufeinanderfolgenden Mutationen. Als bedeutendster Faktor muß man sich dabei vor Augen halten, daß jede einzelne Mutation allein sich schon rein zufällig ereignet hat: ausgelöst durch Aberrationen im genetischen Code und durch Mischung zweier verschiedener Erbmassen infolge der Zeugung. Die Umwelt, in die der Mutant hineingeboren wird, diktiert, ob er überlebt und sich reproduzieren kann oder aber stirbt. Auf diese Weise setzen sich manche genetische Neuerungen durch, andere hingegen werden sofort ausgetilgt oder aber durch wiederholte Kreuzungen verwässert.
Es mag einige Leute geben, für die es schwierig ist, dieses Prinzip zu begreifen – hauptsächlich, vermute ich, weil sie nicht in der Lage sind, sich das Ausmaß der Kombinationsmöglichkeiten und die langen Zeiträume, die der Evolution zur Verfügung stehen, plastisch vor Augen zu führen. Ich möchte noch einmal betonen, daß wir hier über Milliarden und aber Milliarden unterschiedlicher Kombinationen sprechen, die im Laufe der Jahrmillionen entstehen.
Bei einem Schachspiel kann man zu Beginn zwischen zwanzig möglichen Spielzügen entscheiden. Bei jedem Zug ist die Entscheidungsfreiheit des Spielers eingeschränkt, und trotzdem ist die Anzahl der möglichen Konstellationen nach nur zehn Zügen astronomisch hoch. Stellen Sie sich einmal die Permutationen vor, die nach einer Milliarde Züge entstehen, wenn dem Spieler bei jedem Zug auch noch eine Milliarde Möglichkeiten offenstehen. Dann wissen Sie, wie die Evolution abläuft. Zu glauben, daß zwei verschiedene Schachbretter nach einem Spiel unter solchen Bedingungen zum Schluß genau die gleiche Figuren-Konstellation aufweisen, erfordert ein bißchen zuviel Leichtgläubigkeit. Die Gesetze der statistischen Wahrscheinlichkeit sind unnachgiebig, wenn eine hinreichend große Anzahl von Einzelelementen existiert. Die Gesetze der Thermodynamik zum Beispiel sind nichts anderes als Beschreibungen des wahrscheinlichsten Verhaltens der Luftmoleküle. Dabei geht es jedoch um gigantische Zahlenwerte, die uns dazu zwingen, uns darauf zu verlassen, daß sie sich den postulierten Regeln entsprechend verhalten – eine größere Abweichung davon konnte bisher noch nicht beobachtet werden. Die Wahrscheinlichkeit einer parallelen evolutionären Entwicklung, von der Sie sprachen, ist geringer als die, daß die Wärme plötzlich vom Kessel zum Feuer anstatt umgekehrt strömte oder daß alle Luftmoleküle in diesem Raum sich zur gleichen Zeit in einer Ecke konzentrierten, was unsere Körper spontan detonieren lassen würde. Rein mathematisch betrachtet ist die Möglichkeit einer Parallelentwicklung gegeben, aber die Wahrscheinlichkeit dafür ist so unbeschreiblich gering, daß wir diesen Punkt nicht weiter zu verfolgen brauchen.“
Ein junger Elektroniker hakte an dieser Stelle ein.
„Und wenn sich Gott einschaltet?“ fragte er. „Oder zumindest eine Art lenkende Kraft oder Prinzip, das wir noch nicht verstehen? Könnten dann nicht zwei verschiedene Entwicklungslinien an zwei verschiedenen Orten zum gleichen Ergebnis führen?“
Danchekker schüttelte den Kopf und lächelte fast wohlwollend.
„Wir sind Wissenschaftler, keine Priester“, entgegnete er. „Eines der fundamentalsten Prinzipien der wissenschaftlichen Methode besteht darin, daß neue und spektakuläre Hypothesen so lange nicht als begründet gelten, wie die Behauptungen, die sie enthalten, im Widerspruch zu bereits bestehenden und bewiesenen Theorien stehen. Generationen von Forschern haben nichts entdeckt, das einer universellen, lenkenden Kraft ähnlich wäre. Und da die durch Untersuchungen ermittelten Fakten durchaus mit den Prinzipien naturgesetzlicher Vorgänge, die ich bereits umrissen habe, zu erklären sind, besteht auch keine Notwendigkeit, eine andere Ursache zu beschwören oder zu erfinden. Die Vorstellung eines lenkenden Geistes oder eines einheitlichen Schöpfungsplans existiert nur im Kopf eines irregeleiteten Beobachters. Unter den Dingen, die er sieht, befindet sich kein Hinweis darauf.“
„Aber angenommen, es stellt sich heraus, daß Charlie von einem anderen Ort kommt“, beharrte die Metallurgin. „Was dann?“
„Ah! Nun, das wäre eine völlig andere Sache. Wenn durch einige Anhaltspunkte schlüssig bewiesen würde, daß sich Charlies Rasse tatsächlich an einem anderen Ort als der Erde entwickelte, dann wären wir zu der Einsicht gezwungen, daß die evolutionäre Parallelentwicklung ein außer Zweifel stehendes Faktum ist. Da dies nicht mittels des Gerüstwerks unserer gegenwärtigen Theorien erklärt werden könnte, hätten sich unsere Theorien als jämmerlich unzureichend erwiesen. Das wäre der Zeitpunkt, über andere Fakten zu spekulieren, die zu einem solchen Ergebnis beigetragen haben. Vielleicht könnte dann Ihre universelle lenkende Kraft ihren rechten Platz einnehmen. So etwas im derzeitigen Stadium schon in Betracht zu ziehen, hieße jedoch, das Pferd am Schwanz aufzuzäumen. Damit würden wir uns eines Verstoßes gegen die wichtigsten Regeln und Prinzipien wissenschaftlicher Arbeit schuldig machen.“
Jemand versuchte, den Professor aus einer anderen Richtung anzugreifen.
„Wie steht’s mit konvergierenden anstatt parallel verlaufenden Entwicklungslinien? Vielleicht funktionieren die Ausleseregeln in einer Art und Weise, die verschiedene Evolutionsstränge schließlich zu einem Punkt zusammenführt, der ein optimales Endprodukt darstellt. Mit anderen Worten: Obgleich die Linien an verschiedenen Punkten beginnen, führen sie schließlich zum gleichen perfekten Endprodukt. Wie…“ Er suchte nach einer Analogie. „So wie Haie Fische, Delphine aber Säugetiere sind. Beide entstammen völlig verschiedenen Entwicklungslinien, ähneln sich jedoch weitgehend, was die äußere Erscheinung betrifft.“
Wieder schüttelte Danchekker entschieden den Kopf. „Vergessen Sie die Vorstellung von Perfektionierung und optimalen Endprodukten“, sagte er. „Sie verfallen unbeabsichtigt dem Fehler, einen übergeordneten Schöpfungsplan anzunehmen. Die menschliche Gestalt ist nicht annähernd so perfekt, wie Sie vielleicht glauben. Die Natur bringt nicht die besten Lösungen hervor – sie sucht irgendeine Lösung. Die neue Form muß nur den einen Test bestehen – ob sie in der Lage ist, zu überleben und sich selbst zu reproduzieren. Viel mehr Spezies haben in diesem Punkt versagt und sind ausgestorben, anstatt sich weiterzuentwickeln – sehr sehr viel mehr. Es ist leicht zu glauben, das Endziel der Evolution sei die perfekte Lebensform, wenn man diese fundamentale Tatsache außer acht läßt. Wenn man aus dem Geäst des Evolutionsbaumes hinunterschaut und mit dem Hochmut der höchstentwickelten Lebensform eines besonders vitalen Astes die anderen verkümmerten Zweige betrachtet.
Nein, vergessen Sie die Vorstellung von Perfektionierung. Hinter den in der Natur ablaufenden Entwicklungen steht nur die Absicht, etwas hervorzubringen, das funktioniert, sprich überlebt. Und für gewöhnlich gibt es eine Menge denkbarer Alternativen, die genauso gut oder noch besser wären.
Nehmen Sie zum Beispiel das Kronenmuster des ersten unteren Backenzahns des Menschen. Es besteht aus einer Gruppe von fünf Haupthöckern und einem Komplex von Furchen und Rillen, die das Zerkleinern der Nahrung erleichtern. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dieses besondere Muster sei wirkungsvoller als jedes andere, das einem in den Sinn kommen könnte. Dieses besondere Muster tauchte jedenfalls bei irgendeinem unserer entfernten Vorfahren als Mutation auf und hat sich bis heute erhalten. Dasselbe Muster läßt sich auch an den Zähnen der Menschenaffen nachweisen. Und das läßt darauf schließen, daß es beide Spezies von dem gleichen frühen Vorfahren geerbt haben, bei dem diese Anordnung durch einen genetischen Zufall zuerst auftauchte.
Charlie hat auf allen seinen Zähnen menschliche Kronen.
Viele unserer Anpassungen sind weit davon entfernt, perfekt zu sein. Die Anordnung der inneren Organe läßt viel zu wünschen übrig und ist darauf zurückzuführen, daß eigentlich eine horizontale statt aufrechte Körperhaltung vorgesehen war. Was zum Beispiel unser Atmungssystem angeht, so können wir feststellen, daß Schmutz und Dreck, die sich in Kehl- und Nasenbereichen akkumulieren, nach innen anstatt nach außen filtriert werden, wie es ursprünglich einmal gewesen ist. Eine Hauptsache für viele Bronchial- und Lungenleiden, die bei vierbeinigen Tieren nicht vorkommen. Da kann man wohl kaum von Perfektion sprechen, oder?“
Danchekker trank einen Schluck Wasser und hob, an den ganzen Raum gerichtet, appellierend die Arme.
„Nun, wir haben also festgestellt, daß jede Vorstellung von Konvergenz gegenüber einem Ideal nicht auf Fakten beruht. Charlie weist ebenso unsere Fehler und Unzulänglichkeiten wie auch unsere Vorzüge auf. Nein, tut mir leid – ich erkenne an, daß diese Fragen in der guten alten Tradition gestellt worden sind, nicht eine Möglichkeit unberücksichtigt zu lassen, und ich danke Ihnen dafür, aber wir können dies alles wirklich fallenlassen.“
Stille breitete sich im Saal aus, als er seine Schlußworte beendet hatte. Jedermann schien nachdenklich durch den Tisch, die Wände oder die Decke zu starren.
Caldwell legte die Hände auf den Tisch und blickte sich um, bis er sicher war, daß niemand eine weitere Bemerkung von sich zu geben gedachte.
Sieht so aus, als sei die Evolutionstheorie unbeschadet aus dieser Schlacht hervorgegangen“, brummte er. „Ich danke Ihnen, Professor.“
Danchekker nickte, ohne aufzublicken.
„Der Sinn dieser Konferenz besteht jedoch darin“, fuhr Caldwell fort, „jedem die Möglichkeit zur freien Rede wie auch zum Zuhören einzuräumen. Einige hatten bisher noch nicht viel zu sagen – insbesondere ein oder zwei unserer Neulinge.“ Hunt stelle erschrocken fest, daß ihn Caldwell direkt ansah. „Unser englischer Gast zum Beispiel, den die meisten von Ihnen bereits kennen. Dr. Hunt, vielleicht können Sie uns etwas Wesentliches mitteilen…“
Lyn Garland, die neben Hunt saß, gab sich keine Mühe, ihr breites Lächeln zu verbergen. Hunt nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und nutzte diesen Aufschub, um seine Gedanken zu ordnen. In der Zeit, die er dazu benötigte, eine dicke, neblige Rauchwolke auszustoßen und die Asche abzustreifen, schalteten sich in seinem Hirn alle Verarbeitungskapazitäten mit der gleichen Präzision auf Bereitschaft, mit der die binären Regimenter durch die Speicher des Computers eine Etage tiefer paradierten. Lyns hartnäckiges Kreuzverhör, ihre Besuche im Hotel, seine Anwesenheit hier – Caldwell hatte einen Katalysator gefunden.
Hunt musterte die Reihen aufmerksamer Gesichter. „Das meiste von dem, was hier gesagt wurde, verschafft der überlieferten Lehrmeinung über vergleichende Anatomie und Evolutionstheorie Geltung. Um es gleich von vornherein festzustellen und mögliche Fehlinterpretationen gar nicht erst aufkommen zu lassen – ich beabsichtige auch gar nicht, sie in Frage zu stellen. Zusammenfassend ließe sich jedoch folgendes sagen: Da Charlie die gleichen Vorfahren hat wie wir, muß er sich ebenso wie wir auf der Erde entwickelt haben.“
„In der Tat“, warf Danchekker ein.
„Gut“, entgegnete Hunt. „Nun, dieses Problem betrifft in erster Linie Sie und nicht mich, aber da Sie mich nach meiner Meinung gefragt haben, möchte ich diese Schlußfolgerung ein wenig variieren. Wenn sich Charlies Art auf der Erde entwickelte, dann muß sich auch seine Zivilisation auf der Erde entwickelt haben. Das bedeutet, daß ihre Kultur genauso fortgeschritten war wie die unsrige, in ein oder zwei Punkten vielleicht sogar noch etwas fortgeschrittener. Normalerweise müßten wir also dauernd über Spuren dieser Leute stolpern. Das ist nicht der Fall. Warum nicht?“
Alle Köpfe wandten sich Danchekker zu.
Der Professor seufzte. „Die einzig mögliche Antwort auf diese Frage ist, daß alle Spuren, die sie hinterließen, durch die natürlichen Prozesse der Verwitterung und Erosion verwischt worden sind“, sagte er überdrüssig. „Es gibt verschiedene Möglichkeiten: Vielleicht hat irgendeine Katastrophe ihre Zivilisation in einem Ausmaß ausgelöscht, daß gar keine Spuren zurückblieben. Oder sie lebten in Regionen, die heute von den Ozeanen bedeckt sind. Künftige Untersuchungen werden diese Fragen ohne Zweifel klären.“
„Wenn sich in der jüngsten Vergangenheit der Erde tatsächlich eine so gewaltige Katastrophe ereignet hätte, dann wüßten wir davon“, argumentierte Hunt. „Und das meiste von dem, was damals Land war, ist auch heute noch Land; ich weiß also nicht, wie sie plötzlich in den Ozeanen verschwinden konnten. Außerdem müssen Sie sich nur einmal unsere Zivilisation ansehen um zu begreifen, daß sie sich nicht auf lokale Gebiete beschränkt – sie umfaßt den ganzen Erdball. Und warum hat niemand jemals auch nur einen einzigen Hinweis auf diese vermutete, technisch fortgeschrittene Kultur entdeckt, obwohl man keine Schwierigkeiten hatte, auf all das andere Zeugs aus jener Zeit – Knochen, Speere, Keulen – zu stoßen? Nicht eine Schraube oder ein verrosteter Draht oder ein Dichtungsring. Für mich ergibt das keinen Sinn.“
Intensives Gemurmel schloß sich an das Ende von Hunts Kritik an.
„Professor?“ Caldwells Aufforderung war in einem neutralen Tonfall gehalten.
Danchekker zwang seinen Mund zu einem verzerrten Lächeln. „Oh, da stimme ich Ihnen zu, unbedingt. Es gibt einem zu denken… sehr sogar. Aber welche Alternative schlagen Sie vor?“ In seiner Stimme schwang jetzt ein wenig Sarkasmus mit. „Wollen Sie andeuten, daß der Mensch und die Tiere in einer gewaltigen Himmels-Arche-Noah zur Erde kamen?“ Er lachte. „Falls ja, dann werden Sie von den aufgefundenen, Hunderte von Millionen Jahre alten Fossilien widerlegt.“
„Eine Sackgasse.“ Der Kommentar kam von Professor Schorn, einer Autorität auf dem Gebiet vergleichender Anatomie. Vor ein paar Tagen war er aus Stuttgart herübergekommen.
„Sieht ganz danach aus“, stimmte Caldwell zu.
Danchekker gab sich damit aber noch nicht zufrieden. „Würde Dr. Hunt die Güte haben, meine Frage zu beantworten?“ verlangte er. „Welchen anderen Entstehungsort – präzise bitte – schlagen Sie vor?“
„Ich denke an keinen besonderen Ort“, gab Hunt ruhig zurück. „Was ich sagen möchte, ist, daß im augenblicklichen Untersuchungsstadium eine beweglichere Einstellung angebracht wäre. Wir haben Charlie doch gerade erst gefunden. Diese ganze Sache wird sich über Jahre hinziehen, und es werden sich bestimmt eine ganze Menge weiterer Anhaltspunkte ergeben, die wir im Augenblick noch nicht haben. Meiner Meinung nach ist es noch zu früh, um aufzuspringen und zu behaupten, dies sei die einzig mögliche Antwort auf eine bestimmte Frage. Besser ist es, weiterzumachen und die Mosaiksteinchen zu suchen, die zusammengesetzt ein Bild von Charlies Heimatplaneten ergeben. Vielleicht stellt sich heraus, daß es die Erde ist. Vielleicht aber auch nicht.“
Caldwell gab ihm ein neues Stichwort. „Was schlagen Sie für unsere weiteren Untersuchungen vor?“
Hunt fragte sich, ob das ein direkter Fingerzeig war. Er entschloß sich dazu, es darauf ankommen zu lassen. „Vielleicht sehen Sie sich das einmal näher an.“ Er zog ein Blatt Papier aus dem Aktenkoffer vor ihm und schob es in die Mitte des Tisches. Das Blatt zeigte eine komplizierte, tabellarische Auflistung lunarischer Zahlen.
„Was ist das?“ fragte jemand.
„Es stammt aus einem der Taschenbücher“, entgegnete Hunt. „Ich vermute, daß es sich dabei um so etwas wie ein Tagebuch handelt. Ich vermute weiterhin, daß das…“ er deutete auf das Blatt, „…sehr gut ein Kalender sein könnte.“ Lyn Garland zwinkerte ihm verstohlen zu, und er erwiderte diese Geste.
„Ein Kalender?“
„Wie kommen Sie darauf?“
„Das ist doch alles nur unsinniges Geschwafel.“
Ein paar Sekunden lang starrte Danchekker eindringlich auf das Papier. „Können Sie beweisen, daß es sich um einen Kalender handelt?“ bohrte er.
„Nein, ich kann das nicht. Aber ich habe das Zahlenmuster analysiert und kann feststellen, daß die Ziffern eine progressive Wertigkeit aufweisen und sich in Gruppen und Untergruppen gliedern. Die alphabetischen Zeichengruppen, die die Hauptzahlenanordnungen zu kennzeichnen scheinen, stimmen mit den Kennungen auf anderen Seiten überein – das ähnelt auffallend dem Layout eines Kalenders.“
„Hm! Eher einem tabellarischen Register.“
„Könnte sein“, räumte Hunt ein. „Aber warum warten wir mit einer endgültigen Feststellung nicht so lange, bis wir mehr Daten haben? Sobald der Sprachaufbau klarer geworden ist, sollte es möglich sein, die anderen bis dahin gewonnenen Informationen damit zu vergleichen. Gerade an diese Sache sollten wir wirklich unvoreingenommener herangehen. Sie behaupten, Charlie kommt von der Erde; ich sage, vielleicht. Sie sagen, dies sei kein Kalender. Ich sage, vielleicht aber doch. Meines Erachtens ist eine Einstellung wie die Ihre zu unbeweglich, um damit eine unbefangene Bewertung dieses Problems zuzulassen. Für Sie existieren nur die Antworten, die Sie sehen wollen.“
„Hört, hört!“ ließ sich eine Stimme am Ende des Tisches vernehmen.
Danchekkers Gesicht verfärbte sich, aber bevor er etwas erwidern konnte, schaltete sich Caldwell ein.
„Sie haben die Zahlen analysiert – richtig?“
„Richtig.“
„Gut, nehmen wir mal an, es ist ein Kalender. Was können Sie uns darüber sagen?“
Hunt beugte sich in Richtung Tisch vor und deutete mit seinem Kugelschreiber auf das Blatt.
„Zwei Voraussetzungen zuerst einmal. Nummer eins: Die Grundeinheit der Zeiteinteilung auf jedem Planeten ist der Tag… die Zeit also, in der der Planet sich einmal um seine Achse dreht…“
„Wenn er sich überhaupt dreht“, warf jemand ein.
„Das ist meine zweite Annahme. Aber wir kennen auch die Voraussetzungen, die die Rotation eines Himmelskörpers verhindern – oder die dafür sorgen, daß die Umkreisungsdauer der Umdrehungsdauer entspricht, was auf das gleiche hinausläuft. Ein solcher Fall tritt nur dann ein, wenn ein kleiner Körper um einen wesentlich massereicheren kreist und deshalb starken Gravitationsgezeiten ausgesetzt ist, wie unser Mond etwa. Um diesen Effekt bei einem Himmelskörper von der Größe eines Planeten hervorzurufen, müßte sich der Planet in einem sehr engen Orbit um sein Zentralgestirn befinden – in jedem Fall zu nah, um uns ähnliches Leben tragen zu können.“
„Klingt logisch“, sagte Caldwell und sah sich um. Verschiedene Köpfe nickten zustimmend. „Und weiter?“
„In Ordnung“, fuhr Hunt fort. „Einmal vorausgesetzt, daß der Planet rotiert und der Tag die natürliche Grundeinheit für die Zeitmessung ist – wenn diese Tabelle dort einen vollen Orbit um die Sonne darstellt, dann hat das lunarische Jahr eintausendsiebenhundert Tage, für jeden Tag ein Vermerk.“
„Ganz schön lang“, kommentierte jemand.
„Für uns, ja. Zumindest ist das Verhältnis des Jahres zur Anzahl der Tage ziemlich groß. Es bedeutet, daß der Umlaufbahnradius groß ist, die Rotationsdauer kurz oder vielleicht von beiden etwas. Sehen Sie sich nun die Hauptzahlgruppen an… die mit den deutlichen alphabetischen Kennungen. Es gibt siebenundvierzig von ihnen. Die meisten beinhalten sechsunddreißig Zahlen, neun von ihnen allerdings siebenunddreißig – die fünfte, sechste, zwölfte, achtzehnte, vierundzwanzigste, dreißigste, sechsunddreißigste, zweiundvierzigste und siebenundvierzigste. Auf den ersten Blick mag das ein wenig seltsam erscheinen, aber auch unser kalendarisches System würde jemanden verwirren, der damit nicht vertraut ist. Es sieht so aus, als hätte irgend jemand ein wenig daran herumwerkeln müssen, um ihn mit den astronomischen Gegebenheiten in Einklang zu bringen.“
„Mmm… wie bei unseren Monaten.“
„Genau. Dem muß ein ähnliches Jonglieren vorausgegangen sein, das auch bei der Einteilung unserer Monate nötig war, damit sie mit der Länge des Jahres übereinstimmten. Es gibt nämlich keine direkte Beziehung zwischen der Orbitalperiode eines Planeten und der seines Satelliten; es gibt keinen Grund dazu. Wenn dies ein Kalender ist, der sich auf einen anderen Planeten bezieht, dann ist der Grund für die seltsame Anordnung von einmal sechsunddreißig und dann siebenunddreißig der gleiche, der auch unseren Kalender ein wenig ungenau macht: Jener Planet hat einen Mond.“
„Diese Zahlenkolonnen stellen also Monate dar“, wiederholte Caldwell.
„Wenn es sich um einen Kalender handelt – ja. Jede Gruppe ist in drei Untergruppen aufgeteilt – Wochen, wenn Sie so wollen. Für gewöhnlich beinhalten diese Untergruppen jeweils zwölf Tage, aber es gibt neun lange Monate, in denen die mittlere Woche dreizehn Tage hat.“
Danchekker musterte das Blatt lange Zeit und verzog dabei langsam das Gesicht, als empfinde er Schmerz.
„Wollen Sie dies als ernsthafte wissenschaftliche Theorie vorschlagen?“ fragte er in einem gezwungen ruhigen Ton.
„Natürlich nicht“, gab Hunt zurück. „Dies ist nichts als reine Spekulation. Aber sie zeigt einen Weg auf, den wir auch beschreiten könnten. Diese alphabetischen Gruppen zum Beispiel könnten möglicherweise Entsprechungen zu Texten aufweisen, die die Sprachentschlüssler woanders finden – Zeitangaben auf Dokumenten etwa oder Herstellungsdaten auf Kleidungsstücken oder Ausrüstungsgegenständen. Vielleicht finden wir auch auf einem anderen Weg heraus, wieviel Tage das Jahr hat; und wenn sich herausstellt, daß es eintausendsiebenhundert sind, dann wäre das wohl mehr als zufällige Übereinstimmung, nicht wahr?“
„Sonst noch etwas?“ erkundigte sich Caldwell.
„Ja. Vielleicht zeigt uns eine Computer-Korrelationsanalyse dieser Zahlenkolonnen bisher noch verborgene, übergelagerte Periodizitäten auf; es ist nicht unvorstellbar, der Planet könnte möglicherweise mehr als einen Mond haben. Vielleicht können wir mit Hilfe der Rechner Diagramme herstellen, die uns mögliche Beziehungen zwischen den Masseverhältnissen des Planeten und seiner Monde und den betreffenden Orbitalradien deutlich machen. Später dann haben wir vielleicht Daten genug, eines der Diagramme zu isolieren. Möglich, daß es das System Erde-Mond beschreibt – vielleicht aber auch nicht.“
„Lächerlich!“ explodierte Danchekker.
„Auch, wenn man es unvoreingenommen betrachtet?“ gab Hunt zu bedenken.
„Da ist noch eine andere Sache, die man einmal versuchen könnte“, meldete sich Schorn zu Wort. „Ihr Kalender, wenn es wirklich einer ist, hat bisher nur relative Beziehungen beschrieben – Tage pro Monat, Monate pro Jahr und so weiter. Er gibt uns keine absoluten Werte. Nun – und jetzt muß ich etwas weiter ausholen -, wir beschäftigen uns derzeit damit, mittels einer detaillierten chemischen Analyse ein quantitatives Modell von Charlies Zellstoffwechsel und Enzymsteuerung zu entwickeln. Wir müssen das anteilige Verhältnis von Ausscheidungs- und Schlackenstoffen in seinem Blut berechnen, um dann aufgrund der gewonnenen Erkenntnisse die natürlichen Schlaf- und Wachperioden ermitteln zu können. Wenn wir auf diesem Weg die Länge des Tages bestimmen können, dann könnten wir auch die anderen fehlenden Daten sofort hochrechnen.“
„Wenn wir das wüßten, könnten wir die Orbitalperiode, also die Dauer des Jahres, errechnen“, sagte jemand anders. „Aber was ist mit der Masse?“
„Nun, wir könnten eine Strukturanalyse von Charlies Knochen und Muskeln durchführen und dann das Verhältnis zwischen aufgewendeter Kraft und Gewicht ermitteln“, fiel ihm ein anderer ins Wort.
„Damit hätten wir auch die mittlere Entfernung des Planeten von der Sonne“, meinte ein dritter.
„Nur wenn sie unserer Sonne ähnelt.“
„Man könnte die Masse des Planeten auch aus der Beschaffenheit des Glases und der anderen kristallinen Materialien in Charlies Ausrüstung ableiten. Aus der Kristallstruktur sollten wir errechnen können, wie stark das Gravitationsfeld war, das auf sie einwirkte, als sie sich formten.“
„Und wie bekommen wir einen Anhaltspunkt für die Dichte?“
„Kein Problem, wenn wir den Radius des Planeten kennen.“
„Charlie ist wie wir, also wird die Oberflächengravitation ähnlich sein.“
„Zuerst muß geprüft werden, ob es ein Kalender ist.“
Von allen Seiten strömten Kommentare auf ihn ein. Mit einer gewissen Befriedigung stellte Hunt fest, daß er es zumindest fertiggebracht hatte, den Wissenschaftlern ein wenig Begeisterung und Enthusiasmus zu injizieren.
Danchekker zeigte sich unbeeindruckt. Als das Stimmengewirr nachließ, erhob er sich erneut und deutete mitleidig auf das einzelne Blatt Papier, das noch immer mitten auf dem Tisch lag.
„Alles Quatsch!“ stieß er hervor. „Das dort ist Ihr gesamtes Beweismaterial.“ Er schob einen gewaltigen Stapel aus Notizen und Papieren daneben. „Hier ist meins, abgestützt durch Informationen in Bibliotheken, Datenbanken und Archiven in der ganzen Welt. Charlie kommt von der Erde!“
„Und wo, bitte, ist seine Zivilisation?“ verlangte Hunt zu wissen. „Vielleicht von einem gewaltigen Himmels-Müllabfuhrwagen fortgeschafft?“
Gelächter ertönte am Tisch, als Hunt es Danchekker mit gleicher Münze heimzahlte. Das Gesicht des Professors färbte sich, und er setzte zu einer nicht gerade schmeichelnden Bemerkung an. Caldwell hob mäßigend die Arme, aber es war Schorn, der die Situation rettete, indem er mit seiner ruhigen, unbewegten Stimme sagte: „Es sieht ganz danach aus, meine Damen und Herren, als müßten wir für den Moment zwischen zwei rein spekulativen Hypothesen einen Kompromiß schließen. Um Professor Danchekker zufriedenzustellen, müssen wir akzeptieren, daß die Lunarier dieselben Vorfahren hatten wie wir. Um Dr. Hunts Argumentation zu genügen, müssen wir davon ausgehen, daß ihre Art auf einem anderen Planeten entstanden ist. Ich möchte mich aber strikt davor hüten, diese beiden Unvereinbarkeiten jetzt schon unter einen Hut bringen zu wollen.“
9
In den Wochen, die der Konferenz folgten, sah Hunt immer weniger vom Trimagniskop. Caldwell schien ihm aus dem Weg zu gehen und sich große Mühe zu geben, den Engländer dazu zu ermutigen, die verschiedenen UNWO-Laboratorien und Einrichtungen in der Nähe zu besuchen, um „aus erster Hand zu sehen, was vor sich geht“ oder in den Büros der Navkomm-Zentrale „interessante Leute“ kennenzulernen. Hunt war natürlich neugierig über den Fortgang der Lunarier-Forschung, und deshalb kam ihm diese Entwicklung sehr gelegen. Bald stand er mit den Technikern und Wissenschaftlern, die an diesem Projekt mitarbeiteten, auf vertrautem Fuße, zumindest mit denen, die sich in der Nähe von Houston aufhielten. Und er bekam eine ausreichende Vorstellung davon, wie die Arbeit voranschritt und mit welchen Schwierigkeiten die Forscher zu kämpfen hatten. Schließlich hatte er über die Aktivitäten an allen Fronten einen breiten Überblick gewonnen, den außer ihm, zumindest was den allgemeinen Stand betraf, innerhalb der ganzen Organisation nur einige wenige privilegierte Personen hatten.
In einer ganzen Reihe von Abteilungen machte man gute Fortschritte. Berechnungen der strukturellen Leistungsfähigkeit, die auf der Beschaffenheit von Charlies Skelett und der Masse basierten, die er hatte tragen müssen, hatten zu einem Anhaltspunkt über die Oberflächengravitation von Charlies Heimatwelt geführt. Die Angaben stimmten unter Berücksichtigung tolerierbarer Abweichungen mit den Werten überein, die man unabhängig davon aus den Tests abgeleitet hatte, die an den Kristallen der Helm-Sichtscheibe und den anderen Komponenten, die aus einem geschmolzenen Zustand heraus geformt worden waren, durchgeführt wurden. Die Schwerkraft an der Oberfläche von Charlies Heimatplaneten schien sich danach nicht sonderlich von der auf der Erde zu unterscheiden. Sie mochte vielleicht ein wenig höher liegen. Diese Resultate wurden nur als grobe Annäherungswerte betrachtet. Schließlich wußte niemand, ob Charlies Körperbau für alle Lunarier charakteristisch war. Deshalb existierte noch immer kein sichtbarer Beweis dafür, ob der fragliche Planet die Erde war oder nicht. Noch war alles offen.
In den Überschriften einiger Papiere, auf Etiketten einiger Ausrüstungsgegenstände und in bestimmten handgeschriebenen Notizen entdeckte die linguistische Abteilung einige lunarische Worte, die exakt den Kennungen im Kalender entsprachen, so wie es Hunt vermutet hatte. Obwohl dies natürlich nichts bewies, erhärtete es doch die Vermutung, daß diese Worte so etwas wie Zeitangaben darstellten.
Dann geschah etwas, mit dem niemand gerechnet hatte und das weitere Anhaltspunkte in Sachen Kalender lieferte. Erschließungsarbeiten in der Nähe der Mondbasis Tycho Drei förderten metallische Gebilde und Fragmente zutage. Sie sahen wie Bruchstücke irgendeiner Anlage aus. Die folgende gründliche Grabung lieferte dann vierzehn weitere Körper, oder genauer gesagt, sie brachte Körperteile hervor, die auf zumindest vierzehn Personen beider Geschlechter schließen ließen. Natürlich war nicht einer der Körper auch nur annähernd so gut erhalten wie der Charlies. Sie waren buchstäblich zerfetzt worden. Die Überbleibsel waren nicht viel mehr als verkohlte Knochen, die inmitten versengter Raumanzugfetzen verstreut lagen. Abgesehen von der Bestätigung, daß die Lunarier ebenso beschaffen und genauso verletzlich wie Menschen waren, brachten diese Funde keine neuen Erkenntnisse – bis man auf die Armbandeinheit stieß. Sie war so groß wie eine Zigarettenschachtel – die um das Handgelenk herumführenden Befestigungsschnallen nicht miteingerechnet – und wies an der oberen Seite vier Sichtfenster auf, die wie elektronische Miniaturdisplays aussahen. Aus Form und Größe ließ sich entnehmen, daß die Sichtfenster dazu gedacht gewesen waren, Schriftzeichen und nicht Bilder zu zeigen. Daraufhin lag der Schluß nahe, bei dem Gerät handle es sich um einen Chronometer oder einen elektronischen Hilfsrechner. Vielleicht hatte es beide Funktionen erfüllt – und andere noch dazu.
Nach einer ersten Untersuchung in Tycho Drei wurde das Gerät zusammen mit einigen anderen Fundstücken zur Erde gebracht. Schließlich gelangte es in die Navkomm-Laboratorien bei Houston, wo auch die technischen Bestandteile von Charlies Rückentornister untersucht wurden. Nach einigen vorbereitenden Experimenten wurde vorsichtig das Gehäuse entfernt. Aber die detaillierte Inspektion der komplexen molekularen Schaltkreise im Inneren des Gerätes offenbarte nichts besonders Bedeutungsvolles. Ohne eine rechte Vorstellung davon, wie sie nun weitermachen sollten, leiteten die Navkomm-Techniker auf gut Glück Niederspannungsströme durch die Kreise, um zu sehen, was geschehen würde. Und tatsächlich, als bestimmte Sequenzen binärer Signale auf eine Reihe von Kontakten geleitet wurden, flackerten auf den Sichtfenstern Gruppen lunarischer Symbole auf. Niemand wurde schlau daraus, bis Hunt, der zu diesem Zeitpunkt zufällig das Labor besuchte, eine Sequenz der alphabetischen Zeichen als die Nennungen für die Monate erkannte, die sich im Kalender finden ließen. Infolgedessen schien zumindest eine der Funktionen des Armbandgerätes in enger Beziehung zu den Tabellen im Tagebuch zu stehen. Ob es irgend etwas mit der Messung des Zeitablaufs zu tun hatte, blieb allerdings noch zu beweisen, aber zumindest hatte es den Anschein, als ob sie der Klärung einiger rätselhafter Dinge etwas näher gekommen seien.
Die Linguisten machten stetige, wenn auch weniger spektakuläre Fortschritte bei der Entschlüsselung der lunarischen Sprache. Viele der prominentesten Experten der ganzen Welt waren hinzugezogen worden; einige hatten es vorgezogen, direkt nach Houston zu kommen, während andere über direkte Computerdatenverbindungen mitarbeiteten. In der ersten Phase ihrer Bemühungen erstellten sie Unmengen statistischer Erhebungen über Wort- und Zeichengliederung. Als zweites fertigten sie unzählige Tabellen und Diagramme an, die für alle anderen genauso rätselhaft waren wie die Sprache selbst. Die weitere Arbeit blieb hauptsächlich der Intuition und den Puzzlespielen auf den Bildschirmen der Computerterminals überlassen. Von Zeit zu Zeit stieß jemand auf ein etwas sinnvolleres Muster, das dann genauere Thesen und Erkenntnisse möglich machte, was wiederum zu einem noch sinnvolleren Muster führte und so weiter. Sie fertigten Listen an, in denen Worte in bestimmte Äquivalentkategorien eingeteilt wurden: Substantive, Adjektive, Verben, Adverben. Später folgten Attribute und adverbiale Bestimmungen. All das waren grundlegende Bestandteile jeder grammatikalisch komplexen Sprache. Sie begannen ein Gefühl für die Regeln des Lunarischen zu entwickeln – für Sonderformen wie Plural und die verschiedenen Tempi der Verben und schlossen von gemeinsamen Grundformen auf die Prinzipien, die den Satzaufbau bestimmten. Daraus erwuchs ein erstes rudimentäres Verständnis der lunarischen Grammatik, und die linguistischen Experten sahen optimistisch in die Zukunft. Sie waren plötzlich davon überzeugt, bald soweit zu sein, den Versuch unternehmen zu können, die ersten englischen Äquivalente zu bestimmten lunarischen Wörtern zu schaffen.
Die mathematische Abteilung, die ähnlich wie die linguistische organisiert war, hatte ebenfalls einige interessante Dinge entdeckt. Ein Teil des Tagebuchs bestand aus Seiten mit tabellarisch angeordnetem Zahlenmaterial – vielleicht ein Verzeichnis nützlicher Informationen. Eine dieser Seiten war vertikal unterteilt: Zahlenkolonnen wechselten sich mit Wortreihen ab. Ein Forscher hatte festgestellt, daß eine der Zahlen, rechnete man sie ins Dezimalsystem um, den Wert 1836 aufwies – das Masseverhältnis von Proton und Elektron, eine fundamentale physikalische Konstante, von der man annehmen konnte, daß sie im ganzen Universum gleich war. Man vermutete, bei dieser Seite könnte es sich um eine Auflistung der lunarischen Äquivalente von Massewerten handeln, ähnlich den Vergleichstabellen, mit deren Hilfe man Unzen in Gramm, Gramm in Pfund und so weiter umrechnen konnte. Wenn das zutraf, dann waren sie zufällig auf eine komplette Auflistung des lunarischen Maßsystems gestoßen. Das Problem bestand darin, daß die ganze Vermutung auf der dürftigen Annahme beruhte, daß der Wert 1836 tatsächlich das Masseverhältnis zwischen Proton und Elektron kennzeichnete und nicht nur eine zufällige Bezugnahme auf etwas völlig anderes darstellte. Die Mathematiker benötigten eine unabhängig davon hergeleitete stichhaltige Information, um so eine Kontrolle durchführen zu können.
Als Hunt eines Nachmittags mit den Mathematikern sprach, mußte er überrascht feststellen, daß sie keine Kenntnis davon hatten, daß die Chemiker und Anatomen in den anderen Abteilungen Schätzwerte der Oberflächengravitation von Charlies Heimatplaneten errechnet hatten. Sobald er diese Tatsache erwähnt hatte, begriff jedermann sofort ihre Bedeutung. Wenn die Lunarier die gleiche Angewohnheit wie die Menschen hatten – wenn sie die gleichen Maßeinheiten für die Beschreibung von Masse und Gewicht benutzten -, dann gaben die Zahlen in der Tabelle lunarische Gewichte an. Überdies verfügten sie über mindestens ein Objekt, dessen Gewicht sich sicher bestimmen ließ: Charlie selbst. Und da bereits ein Anhaltspunkt über die Oberflächengravitation existierte, war es leicht möglich, einen Annäherungswert darüber zu gewinnen, wie viele Kilogramm schwer Charlie zu Hause gewesen war. Nur eine Information fehlte noch zur Lösung des ganzen Problems: ein Faktor, mit dem sich ein Kilogramm in die entsprechende lunare Maßeinheit umrechnen ließ. Daraufhin äußerte Hunt die Vermutung, daß sich unter Charlies persönlichen Dingen doch gut eine Identitätskarte oder ein medizinischer Befund befinden könnte… irgend etwas, das sein Gewicht in lunarischen Maßeinheiten ausdrückte. Wenn dies der Fall war, dann würde ihnen diese eine Zahl all das angeben, was sie wissen wollten. Die Diskussion fand ein abruptes Ende, als sich der Leiter der mathematischen Sektion hastig und offensichtlich erregt davonmachte, um mit dem Leiter der Linguistik-Abteilung zu sprechen. Die Linguisten erklärten sich bereit, die Mathematiker sofort zu benachrichtigen, sollte man auf so etwas stoßen. Bisher war dies jedoch nicht der Fall gewesen.
Eine andere kleine Gruppe, die man in einige Büros im obersten Stock der Navkomm-Zentrale gestopft hatte, beschäftigte sich mit etwas, das bisher vielleicht die aufregendste Entdeckung aus den Büchern gewesen war. Die letzten zwanzig Seiten des zweiten Buches zeigten eine Anzahl von Landkarten. Allem Anschein nach waren sie in einem kleinen Maßstab gehalten, und jede einzelne beschrieb ausgedehnte Regionen einer Planetenoberfläche – aber die dort abgebildete Welt hatte keine Ähnlichkeit mit der Erde. Ozeane, Kontinente, Flüsse, Seen, Inseln und die meisten anderen konnten mit der Oberflächengestaltung der Erde in keiner Weise in Einklang gebracht werden. Selbst dann nicht, wenn man mögliche Veränderungen während der vergangenen fünfzigtausend Jahre berücksichtigte – die ohnehin nicht so deutlich ausgefallen waren, abgesehen vom Umfang der Eiskappen an den Polen.
Jede Karte beinhaltete ein rechtwinkliges Gitterwerk von Einteilungslinien, ähnlich den irdischen Längen- und Breitengraden, und die Linien wiesen achtundvierzig (dezimale) Unterteilungen auf. Es wurde vermutet, diese Unterteilungen seien die Grundeinheiten einer Kreiseinteilung, da sich niemand vorstellen konnte, daß es eine logische Möglichkeit gab, Koordinaten auf der Oberfläche einer Kugel anzugeben. Landkarte Nummer vier und sieben lieferten den Schlüssel: Die Null-Linie der Längeneinteilung, auf die sich alle anderen Linien bezogen. Die Linie gen Osten war mit „528“ gekennzeichnet, die zum Westen mit „48“, was zeigte, daß der lunarische Kreis in 576 lunarische Grade eingeteilt war. Dieses System stand in Einklang mit ihrem duodezimalen Zahlsystem, ebenso mit ihrer Gewohnheit, von rechts nach links zu schreiben. Der nächste Schritt bestand darin, den Anteil der Planetenoberfläche zu errechnen, der von jeder Karte dargestellt wurde, und dann die einzelnen Stücke zu einem kompletten Globus zusammenzusetzen.
Das allgemeine Schema war jedoch bereits klar. Die Eiskappen waren wesentlich größer als jene, die während der pleistozänen Eiszeit auf der Erde vermutet wurden. Sie erstreckten sich an manchen Stellen bis zu zwanzig (irdische) Grade zum Äquator hin. Die meisten Seen in der Äquatorzone waren vollständig von Küstenstrichen und Eis umschlossen. Ein System von Punkten und Symbolen, die über die Landmasse der eisfreien Zone und auch, etwas spärlicher, über die Eismassen selbst verstreut waren, schienen Städte und andere Ortschaften darzustellen.
Hunt erhielt die Einladung, heraufzukommen und sich die Karten anzusehen, und die Wissenschaftler, die sich mit ihnen beschäftigten, richteten sein Augenmerk auf die Entfernungsangaben am Rand. Wenn sie nur einen Weg finden konnten, diese Werte in Kilometer umzurechnen, dann würden sie den Durchmesser des Planeten ermitteln können. Aber niemand hatte ihnen etwas von den Tabellen erzählt, von denen die Mathematiker annahmen, es könnte sich um Maßumrechnungslisten handeln. Vielleicht beinhaltete eine weitere Tabelle Umrechnungshilfen für Längen- und Entfernungseinheiten? Wenn dies zutraf und sie unter Charlies Papieren eine Angabe seiner Körpergröße finden konnten, dann würde eine einfache Messung an ihm genügen, um herauszufinden, wie viele irdische Meter ein lunarischer Kilometer enthielt. Da sie bereits einen Annäherungswert über die Oberflächengravitation des Planeten hatten, würden die Werte für Masse und mittlere Dichte sofort zu ermitteln sein.
All dies war sehr aufregend, aber es bewies nur, daß eine Welt existiert hatte. Es ließ noch nicht den Schluß zu, daß Charlie und die Lunarier von dort stammten. Schließlich bewies die Tatsache, daß jemand die Straßenkarte von London in seiner Tasche hatte, nicht, daß er auch ein Londoner war. So mochte sich die Arbeit, die durch physikalische Analysen von Charlies Körper gewonnenen Zahlen mit denen der Karte und Tabellen in Beziehung zu setzen, als auf einem gewaltigen Trugschluß beruhend herausstellen. Wenn das Tagebuch von der auf den Karten dargestellten Welt kam, Charlie aber von einer anderen, dann war das Maßsystem der Karten und Tabellen im Tagebuch vielleicht völlig anders als das, mittels dessen Grundeinheiten Charlies persönliche Charakteristika in seinen Papieren festgehalten worden waren. Dann bezog sich das letzte System auf einen anderen Ort als den, der von den Karten beschrieben wurde. Es wurde immer verwirrender.
Schließlich behauptete niemand, schlüssig beweisen zu können, die Welt auf den Karten sei nicht die Erde. Zugegebenermaßen sah sie nicht wie die Erde aus, und Versuche, die moderne Theorie der Kontinentaldrift mit einzubeziehen und so eine Übereinstimmung zu erzielen, scheiterten. Aber da war die Schwerkraft, die sich kaum von der der Erde unterscheiden konnte. Vielleicht hatten sich die Oberflächenformationen der Erde im Laufe der letzten fünfzigtausend Jahre stärker verändert, als man bisher angenommen hatte? Außerdem wogen Danchekkers Argumente immer noch schwer, und jede Theorie, die sich ihnen entgegenstellte, würde verdammt viel erklären müssen. Aber inzwischen hatten die Arbeiten an diesem Projekt ein Stadium erreicht, in dem die Wissenschaftler ohnehin nichts mehr hätte überraschen können.
* * *
„Habe Ihre Nachricht erhalten. Bin sofort rübergekommen“, bestätigte Hunt, als Lyn Garland ihn in Caldwells Büro geleitete. Caldwell deutete mit einem Nicken auf einen Sessel gegenüber seinem Schreibtisch, und Hunt setzte sich.
„Ich brauche Sie nicht mehr, danke“, sagte er zu Lyn. Sie schritt hinaus und schloß die Tür hinter sich.
Mit einem ausdruckslosen Gesicht musterte Caldwell Hunt einige Sekunden lang und klopfte gleichzeitig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. „In den letzten paar Wochen haben Sie eine Menge von dem gesehen, was hier vor sich geht. Was halten Sie davon?“
Hunt zuckte mit den Achseln. Die Antwort war klar. „Mir gefällt’s. Aufregende Dinge geschehen hier.“
„Sie mögen es, wenn aufregende Dinge geschehen, was?“ Der Direktor nickte leicht. Eine kleine Ewigkeit lang schien er sich nur mit seinen eigenen Gedanken zu beschäftigen. „Nun, Sie haben nur einen Teil dessen gesehen, was hier los ist. Die meisten Leute haben keine Ahnung, wie groß die UNWO inzwischen ist. All das, was Sie hier sehen – die Laboratorien, die Anlagen, die Startrampen – all das ist nur der Hintergrund. Das meiste spielt sich dort ab.“ Er zeigte auf die Fotografien, die seine Wände zierten. „Da oben sind Leute, die gerade die Marswüsten erforschen, von Orbitalstationen aus. Flugsonden in die Wolken der Venus hinabschicken oder über die Jupitermonde spazierengehen. In den Tiefraumabteilungen drüben in Kalifornien werden Raumschiffe gebaut, gegen die sich die Wega-Fähren oder die Schiffe, die wir zum Jupiter geschickt haben, wie Nußschalen ausmachen. Automatische Sonden mit Photonenantrieb, die den ersten Sprung zu den Sternen machen sollen – einige sind zehn Kilometer lang! Stellen Sie sich das einmal vor – zehn Kilometer lang!“
Hunt gab sich alle Mühe, in angemessener Weise darauf zu reagieren. Das Problem war nur, er war nicht sicher, was angemessen war. Caldwell unternahm und sagte nie etwas ohne triftigen Grund. Der Grund für diese Gesprächseinleitung ließ sich alles andere als leicht durchschauen.
„Und das ist nur der Anfang“, fuhr Caldwell fort. „Menschen werden den Sonden folgen. Und dann… wer weiß? Dies ist die größte Sache, der sich die Menschheit je gewidmet hat: die USA, die Vereinigten Staaten von Europa, Kanada, die Sowjets, die Australier – sie arbeiten alle dabei zusammen. Wohin führt ein solches Unternehmen, wenn es erst einmal angelaufen ist, was? Und wo hört es auf?“
Zum ersten Mal, seitdem Hunt in Houston angekommen war, entdeckte er eine Andeutung von Gefühlsaufwallung in der Stimme des Amerikaners. Er nickte langsam, obgleich er immer noch nicht begriff.
„Sie haben mich doch bestimmt nicht herzitiert, um mir einen UNWO-Werbespot vorzuführen“, sagte er.
„Nein, Sie haben recht“, gab Caldwell zu. „Ich habe Sie herbestellt, damit wir uns einmal ernsthaft unterhalten können. Ich kenne Sie inzwischen gut genug, um zu wissen, wie das Getriebe in Ihrem Hirn funktioniert. Sie sind aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die Männer, die da oben alles in Betrieb halten.“ Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen und begegnete Hunts Gesichtsausdruck mit einem festen Blick. „Ich möchte, daß Sie Ihr Herumwursteln bei der IDCC aufgeben und zu uns kommen.“
Diese Bemerkung traf Hunt wie ein rechter Schwinger.
„Was…! Zur Navkomm!“
„Richtig. Reden wir nicht um den heißen Brei herum. Sie gehören zu der Art von Leuten, die wir brauchen, und wir können Ihnen die Möglichkeiten geben, die Sie brauchen. Ich weiß, ich muß nicht extra große Worte machen, damit Sie mich verstehen.“
Hunts erste Überraschung währte vielleicht eine halbe Sekunde. Der Computer in seinem Kopf legte bereits die Antworten zurecht. Caldwell hatte diesen Augenblick vorbereitet und ihn wochenlang getestet. Deshalb also hatte er die Navkomm-Techniker in die Bedienung des Skops einweisen müssen. Hatte er schon so lange darauf hingearbeitet? Hunt hatte bereits keinen Zweifel mehr, wie das Gespräch enden würde. Die Spielregeln erforderten jedoch, daß eine ganze Reihe von Fragen gestellt und beantwortet werden mußten, bevor etwas Endgültiges dabei herauskommen durfte. Unbewußt tastete er nach seiner Zigarettenpackung, aber Caldwell kam ihm zuvor und schob seine Zigarrenschachtel über die Tischfläche.
„Sie scheinen sich ja ziemlich sicher zu sein, daß Sie das haben, was ich brauche“, sagte Hunt, während er sich eine Havanna anzündete. „Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich das selbst weiß.“
„Tatsächlich nicht…? Oder ist das nur ein Punkt, über den Sie nicht gerne sprechen?“ Caldwell unterbrach sich, um sich seine eigene Zigarre anzuzünden. Er paffte, bis sie richtig brannte, und fuhr dann fort: „Eine neue Ehrenauszeichnung der Königlich Britischen Akademie der Naturwissenschaften, ganz für Sie allein. Eine Neuschöpfung für außerordentliche Verdienste.“ Er machte eine anerkennende Geste. „Wir haben etwas für Leute übrig, die ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen – das ist so… Tradition. Warum haben Sie das alles studiert?“ Er wartete die Antwort nicht ab. „Zuerst Elektronik, dann Mathematik… danach Nuklearphysik, später Nukleonik. Was kommt als nächstes, Dr. Hunt? Was ist Ihr nächstes Ziel?“ Er lehnte sich zurück und stieß eine Qualmwolke aus, während Hunt über die Frage nachdachte.
Der Engländer hob die Augenbrauen und zeigte auf diese Weise mäßige Bewunderung. „Anscheinend haben Sie sich mit Ihren Hausaufgaben Mühe gegeben“, meinte er.
Caldwell ging darauf nicht direkt ein, sondern fragte statt dessen: „Wie ging’s Ihrem Onkel in Lagos, als Sie ihn im Urlaub letztes Jahr besuchten? Sagt ihm das Wetter in Worcester, England, mehr zu? In letzter Zeit öfter mal Mike von der Cambridgeuni wiedergesehen? Ich bezweifle es – er hat eine Stellung bei der UNWO angenommen. In den letzten zwei Monaten war er in Hellas Zwei auf dem Mars. Soll ich weitermachen?“
Hunt hatte sich zu sehr in der Gewalt, um seine Empörung zu zeigen; außerdem hatte er schon immer gern einen Fachmann in Aktion gesehen. Er lächelte schwach.
„Zehn Treffer von zehn möglichen.“
Sofort wurde Caldwell wieder ernst. Er beugte sich vor und stützte die Ellenbogen auf den Tisch.
„Ich werde Ihnen sagen, wohin Ihr nächster Schritt führt, Dr. Hunt“, sagte er. „Nach draußen… zu den Sternen! Von hier aus geht es auf direktem Wege zu den Sternen! Es hat bereits begonnen, als Danchekkers erster Fisch aus dem Urschlamm gekrochen ist. Der Drang, der ihn dazu getrieben hat, ist derselbe, der Sie nicht zur Ruhe kommen läßt. Sie sind so weit in den Mikrokosmos vorgestoßen, wie es nur möglich ist; Sie können nur noch nach draußen – in den Makrokosmos. Das ist es, was die UNWO Ihnen anzubieten hat und was Sie nicht ablehnen können.“
Dem konnte Hunt nichts mehr hinzufügen. Ihm blieb die Wahl zwischen zwei Wegen: Der eine führte zurück zu Metadyne, der andere lockte mit der Unendlichkeit. Er war genausowenig dazu in der Lage, sich für den ersteren zu entscheiden, wie die ganze Menschheit in den Urschlamm zurückkehren konnte, dem Sie entstammte.
„Und was steht bei Ihnen auf der Haben-Seite?“ fragte er nach kurzem Nachdenken.
„Sie meinen, was Sie haben und was wir brauchen?“
„Ja.“
„Wir brauchen die Art und Weise, in der Ihr Verstand funktioniert. Sie können in außergewöhnlichen Bahnen denken. Sie betrachten Probleme aus Blickwinkeln, die für alle anderen verborgen bleiben. Genau das brauche ich, um dieses Charlie-Problem zu knacken. Alle streiten sich nur deshalb so viel, weil sie Vermutungen äußern, die zwar plausibel erscheinen, die sie aber besser für sich behalten hätten. Es erfordert eine besondere geistige Einstellung, um in den Ergebnissen, die jedermann mit gesundem Menschenverstand als richtig erachtet, die sich dann aber als falsch erweisen, den Fehler zu finden. Ich glaube, Sie sind dafür der richtige Mann.“
Dieses Kompliment ließ Hunt ein wenig unbehaglich zumute werden. Er entschied weiterzumachen. „Und was haben Sie konkret vor?“
„Nun, die Männer, die wir im Augenblick haben, sind absolut erstklassig auf ihren jeweiligen Gebieten“, entgegnete Caldwell. „Verstehen Sie mich nicht falsch, diese Leute sind wirklich gut – aber ich würde es vorziehen, wenn sie sich auf die Dinge konzentrieren, von denen sie etwas verstehen. Nun, um zum Punkt zu kommen, ich brauche vor allem jemanden, der nicht spezialisiert ist und der deshalb die Erkenntnisse der Spezialisten unvoreingenommen koordinieren und sie in ein allgemeines Bild einordnen kann. Wenn Sie so wollen: Ich brauche Leute wie Danchekker, die die Mosaiksteinchen herstellen, aber auch jemanden wie Sie, der sie zusammensetzt. In der letzten Zeit haben Sie das ohnehin schon getan, inoffiziell. Jetzt sage ich: Machen Sie’s offiziell.“
„Was ist mit der Organisation?“ erkundigte sich Hunt.
„Darüber habe ich mir bereits Gedanken gemacht. Ich möchte keinen unserer langjährigen Mitarbeiter verärgern, indem ich ihnen oder ihren Mitarbeitern einen neuen genialen Vorgesetzten präsentiere. Das wäre nicht besonders klug. Ich glaube auch nicht, daß das in Ihrem Sinne wäre.“
Hunt schüttelte den Kopf.
„Also“, fuhr Caldwell fort, „ich beabsichtige folgendes: Die verschiedenen Abteilungen und Sektionen werden so weiterarbeiten wie bisher. Unsere Beziehungen zu den Arbeitsgruppen außerhalb von Navkomm bleiben unverändert. Aber sämtliche Ergebnisse, die jeder einzelne bisher erzielt hat und weiterhin erzielen wird, werden an eine zentrale Koordinierungsstelle geleitet – das sind Sie. Wie ich eben schon sagte, es wird Ihre Aufgabe sein, die einzelnen Steinchen zusammenzufügen. Im Laufe der Zeit und mit wachsender Arbeitsbelastung stellen Sie Ihren eigenen Mitarbeiterstab zusammen. Sie können von den Spezialisten jede detaillierte Information anfordern, die Ihnen wichtig erscheint; auf diese Weise können Sie deren Arbeit produktiver gestalten. Was Ihre Aufgabe betrifft, so habe ich das bereits umrissen: Finden Sie heraus, wer diese Charlieleute waren, woher sie kamen und was ihnen zugestoßen ist. Sie halten mich unmittelbar auf dem laufenden und nehmen mir so eine große Last ab. Ich habe schon mehr als genug um die Ohren, als daß ich mich auch noch mit Leichen herumschlagen möchte.“ Caldwell fuhr mit einem Arm durch die Luft, um anzudeuten, daß er fertig war. „Nun, was meinen Sie?“
Hunt mußte innerlich lächeln. Wie Caldwell schon gesagt hatte: Es gab nichts, worüber er noch hätte nachdenken müssen. Er atmete tief durch und hob beide Hände. „Wie Sie sagten – ein Angebot, das ich nicht ablehnen kann.“
„Also sind Sie dabei?“
„Ich bin dabei.“
„Willkommen an Bord.“ Caldwell sah zufrieden aus. „Das ist einen Schluck wert.“ Von irgendwo unterhalb seines Schreibtisches holte er eine Flasche und Gläser hervor. Er schenkte den Whisky ein und reichte eines der Gläser seinem neuen Angestellten.
„Wann soll ich anfangen?“ fragte Hunt nach einer Weile.
„Nun, wahrscheinlich brauchen Sie noch ein paar Monate oder so, um Ihre Angelegenheiten mit der IDCC in Ordnung zu bringen. Aber warum sollten wir uns mit Formalitäten aufhalten? Die IDCC hat Sie ohnehin für einige Zeit an uns ausgeliehen, damit Sie hier unter meiner Leitung arbeiten; Sie stehen auf unserer Lohnliste. Warum also nicht gleich morgen früh?“
„Himmel!“
Caldwell schaltete sofort auf flinken Geschäftsmann um.
„Ich werde Ihnen Büros in diesem Gebäude zuweisen. Rob Gray bekommt die Leitung des Skopbetriebs übertragen und kann die Techniker, die ich ihm zugewiesen habe, als seine ständigen Mitarbeiter betrachten, solange er hier in Houston ist. Das entbindet Sie in dieser Hinsicht von allen Verpflichtungen. Bis zum Ende dieser Woche möchte ich Ihre Aufstellung darüber, was Sie an Bürokräften, Assistenten, technischem Personal, Ausstattung, Möbel, Laborraum und Computerkapazität benötigen.
Bis zur nächsten Woche möchte ich von Ihnen ein Konzept, das während einer Konferenz der Sektions- und Abteilungsleiter, die ich noch einberufen werde, vorgestellt wird und Auskunft darüber geben soll, wie Sie Ihre Tätigkeit und die zukünftige Zusammenarbeit sehen. Seien Sie taktvoll. Ich werde bis nach der Konferenz, wenn jeder Bescheid weiß, was los ist, keine offizielle Notiz über diese Veränderungen herausgeben. Sprechen Sie bis dahin nicht darüber, außer zu mir und zu Lyn.
Ihre Abteilung wird die Bezeichnung Sonderauftragsgruppe L erhalten, und Ihr Status wird der des Sektionsleiters von Gruppe L sein. Diese Stellung ist innerhalb der Weltraumorganisation als ‚Direktor, Grad vier, zivil‘ klassifiziert. Sie erhalten dadurch einige zweckdienliche Vorteile: freie Benutzung von UNWO-Boden- und Luftfahrzeugen, Zugang zu Geheimakten bis hin zur dritten Kategorie, und weiterhin wird Ihnen Kleidung und Ausrüstung zur Verfügung gestellt, wenn Sie infolge Ihrer dienstlichen Pflichten nach Übersee reisen oder die Erde verlassen. Dies alles können Sie im Handbuch für den direktoralen Stab nachlesen. Einzelheiten über Verwaltungs- und Verantwortungsstrukturen und solche Dinge sind in der UNWO-Organisationsübersicht aufgeführt. Lyn wird Ihnen die Exemplare besorgen.
Sie werden sich mit der Einwanderungsbehörde in Houston wegen Ihres festen Wohnsitzes in den USA auseinandersetzen müssen; Lyn kennt die richtigen Leute. Den Transfer Ihrer persönlichen Habe von England hierher können Sie arrangieren, wann es Ihnen paßt; adressieren Sie sie an Navkomm. Wir werden Ihnen helfen, eine Wohnung zu finden. In der Zwischenzeit bleiben Sie am besten im Ocean Hotel.“
Hunt kam kurz der Gedanke: Wenn Caldwell dreitausend Jahre früher auf der Welt gewesen wäre, hätte Rom sehr gut in einem Tag erbaut werden können.
„Wie hoch ist Ihr bisheriges Gehalt?“ erkundigte sich Caldwell.
„Fünfundzwanzigtausend europäische Dollar.“
„Bei uns bekommen Sie dreißigtausend.“
Hunt nickte stumm.
Caldwell hielt kurz inne und prüfte in Gedanken, ob er irgend etwas übersehen hatte. Als er nichts fand, lehnte er sich zurück und hob sein Glas. „Dann Prost, Vic.“
Es war das erste Mal, daß er Hunt formlos ansprach.
„Prost.“
„Zu den Sternen.“
„Zu den Sternen.“
Irgendwo außerhalb der Stadt ertönte ein dumpfes Donnern. Sie blickten aus dem Fenster und sahen einen flammenden Strahl, mit dem sich eine Wega-Fähre von der fernen Startrampe löste. Erregung wallte in Hunt auf, als er dieses Bild in sich aufnahm. Es war ein Symbol für den elementaren Drang der Menschheit, nach vorn zu eilen, und er schickte sich an, ein Teil davon zu werden.
* * *
Fortsetzung: Teil 3
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Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.
Lucifex
/ November 12, 2018Hier ist James P. Hogan zwar mit den „Vereinigten Staaten von Europa“ wieder etwas zu supranational unterwegs (und die Sowjetunion gibt es in dieser Zukunft auch noch), aber die aufgezählten Länder umfassen praktisch die gesamte traditionell weiße Welt – und sonst nichts. Weder China, Japan oder Indien ist dabei, noch Brasilien, Mexiko oder irgendein Teil des Moslemgürtels von Mauretanien bis Pakistan (von Schwarzafrika ganz zu schweigen).
Diese Aufzählung im gegebenen Zusammenhang drückt also implizites Weißentum des Autors aus, und der Schluß von Gregg Caldwells oben zitierter Rede macht aus dem Ganzen eine Vision im Sinne einer Weißen Allianz.
Kevin Alfred Stroms Zu den Sternen sei auch wieder einmal verlinkt.