Von der Virtualität zur Realität: Memoiren eines geläuterten Fernsehsüchtigen

Von Alex Kurtagic, übersetzt von Deep Roots (ursprünglich für „As der Schwerter“). Das Original From Virtuality to Reality: Memoirs from a Reformed TV Addict erschien am 26. August 2009 im Occidental Observer.

Vor zehn Jahren lebte und arbeitete ich in einer Ein-Zimmer-Wohnung in East Finchley, London. Ich hatte einen großen, rechteckigen Wohn-Eßbereich, von dem ein Teil mein Büro war. Mein Tag begann mit der Ankunft des Briefträgers vor 9 Uhr morgens, der Pakete mit CDs und Kundenbestellungen brachte, ging weiter mit der täglichen Bearbeitung der Bestellungen, Beantwortung von E-Mails und Vorbereitung und Verschickung von Paketen, und er endete mit Recherche- und Entwicklungsarbeit.

Um 7 Uhr abends jedoch hörte ich auf und schaltete das Fernsehgerät ein – ständig, um die Nachrichten zu sehen. Und von da an bis ich zu Bett ging, unterbrochen nur durch gelegentliche Einlagen von Gitarrespiel, blieb ich vor dem Fernsehgerät auf dem Sofa sitzen oder liegen und sah Sendung um Sendung – alles von milder Unterhaltung bis zum am wenigsten Anstrengenden, das im Angebot war. An Freitagen blieb ich länger als üblich auf (und sah fern), und an Wochenenden schaltete ich das Gerät noch früher ein und blieb bis in die frühen Morgenstunden hypnotisiert vor dem Bildschirm. Ich rechne, daß ich zwischen 1994 und 2001 im Durchschnitt auf über 7 Stunden pro Tag kam, 50 Stunden pro Woche, 2.548 Stunden pro Jahr, und 17.836 Stunden insgesamt – die eine Doktorarbeit benötigt annähernd 7.300 Stunden bis zur Fertigstellung.

Zum Glück für mich war ich während dieser Zeit nicht gänzlich unproduktiv: zwischen 1995 und 1998 stellte ich drei Alben zusammen, zeichnete viele Albencover und brachte mir Spitzen-Computerprogramme bei; ich trainierte auch dreimal pro Woche mit Gewichten, hatte Freundinnen und fand Zeit, eine ziemliche Anzahl kognitiv anregender Bücher zu lesen. (Zu letzteren gehörten Tipler & Barrows The Anthropic Cosmological Principle, Roger Penroses The Emperor’s New Mind, Prestons Franco, Coveney & Highfields The Arrow of Time, plus einige klassische Romane.)

Jedoch habe ich mich seit dem Sommer 2002, als ich meiner Fernsehsucht ein Ende setzte, oft gefragt: Wie viel mehr hätte ich in meinen 20ern erreichen können, wenn ich nicht so viel Zeit für eine letztendlich unergiebige und unproduktive Aktivität verschwendet hätte? Und: Wie viel besser wäre ich darauf vorbereitet, den Herausforderungen der dystopischen Zukunft zu begegnen, die ich in meinem Roman Mister vorwegnehme (eine Zukunft, die kommt), wenn ich diese Zeit damit verbracht hätte, etwas darüber zu lernen, wer und was hinter der Welt steckt, in der ich lebe, statt in die Wohlfühlfiktionen eingetaucht (und durch sie abgelenkt) zu bleiben, die dazu geschaffen wurden, das zu verbergen?

Es gab natürlich gute Gründe für diese Sucht: Wegen der häufigen Umzüge und Schulwechsel (besonders während meiner Teenagerjahre) gewann ich typischerweise in einem Jahr Freunde und mußte im folgenden Jahr von vorn anfangen. Es bedeutete auch, daß all meine Freundinnen in diesem Zeitraum mitten in einer Beziehung wegzogen. Die häufigen Brüche wurden durch die Tatsache erschwert, daß Leute wie ich, die in Ländern mit unterschiedlichen Kulturen aufgewachsen sind, eine schlechte Erfolgsbilanz darin haben, enge Freundschaften zu schließen und in Kontakt mit denen zu bleiben, mit denen man Freundschaften schließt (siehe Dr. R. A. Bergemanns „Global Leaders: A Review of the Globalite Culture“).

Das Ergebnis war, daß während der Neunziger mein gedeihendes Unternehmen, das um mich herum konstruiert war und von zu Hause aus betrieben wurde, fern von Familie und Freunden, bald zu einem Eremitendasein führte. Das Fernsehen wurde so zu einem Ersatz für reale menschliche Interaktion – und eine, die mir sehr zupaß kam, da ich, nachdem ich mich nicht mit vorbeischauenden Menschen befassen mußte, mit Besuchern und Wohnungsnachbarn, oder mit regelmäßigen sozialen oder familiären Verpflichtungen, zu jeder Zeit an meinem Unternehmen und meinen Projekten arbeiten konnte – worauf ich mich konzentrieren wollte.

Meine Gewohnheit des Fernsehens entstand während der Kindheit. Meine Eltern waren sehr auf ihre Firmenkarrieren fokussiert, und ich war ein Einzelkind, daher verbrachte ich vom Alter von sieben Jahren an die meisten Nachmittage nach der Schule allein (davor hatten meine Eltern ein Hausmädchen). Der Schulbus setzte mich ab, ich sperrte unsere Wohnung auf, und ab vier Uhr sah ich fern. Meine Eltern kamen am frühen Abend nach Hause, meine Mutter kochte mir das Abendessen, und wir alle setzen uns zum Fernsehen hin, bis ich um neun Uhr herum ins Bett geschickt wurde. Da ich ein kreativer Typ bin, konnte ich natürlich nicht einfach vier oder fünf Stunden in einem vegetativen Zustand dasitzen. Während meiner ganzen Kindheit machte ich Tausende Zeichnungen, während ich vor dem Fernsehgerät saß. Ich schrieb auch alle Zahlen von 1 bis 10.000 zweimal nieder, katalogisierte jedes zwischen 1940 und 1979 gebaute amerikanische Automodell und prägte sie mir ein, plus alle Modelle von Mercedes Benz, und ich lernte, welcher Nummerncode welchem Farbton im gesamten Buntstiftsortiment von Berol Prismacolor entsprach.

Angesichts solch intensiver Einwirkung durch dieses Medium wurde meine Sicht der Erwachsenenwelt jenseits meiner Eltern unvermeidlicherweise durch das Fernsehen geformt – nicht so sehr jedoch durch das Kinderprogramm, sondern durch die unaufhörlichen Krimisendungen, die meine Eltern gern sahen: Kojak, Canon, McCloud, Starsky and Hutch, Columbo.

Dies zeigt sich in den Karikaturen, Comics und Animationen, die ich als Kind zeichnete, wie auch in meiner Auswahl von Lego-Bauten: Ich zeichnete und baute Autos, mit denen ich dann die Autojagden nachspielte, die ich im Fernsehen gesehen hatte (besonders diejenigen aus dem Film The Driver von 1978, zu sehen hier und hier). Es beeinflußte auch mein Schreiben: mit 12 Jahren schrieb ich eine Mordermittlungsgeschichte á la Columbo im Umfang von 15.000 Worten, und sogar über ein Vierteljahrhundert später wies mein Roman „Mister“ umfangreiche Szenen mit Polizeiverhören, Polizeirevieren und Polizeiarrestzellen auf, die diejenigen parodierten, die ich in den effekthascherischen Krimisendungen gesehen haben mußte, mit denen ich während der 1970er bombardiert wurde. Das Ausmaß, in dem meine Weltsicht von dem geformt wurde, was ich im Fernsehen sah und hörte, wurde mir erst Jahre später klar, nachdem ich aufhörte, seinen Inhalt zu konsumieren.

Mir war immer bewußt, daß ich ein eifriger Fernsehkonsument war, aber erst im Januar 1995 erkannte ich erstmals, daß ich psychologisch von diesem Medium abhängig geworden war und daß es einen enormen kognitiven Raum in meinem Leben ausfüllte. Als mein Fernsehgerät kaputtging und ich gezwungen war, es eine Woche lang in einer Reparaturwerkstatt zu lassen, erwies sich die plötzliche Stille zu Hause als akut beunruhigend. Der Zugang zu einer CD-Kollektion milderte etwas die niederdrückende Stille um mich, aber das war bevor ich Zugang zum Internet hatte, und Musik konnte die Verbindung zur Außenwelt nicht ersetzen, die das Fernsehen mir geboten hatte – wenn auch in seiner eigenen vermittelten und verzerrten Weise. Und die Grimmigkeit meiner materiellen Umstände zu der Zeit war gewiß wenig Hilfe. Ich ergatterte schnell einen Ersatz, den ich in Form eines kleinen Radioweckers fand, und dieser ließ mich – knapp – durchhalten, bis ich mein Fernsehgerät wiederbekam. Ich ließ einen atmosphärenkräuselnden Seufzer der Erleichterung los, als ich es endlich anschließen und wieder einschalten konnte.

American Time Use Survey (ATUS) 2003 ; Quelle: Bureau of Labor Statistics, Dept. Of Labor, US-Regierung

Wie bei vielen Menschen gab es Sendungen, die ich um nichts in der Welt versäumen wollte, und ich strukturierte mein Leben um das Fernsehprogramm. Gelegentlich führte das zu wahrlich absurden Situationen. Später in diesem Jahr kürte mich zum Beispiel Creative Review, ein Monatsmagazin, das einiges vom Besten der zeitgenössischen Werbung, Design, Illustration, neuen Medien, Fotografie und Typografie präsentierte, zum besten Magazinillustrator des Jahres, verlieh mir einen Preis, stellte mich und meine preisgekrönte Illustration in ihrer jährlichen Doppelausgabe vor und ließ meine Illustration am Royal College of Art in London ausstellen, wo sie einen Empfang gaben. Statt mich zu beeilen, dort anwesend zu sein, entschloß ich mich jedoch dazu, zu Hause zu bleiben und einen hitzigen – aber völlig irrelevanten – parlamentarischen Austausch zwischen dem damaligen konservativen Innenminister Michael Howard und seinem Schatten Jack Straw in der Labour Party anzusehen, bei dem es um eine Frage im Zusammenhang mit der Strafvollzugsbehörde ging. Ich schaffte es schließlich zu dem Empfang, aber erst nahe dessen Ende. Und traurigerweise bereute ich meine Entscheidung nicht einmal.

Ein anderes Mal, wo ich mir meiner psychologischen Abhängigkeit vom Fernsehen bewußt wurde, war, als ich im Oktober 2000 in ein halb ländliches viktorianisches Dreizimmerhäuschen in Surrey zog. Vor dem Umzug hatte ich sichergestellt, mit Sky (dem größten Satellitenfernsehanbieter des Vereinigten Königreichs) die Montage einer Satellitenschüssel gleich am Tag nach meinem Einzug zu terminisieren, denn ich war absolut entschlossen, eine Folge einer bestimmten Dokumentation nicht zu versäumen, die ich zu der Zeit mitverfolgte.

Erwachen und Läuterung

Das Fernsehen war für mich – und für viele andere im Westen – zu einer elektronischen Droge geworden, und nach 27 Jahren fortwährenden Kontakts damit hätte ich mich – wenn die Umstände unverändert geblieben wären – vielleicht nie von dieser Gewohnheit geheilt – oder auch nur einen Grund dafür gefunden, es zu versuchen. Zum Glück fanden jedoch zwischen 2000 und 2001 drei Ereignisse statt, die den Griff des Mediums auf meinen Geist lockerten.

Erstens meldete ich mich im Mai 2000 bei Sky an. Dies gab mir plötzlich Zugang zu Hunderten von Kanälen und führte zu einem anfänglichen starken Anstieg des Fernsehkonsums. Jedoch hatte die erweiterte Auswahl zu gegebener Zeit die Auswirkung, daß meine Fernsehkost sich auf strikt umrissene Kategorien verengte: in meinem Fall waren es hauptsächlich Nachrichten, Weltraumdokumentationen und Science-Fiction-Filme. Solch eine monotone Diät machte es schließlich leichter, zunehmend weniger Befriedigung vom Fernsehen zu erhalten – ein Prozeß, der 2002 von Forschern identifiziert wurde, die die Fernsehsucht untersuchten.

Zweitens verlor David Irving seine Berufung gegen Richter Grays Entscheidung im Diffamierungsprozeß gegen Deborah Lipstadt. BBC Radio 4 berichtete in der Sendung „Today“ über Irvings Niederlage, wo er von John Humphries aggressiv interviewt wurde. Ich hatte den Prozeß nicht mitverfolgt oder überhaupt davon gewußt, bis Irvings ursprüngliche Niederlage im April 2000 dazu führte, daß er von Jeremy Paxman in der BBC-Fernsehsendung „Newsnight“ interviewt wurde. Der Radiobericht über Irvings Mühen führte mich – weil ich gern beide Seiten einer außergewöhnlichen Geschichte höre – auf seine Webseite, was Zugang zu einer alternativen Perspektive auf die Welt bot.

Es war der interdisziplinäre Prozeß des Versuchs zu bestimmen, ob Irving die Wahrheit sagte oder in der Tat ein Fälscher war – wie von den Mainstream-Medien behauptet – der mir bewußt machte, wie Geschichte und Methodiken der Geschichtsschreibung ein Prozeß sein können – und in der Tat sind – durch den politisierte Fraktionen mit konkurrierenden Machtagenden versuchen, eigennützige Versionen der Realität zu konstruieren, im Versuch, kulturelle Hegemonie zu gewinnen oder aufrechtzuerhalten. Die Interaktion zwischen dieser Recherche und meiner Studienausbildung in Kunst, Video, Soziologie und Medienwesen ermutigte mich dazu, eine zunehmend kritische Sicht auf das einzunehmen, was mir über den Fernsehbildschirm präsentiert wurde.

Und drittens fand 9/11 statt. Ich hatte meine eigene persönliche Verbindung zu den Zwillingstürmen, nachdem ich als erstaunter Fünfjähriger im Dezember 1975 darin gestanden hatte, aber, was am wichtigsten war, in dem Moment, in dem ich die rauchenden Ruinen auf dem Fernsehschirm sah und von der Flugzeugentführung erfuhr, wußte ich jenseits allen Zweifels, daß der Anschlag eine Konsequenz der pro-israelischen Außenpolitik der US-Regierung im Nahen Osten war. Die Recherche, die ich im Versuch durchführte, das Ereignis besser zu verstehen, hob den Neokonservatismus hervor und führte mich zu den unausweichlichen Kontroversen, die den Zionismus in Amerika und jüdische Macht und kulturellen und wirtschaftlichen Einfluß umgeben.

Rückblickend überrascht es nicht, daß die Erleuchtung Depressionen brachte. Einerseits war es faszinierend zu entdecken, daß es eine ganze Schicht der Realität gab, über die ich völlig unwissend gewesen war und die die Existenz mit einem neuen Niveau der Komplexität – und Gefahr – erfüllte. Andererseits war es deprimierend herauszufinden, daß der gegenwärtige Lauf der Geschichte nicht in die Zukunft der umwerfenden Technologien, Weltraumforschung und wissenschaftlichen Entdeckungen führte, die ich mir durch meinen Kontakt zur Science Fiction vorgestellt hatte, sondern in eine düstere Zukunft des kulturellen Niedergangs, allgemeiner Armut, staatlich geförderter Unterdrückung und intellektuell orchestrierten rassischen Aussterbens.

Sobald ich einmal gegenüber diesen Realitäten erwacht war, wurde es zunehmend schwierig, nicht ein beständiges und alles durchdringendes Muster semiotischer Tendenz und Täuschung wahrzunehmen, das in allen westlichen Fernseh- und allgemeinen Medieninhalten codiert war. Weiters wurde es zunehmend leicht zu identifizieren, wie diese Inhalte von plutokratischen, ideologisch harmonierenden und oft stammesbasierten Cliquen entworfen, gesponsert oder sonst wie geformt worden waren, die ein Interesse daran hatten, Opposition gegen ihre schändliche Ordnung durch bewußte oder halb-bewußte Strategien öffentlicher Ablenkung, Desinformation, Enkulturation und Infantilisierung zuvorzukommen und zu neutralisieren.

In anderen Worten, ich begann zu sehen, daß das Fernsehen nicht einfach ein Unterhaltungslieferant für sein hirnloses Publikum war, eine Beschäftigungsquelle für seine frivolen Profis und eine Quelle des Profits für seine geldhungrigen Eigentümer, sondern auch ein kognitives Betäubungsmittel, das einen nicht-bedrohlichen, systemerhaltenden Lebensstil oberflächlichen und trivialen Wissens, politischer Konformität und Passivität und narzisstischen, vergnügungsorientierten Konsums förderte. Eine Gesellschaft, deren Bevölkerung unwissend, ortsgebunden und materialistisch ist, ist keine Gesellschaft, deren akademisches, politisches und Medienestablishment  seine Delogierung und Deprivilegierung durch gewaltsame Revolution fürchtet.

Es erwies sich schließlich als normaler und logischer Schritt, daß ich eines Abends im Sommer 2002 die bewußte Entscheidung traf, das Fernsehgerät nicht einzuschalten und stattdessen das System anzugreifen, das mich loswerden wollte, indem ich mich selbst bilden und mich schließlich in irgendeiner Form oppositioneller Aktivität engagieren würde. Ich habe nie zurückgeschaut.

Der Blick von der anderen Seite

Mein neues Leben als Nichtkonsument des Fernsehens warf sofort bedeutende Gewinne ab. Plötzlich hatte ich sieben zusätzliche Stunden pro Tag, die ich ins Lernen und Schaffen investieren konnte: Ich nahm mein drittes Album auf und stellte ein viertes zusammen und nahm es auf; ich las hunderte ernsthafter Sachbücher plus die griechischen und römischen Klassiker; ich lernte eine dritte Sprache und begann eine vierte zu lernen; ich machte einen Abschluß in einem Zusatzstudium; ich vermehrte mein Sozialkapital; ich begann Romane zu schreiben; ich traf ein talentiertes und schönes Mädchen und heiratete es; und vieles mehr. Ich glaube, ich habe in meinen 30ern mehr erreicht und beigetragen, als ich es je in meinen 20ern tat.

Der Anfang dieses neuen Lebens war durch eine vehement negative Einstellung zum Fernsehen definiert: Erzürnt darüber, daß ich so viel wertvolle Zeit verschwendet hatte, war ich, wie es wohl normal und natürlich ist, vom Eifer des Bekehrten besessen. Mit der Zeit reifte diese Einstellung jedoch zu einer der wissenschaftlichen Distanz, und ich konnte ohne Angst vor einem Rückfall in das Medium eintauchen und wieder herauskommen, um zu erhalten, was ich brauchte. (Tatsächlich kann sich meine Frau, die mich nie als Fernsehsüchtigen kannte, mich gar nicht unter einem solchen Zustand leidend vorstellen.)

Es erschien schließlich als soziologisch interessantes Phänomen, wie das Fernsehgerät die physische und psychologische Achse der meisten westlichen Wohnzimmer ist; wie die Berichte und Analysen der Abendnachrichten oft – wörtlich und unhinterfragt – am folgenden Morgen in der Bürokonversation wiederholt werden; wie gebildete Profis vehement Einstellungen wiedergeben, die oft unlogisch oder gegen ihre eigenen Interessen sind, einfach weil letztere vom Fernsehen normiert worden sind; oder wie hochintelligente Zuseher obsessive Beziehungen zu bestimmten Sendungen und starke Bindungen an fiktive Charaktere entwickeln und stellvertretend durch sie leben.

Was mir jedoch am meisten auffiel, war das Ausmaß, in dem Verhaltensweisen, Äußerungen und Gegenüberstellungen von Tönen und Bildern auf dem Bildschirm, die ich als Süchtiger als normal akzeptiert hatte, plötzlich als unverhohlen ideologisch, schnickschnackbeladen, revisionistisch und grotesk künstlich erschienen. Ich wußte immer, daß das von jedem Film oder Programm stammesorientierter Regisseure und Produzenten wie Steven Spielberg oder Spike Lee zu erwarten war, aber Tatsache war, daß dies selbst auf die unwahrscheinlichsten und scheinbar unverfänglichsten Programme zutraf, wo dieselben bösartig politkorrekten, antiweißen, hedonistischen, materialistischen, postmodernistischen Botschaften verschlüsselt und in unterschwellige Metaphern verkleidet waren (In „Mister“ persiflierte ich das, indem ich in meine dystopische Zukunft die Existenz einer esoterisch-hitleristischen Untergrundversion von Space: Above and Beyond [in Deutschland als „Space 2063“ gesendet] geschrieben habe.)

Kurz, Stil und Inhalt des Mediums Fernsehen, über die ich mir früher niemals Gedanken gemacht habe, weil sie mir als eine nicht zu hinterfragende Eigenschaft des Mediums selbst erschienen, stellen sich mir heute glasklar als das dar, was sie sind: die zwischen den Zeilen versteckte Suggestion eines über-verbalen, sehr neurotischen, liberalen, urbanen, kosmopolitischen und (trotz des scheinbaren Widerspruchs) autoritären Kollektivbewußtseins – Attribute, die Kevin MacDonald in verschiedenen jüdischen intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts identifiziert hat.

Und in diesem Kontext wurde es für mich besonders alarmierend, als ich sah, wie der Teenager-Sohn meines Nachbarn eifrig Episoden von Friends konsumierte und sich seine Weltsicht unterbewußt und in zunehmendem Maß von dessen Autoren und ihresgleichen formen ließ, denn diese hatten – wie zu dieser Zeit für mich bereits offensichtlich – Ansichten, Einstellungen und Erwartungen, die in bedeutender Weise mit jenen europäischstämmiger Völker in Konflikt standen. Die ehrfurchtsvollen Bezugnahmen auf Freud, die man in Serien wie Frasier sieht, waren nur die Spitze des Eisbergs.

Ein simpler Akt

Angesichts der Verbreitung des Fernsehens als Medium im Westen und der Abhängigkeit seines Inhalts von der Großzügigkeit und Tolerierung seitens kleiner, ineinandergreifender Cliquen von Individuen mit äußerst kompatiblen politischen, ethnischen, wirtschaftlichen und/oder kulturellen Interessen ist es schwierig, keine politische Sicht darauf zu haben. Die meine ist die, daß – wenn man mit dem Status quo nicht zufrieden ist, wenn es einem düster erscheint, daß die Zukunft in den höchsten Rängen der Macht für einen entschieden wird, wenn man glaubt, daß man von einem feindseligen oder ruchlosen Establishment regiert wird – einer der ersten Akte des Widerstands, die einem zur Verfügung stehen, ein Embargo gegen die primäre Massenablenkungswaffe dieses Establishments ist: das Fernsehen.

Eine hypoglykämische Sofakartoffel, die vor einem via Fernsehen übertragenen Boxkampf döst, ein nach seinen nervösen Gegenstücken in „Friends“ modellierter Metrosexueller, und allgemein ein selbstzufriedener, oberflächlich denkender Konsument, dem man keinen Anlaß gibt, die modernen Mythen des sozialen Fortschritts und endlosen Wirtschaftswachstums in Frage zu stellen, mag sich gelegentlich über lügende Politiker beschweren (soll heißen, ein wenig mehr, als er sich zu sagen traut). Aber es ist unwahrscheinlich, daß eine solche Person einen bewaffneten Aufstand anführt oder sich sonst wie aktiv an der Vertreibung eines schädlichen Establishments teilnimmt.

Und weil es eine Quelle der Propaganda ist, ist das Fernsehen besonders wirksam bei der Neutralisierung der fähigsten Elemente in einer Bevölkerung (siehe Jacques Elluls Propaganda). Daher macht der Boykott des Fernsehens Ihren Geist, Ihren Körper und eine Menge kreativer Zeit frei, die gewinnbringend in Selbstverbesserung, Beziehungen, Netzwerkerei, Vorbereitung, Opposition und Veränderungen investiert werden kann.

Man sollte immer wieder daran denken, daß jede Minute, die jemand für eine produktive Tätigkeit verwendet, während alle anderen zu Hause sitzen und fernsehen, diesem einen Vorteil verschafft und er dadurch Kontrolle über sein Schicksal übernimmt. Wenn er diese Anstrengung beibehält und effektiv kanalisiert, könnte er eines Tages die Ereignisse formen können, während die Fernsehzuschauer von ihnen geformt werden.

Kommentatoren und Theoretiker der Rechten konzentrieren sich oft auf Makroereignisse, große Verschwörungen, historische Morphologie, evolutionäre Trends und Zivilisationszusammenbruch – und dies ist alles gut und schön, da darüber kommentiert und theoretisiert werden muß. Aber die Konzentration auf Metanarrative und Metapolitik kann einem ein Gefühl der Verzweiflung einflößen: Die Ereignisse sind zu groß, als daß ein bloßes Individuum eine Wirkung haben kann, so scheint es.

Dies ist ein Fehler.

Die Wahrheit ist, daß die großen Veränderungen, die da draußen stattfinden, kleine Anfänge hatten und oft mit einem einzelnen Individuum begannen, das eine einfache Handlung setzte. Daß jene Veränderungen zu einer allesfressenden Monstrosität herangewachsen sind, verdankt sich nicht ihrer Unvermeidlichkeit, sondern dem Fehlen einer informierten, fokussierten und wirksamen Opposition.

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

3 Kommentare

  1. Erstaunlich, was ich in meinem Fundus immer noch für Sachen finde, die ich auf „Morgenwacht“ noch nicht nachveröffentlicht habe, so wie diesen hier von Alex Kurtagić. Dabei hatte ich gedacht, ich hätte so ziemlich alles von ihm schon hierher übernommen.

    Dieser Essay ist auch einer der wenigen, wo Kurtagić auch die jüdische Rolle bei all dem anspricht, was er richtigerweise als problematisch beschreibt (eine weitere solche Ausnahme ist Flugreisen im Kali Yuga).

  2. STEFAN MATUN

     /  Oktober 27, 2018

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