Ace of Swords: Alles auf eine Karte (Teil 2)

Eine Science-Fiction-Geschichte von Deep Roots alias Lucifex.

Zuvor erschienen: Teil 1, Teil 1b und das Glossar

 6) Zu dunklen Ufern

Die Queen of Altavor schwebte antriebslos in der Umlaufbahn von Krelang, dem dritten Planeten der sechsunddreißig Lichtjahre von Sol entfernt im Sternbild Vela gelegenen K5-Sonne Gliese 370. Das Schiff hatte gerade einen dreitägigen Aufenthalt auf dieser kühlen Welt beendet, wo es in einem Kratersee auf dem Kontinent Quatarn in den nördlichen Subtropen gewassert hatte, um seinen Passagieren die Besichtigung der um jenen See herumgebauten Ruinenanlage zu ermöglichen. Niemand wußte, wer die Schöpfer dieser überwucherten, aus Natursteinblöcken, Metallen und Synthetikmaterialien errichteten Bauten waren; auch die Lwaong hatten sie bereits als Ruinen vorgefunden. Es gab weitere, kleinere Anlagen solcher Art auf dem unbewohnten Planeten, aber es deutete nichts darauf hin, daß ihre Erbauer sich hier auch entwickelt hatten. Von dem im Wasser schwimmenden Raumschiff aus waren mitgeführte Gleiter gestartet, um die Passagiere bei den Ruinen abzusetzen oder sie zu entfernteren Plätzen zu bringen, wo sie Wanderungen zur Beobachtung der heimischen Natur unternommen hatten. Schließlich war die Queen of Altavor wieder gestartet, und nun zog sie in kaum hundertdreißig Kilometer Höhe über der vom flach einfallenden Sonnenlicht gelb beschienenen Wolkendecke dahin und wartete hilflos auf das nahende Verhängnis.

Kurz nach Erreichen der minimalen Orbitalgeschwindigkeit war sie von einem von fünf Schiffen angerufen worden, die vom inneren Mond her gekommen sein mußten und ihr den Weg in den freien Raum abgeschnitten hatten. Die Piraten, als die sie sich herausstellten, hatten sie zum Stoppen des Antriebs aufgefordert und ihrer Forderung mit einer kurzen Salve von Kinetic-Geschossen Nachdruck verliehen. Diese hatten zwar keine ernsthaften Schäden verursacht, aber bei Besatzung und Passagieren für eindeutige Kapitulationsbereitschaft gesorgt. Dann war gefordert worden, daß als erstes Kapitän Agbaye in einem Raumanzug zum Führungsschiff der Piraten überwechseln solle, sobald dieses ausreichend nahe neben der Queen schwebte, um sich als Geisel zu stellen. Mit ernster Miene hatte er sich von seiner Kontrollraumbesatzung verabschiedet und Catriona Gerling das Kommando für die weiteren Übergabemaßnahmen übertragen, ehe er seinen Raumanzug angelegt hatte und durch eine Luftschleuse in der Rumpfflanke ausgestiegen war, um zum Leitschiff der Angreifer hinüberzuschweben und in dessen offener Schleuse zu verschwinden. Hinter ihm traten stellenweise immer noch Dampffahnen aus Einschußlöchern aus und wurden von der extrem dünnen Restatmosphäre in dieser Höhe nach hinten verweht.

Jetzt beobachtete Catriona in banger Stimmung, wie sich zwei der Schiffe den weiter vorn beiderseits des Rumpfes befindlichen Andockschleusen näherten, das Leitschiff von steuerbord und ein weiteres von backbord. Nach deren Andocken aktivierte sie in Abstimmung mit den Piraten drei Manövrierantriebe auf gerade soviel Schub, daß die Abbremsung durch den nicht spürbaren, aber meßbaren Luftwiderstand ausgeglichen und ein Absinken der Flugbahn verhindert wurde. Auf den Bildschirmen der Überwachungskameras im öffentlichen Passagierbereich beobachtete sie, wie die vermummten Piraten eindrangen und die verängstigten Passagiere und Besatzungsmitglieder nacheinander gefangennahmen und zu den Andockschleusen führten. Da Catriona befehlsgemäß die Notentsperrung der Schließanlage im gesamten Schiff betätigt hatte, konnte sich auch niemand durch Einsperren in Kabinen oder anderen Räumen dem Zugriff der Verbrecher entziehen. Unter diesen war nun auf den Bildschirmen ein Trupp zu sehen, der offensichtlich in Richtung Zentrale unterwegs war und von einer unmaskierten Mulattin in Begleitung zweier Xhankh angeführt wurde.

Catriona wußte sofort, wer das war: Ndoni Kaunda, die Anführerin einer größeren Bande, die mehrere Schiffe besaß und gelegentlich auch gemeinsame Aktionen mit anderen Piraten durchführte. Für sie war es überflüssig, ihre Identität zu verbergen, da sie bereits einmal verhaftet worden, aber wieder entflohen war. Der kaukasoide Typ mit dem dunklen Kraushaar in ihrer Begleitung mußte Morris Wiener sein, einer ihrer Unterführer und gerüchteweise auch Liebhaber. Drei der anderen Männer trugen Kameras, und nun hatte Catriona Gewißheit, daß die Gruppe auf dem Weg zu ihr war. Man hatte ihr nämlich über Funk unverblümt mitgeteilt, daß es bereits fünf fixe Interessenten gebe, die sie als Sklavin kaufen wollten, und einer davon wolle sie unter anderem als Darstellerin für Weltraum-Pornos verwenden. Ihr war aufgetragen worden, bei der Gefangennahme ihre Rolle als Jolene Rogers im Film River of Stars, River of No Return zu spielen, mit dem sie seinerzeit eine gewisse Bekanntheit erlangt hatte. Die Aufnahmen sollten dem Interessenten übermittelt werden, der sie für seinen ersten Film mit Catriona verwenden wollte, falls es ihm gelingen würde, sie zu ersteigern. Man hatte ihr eingeschärft, daß es von ihrer Kooperation abhängen würde, ob im Zuge der Szene jemand von ihren Kollegen getötet würde oder nicht. Sie hatte schreckliche Angst, und das würde genau die gewünschte Realistik ihres Gesichtsausdrucks und des Klangs ihrer Stimme bewirken.

Die Tür ging auf, und die Piraten betraten die Zentrale mit gezogenen Waffen. Catriona hob ihre Hände, und die anwesenden Besatzungsmitglieder, der Funker und der Flugingenieur, taten es ihr nach. Vorneweg kam Ndoni Kaunda auf sie zu, flankiert von den beiden chitingepanzerten Xhankh.

„Sieh mal an, Jollie Rogers!“ wandte die Piratenführerin sich an Catriona. „So sieht man sich wieder. Bist also eine ehrbare Raumfahrerin geworden, was?“

Catriona schluckte. Mit belegter Stimme antwortete sie ihrer Rolle gemäß:

„Im Gegensatz zu dir, Miststück. Du bist in die andere Richtung gegangen.“

„Als ob ich nicht sowieso schon Rechnungen mit dir zu begleichen hätte, Jollie“, entgegnete Kaunda mit schmalen Augen und trat vor Catriona hin. Mit einer Kopfbewegung bedeutete sie Morris Wiener, hinter Catriona zu gehen, und dieser stellte sich hinter sie, packte ihre Arme und drückte sie ihr hinter dem Rücken mit den Ellbogen aneinander. „Dir wird noch einiges leid tun, Jollie“, fuhr Kaunda fort und ohrfeigte sie links und rechts, „und wie es dir leid tun wird!“ Sie zog den Reißverschluß von Catrionas grünem Overall mit einem Ruck bis zur Taille auf, und Wiener riß ihr das Kleidungsstück über die Schultern und Oberarme zurück, sodaß sie barbusig dastand, worauf Kaunda sie noch einmal ohrfeigte. Während er die Arme seines Opfers mit dem zurückgestreiften Overall zusammenhielt, band ein weiterer Mann sie oberhalb der Ellbogen mit einem Synthetikseil fest zusammen. Dann zog Wiener die Ärmel ganz herunter, und Catrionas Handgelenke wurden ebenfalls verschnürt. Nun öffnete Kaunda den Reißverschluß bis zum Schritt, ging in die Hocke und schälte Catriona ganz aus dem Overall, wozu sie ihr die Bordschuhe ausziehen mußte. Während all dies von den drei Kameramännern in verschiedenen Einstellungen aufgenommen wurde, streifte sie ihr auch den Slip herunter und stand auf. Wiener drückte ihr dann noch einen roten Ballknebel zwischen die Zähne und schnallte ihn fest. Nachdem man ihr auch noch eine Kette eng um den Hals geschlungen hatte, wurde sie daran von Kaunda aus der Zentrale geführt.

Im breiten Korridor zwischen den beiden Andockschleusen stauten sich die Menschen. Hier wurde eine Sortierung vorgenommen: Passagiere, für die hohes Lösegeld gefordert werden konnte, wurden in das backbords angedockte Schiff geführt. Frauen, für die der zu erwartende Erlös beim Verkauf als Sklavinnen höher war als das Lösegeld, das ihre Angehörigen aufbringen konnten, kamen in Kaundas Schiff an Steuerbord. Das betraf vor allem die weiblichen Besatzungsmitglieder, aber auch allein reisende Frauen mit nicht ganz so gutsituiertem Hintergrund, deren Familien durch die Drohung, sie in die Sex-Sklaverei zu verkaufen, zu möglichst rascher und hoher Lösegeldzahlung genötigt werden sollten.

Dies war ein wesentlicher Aspekt der modernen Raumpiraterie, wie Catriona aus Insidergesprächen unter Raumfahrern wußte: Neben dem Zurückverkauf der gekaperten Schiffe an die Eigner, dem Verkauf wertvoller Fracht und dem Eintreiben von Lösegeld für wohlhabende Passagiere war bedeutender Profit mit jener Ware zu machen, für die unter den schwerreichen, moralisch verkommenen Eliten besondere Nachfrage bestand: Frauen zum illegalen Besitz als Sklavinnen. Besonders gefragt waren weiße Frauen, da rein europäischstämmige Menschen kaum noch drei Prozent der Menschheit ausmachten und die Mehrheit der Reichen und Superreichen nichtweiß oder gemischtrassig war. Und die Weißen in diesem Elitemilieu waren großteils volksfern und pervertiert. Jedoch war das bisher für Catriona immer nur theoretisches Wissen um etwas gewesen, das nur anderen passierte, wie der griechischen Industriellenerbin Alcyone Poledouris, von deren Entführungsfall sie und Giulia vor Wochen über die Medien erfahren hatten.

Ihr war klar, daß sie selbst einen besonderen Fang darstellte: jung, schön, sportlich, weiß, blond und wegen ihrer Schauspielvergangenheit und ihres noch gelegentlich ausgeübten Nebenerwerbs als Fotomodell öffentlich nicht ganz unbekannt. Sie konnte sich denken, daß sie nun auch deshalb so vorgeführt wurde, weil man mit den Aufnahmen davon bei weiteren potentiellen Käufern Werbung für sie machen wollte. Leider war sie jedoch nicht reich, und ihre gesamte Verwandtschaft konnte unmöglich ein Lösegeld aufbringen, das ihren Marktwert als Sklavin überstieg. Ihr Leben – jedenfalls das, was man als solches bezeichnen konnte – war praktisch vorbei. Oh verdammter Kack, dachte sie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen, während sie durch die Andockschleuse in das andere Schiff geführt wurde. Dort öffnete Kaunda ihr Quartier, zerrte Catriona hinein und warf sie sie in der Mitte des Raumes zu Boden. Dann fesselte sie ihr die Füße mit einem Riemen, den sie zuvor durch die Handschlaufe der Führkette zog, sodaß sie schließlich mit angezogenen Beinen auf der Seite liegen mußte. „Ich laß‘ dich jetzt allein in deinem Elend“, sagte sie zu ihr, gab ihr einen Klaps auf den Hintern und stand auf. „Bis später, Jollie; wir werden noch viel Spaß miteinander haben.“ Und sie ging, gefolgt von den Kameramännern.

Währenddessen kroch Giulia Rossini in eine der kleinen Luftschleusen im hinteren Rumpfbereich der Queen of Altavor und schloß die innere Luke hinter sich. Sie trug einen Raumanzug, und an dessen Aufblähen konnte sie spüren, wie der Luftdruck in der Schleuse sank, nachdem sie die Entleerung gestartet hatte. Als das Meßinstrument in der Kammer Null anzeigte, öffnete sie nicht die nach außen führende Luke, sondern die dritte in der rückwärtigen Wand der Schleuse, durch die sie in einen Zwischenraum zwischen der eigentlichen Druckhülle und der äußeren Verkleidung gelangte. Hier befanden sich viele verschiedene Installationen – Rohrleitungen, Kabel und sonstiges Zeug -, deren Funktion ihr unbekannt war. Sie wußte nur so viel darüber, daß sie sicher sein konnte, hier weder verstrahlt noch gebraten oder elektrokutiert zu werden, falls eines der Antriebssysteme in Betrieb genommen wurde. Sie suchte sich einen einigermaßen bequemen Platz, befestigte die an ihrem Gürtel eingehakte Sicherheitsleine an einem geeignet erscheinenden Bauteil und stellte sich innerlich auf längeres Warten ein.

Kurz vor Beginn der Enterung hatte sie sich diese Versteckmöglichkeit überlegt und rasch die Vorbereitungen dafür getroffen. Sie hatte zwar keinen Plan gehabt, wie es nachher weitergehen sollte, falls die Piraten sie tatsächlich nicht fanden, aber für sie war klar gewesen, daß sie zunächst der Gefangennahme auf jeden Fall entgehen wollte.

Um zu verhindern, daß man sie gründlich und auch außerhalb des Habitatbereichs suchte, wenn ein eventueller Vergleich der Passagier- und Besatzungsliste mit der Gefangenenliste ergab, daß jemand fehlte, hatte sie vom Sicherheitsbüro aus noch schnell ihren Status in der Besatzungsliste auf „Reise wegen kurzfristiger Verhinderung nicht angetreten“ gefälscht. Ihren Vorgesetzten, den Sicherheitschef Suresh, hatte sie nicht mehr gesehen, sodaß sie sich nicht mit ihm hatte absprechen können. Nun wartete sie in der Dunkelheit ihres Verstecks die weiteren Entwicklungen ab.

Nach einer knappen Stunde spürte sie zweimal feine Erschütterungen des Schiffes ähnlich jenen beim Andocken der ersten beiden Schiffe und schloß daraus, daß nun die nächsten zwei angedockt hatten. Das bange Warten in Ungewißheit ging weiter, und während dieser ganzen Zeit plagten sie die Gedanken an das, was nun wohl mit ihren Freundinnen und allen anderen, die sie an Bord gekannt hatte, geschah. Sie fragte sich auch, ob sie nicht irgendjemanden davon hätte in ihr Versteck mitnehmen können. Ihr fiel keine Möglichkeit ein, und für Catriona hätte sie bestimmt nichts tun können, nachdem die Piraten Kundenbestellungen für sie erhalten und bereits mit ihr über Funk gesprochen hatten. Sie hätten das Schiff in allen Winkeln nach ihr abgesucht und dabei auch Giulia gefunden.

Eine weitere Stunde später gab es wieder einen Stoß, der diesmal gerade noch wahrnehmbar war. Das mußte das fünfte Schiff sein, ein kleines Scoutfahrzeug von einem Typ, der während des Krieges von der Raumflotte verwendet worden war. Während Giulia noch überlegte, wie lange es wohl dauern mochte, bis dieses die restlichen Gefangenen aufgenommen hatte und wieder von der Queen ablegen würde, fühlte sie, wie sie zunächst leicht und dann immer stärker gegen die innere Rumpfhülle gedrückt wurde. In diesem Bereich des Schiffes gab es keine künstliche Schwerkraft, und wenn Giulia jetzt Schwere spürte, bedeutete das, daß es beschleunigte. Anscheinend hatten die Piraten, die zuletzt an Bord gekommen waren, die Kontrolle übernommen und flogen es irgendwohin, wo es während der Rückkaufsverhandlungen mit der Reederei geparkt werden sollte. Ihr Scoutschiff war vielleicht noch seitlich am Rumpf angekoppelt und würde dann die interstellare Reise passiv wie ein Schiffshalterfisch an einem Wal innerhalb der Warp-Blase der Queen mitmachen. Ungewiß war, ob sie am Zielort wegfliegen und Giulia allein zurücklassen würden, in welchem Fall sie möglicherweise sehr lange bis zum Eintreffen eines Abholteams der Reederei würde ausharren müssen, oder ob sie an Bord bleiben und ihre Beute bewachen würden.

Etwa siebzig Minuten nach dem Start ließ die Beschleunigung nach und hörte dann ganz auf. Wahrscheinlich ging das Schiff nun in den Sublichtwarp über. Giulia löste ihre Sicherheitsleine und öffnete die Zugangsluke zur Luftschleuse. Drinnen stellte sie beim Blick auf die Druckdifferenzanzeige verblüfft fest, daß der Luftdruck im Schiffsinneren fast Null war. Wieso die Kerle die Luft aus dem Schiff abgelassen hatten (wohl mit Ausnahme der Zentrale, in der sie saßen), konnte sie sich nicht erklären, aber es bedeutete für Giulia, daß sie noch eine unbestimmte Zeit mit dem Sauerstoffvorrat ihres Anzugs würde auskommen müssen, von dem sie bereits gut drei Stunden lang gezehrt hatte. Es sei denn, sie konnte sich eine Reserveflasche besorgen, ohne dabei erwischt zu werden. Also los, dachte sie und öffnete vorsichtig die innere Schleusenluke. Der kleine Vorraum war leer. Sie zog ihre Dienstpistole aus dem Holster, das sie provisorisch am Ausrüstungsgürtel des Raumanzugs befestigt hatte, um die Waffe für Notfälle zur Hand zu haben. Zwei Magazine trug sie in der Gürteltasche anstelle des normalerweise darin verstauten Krimskrams, ein drittes steckte im Griff des Blasters. Das mußte reichen, bis sie den Raumanzug ausziehen und sich wieder normal ausrüsten konnte.

Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Tür zum Korridor und spähte erst schräg in die eine Richtung hinaus, bevor sie die Öffnung mit Blick in die andere Richtung und eng am Körper gehaltener Pistole passierte. Deren Abzugsbügel war für Männerhände großzügig dimensioniert, sodaß sie ihren im Raumanzughandschuh steckenden Zeigefinger gerade noch hineinstecken konnte. Auch hier war niemand, und so eilte sie unter ständigem Umsehen zum Außengeräteraum, wo unter anderem Raumanzüge und Sauerstofftanks gelagert waren. Das annähernde Vakuum im Schiff hatte zwar den Vorteil, daß sie sich nicht durch Geräusche verraten konnte, aber dadurch konnte auch sie nichts hören, das sich ihr vielleicht von hinten näherte. Am besten blieb sie vorerst im Geräteraum, bis sich Weiteres ergab. Als sie dessen Tür öffnete, brachte das die nächste Nervenanspannung, denn durch den Spalt sah sie, daß drinnen Licht brannte. Das konnte sowohl bedeuten, daß sich dort jemand aufhielt, aber auch bloß an der Einschaltautomatik liegen, die schon bei Betätigung des Türgriffs die Beleuchtung aktivierte. Erleichtert stellte Giulia fest, daß niemand im Raum war. Sie nahm einen der vollen Sauerstoffbehälter aus seiner Halterung und verdrückte sich damit in eine Nische, wo sie sich auf den Boden setzte.

Nach einer Weile bemerkte sie, daß ihr Anzug weniger steif war. Ein Blick auf die Druckanzeige verriet ihr, daß der Luftdruck im Schiff langsam wieder stieg. Was auch immer die Piraten mit dem Luftablassen bezweckt hatten, sie mußten es nun für erreicht halten. Als der Druck fast wieder normal war, nahm Giulia ihren Helm ab und legte ihn auf den Boden. Wenig später hatte sie sich auch aus dem Raumanzug geschält und ihre normale Bordkleidung samt Gürtelausrüstung wieder angelegt, die sie bei Beginn ihrer Unternehmung an dieser Stelle zurückgelassen hatte. Während sie noch unschlüssig überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, hörte sie, wie jemand in den Raum kam. Hastig drückte sie sich tiefer in ihre Nische zurück und hob den Laser im beidhändigen Anschlag neben ihren Kopf. Dann spähte sie in äußerster Anspannung nach rechts um die Ecke.

Ein Mann in einem Raumanzug stand dort und nahm gerade seinen Helm ab. Da er zur Tür schaute, konnte Giulia sein Gesicht nicht sehen. Sie trat hinter der Deckung hervor, zielte auf ihn und machte ein Klickgeräusch mit dem Mund. Erschrocken fuhr der Mann herum und ließ dabei seinen Helm auf den Boden fallen.

Winch?!“ Sie senkte die Waffe. Es war Chang, der Zweite Pilot. „Was tust du hier?“

Giulia! Oh verdammt, hast du mich erschreckt!“ Er hob den Helm auf. „Hoffentlich hat das Gepolter keiner gehört. Ach ja: und wieso bist du eigentlich hier?“

„Ich bin bei Luftschleuse B-5 in den Vakuumbereich zwischen Innen- und Außenhülle gekrochen und habe mich dort eine Weile versteckt. Ich habe den Raumanzug gerade eben hier ausgezogen. Und du?“

„Ich hatte gerade dienstfrei, und da bin ich backbords auf die Außenhülle gegangen, in einen Schattenbereich, der weder vom direkten Sonnenlicht noch vom Widerschein des Planeten beleuchtet wurde. In dieser tiefen Schwärze konnten sie mich von ihren Schiffen aus nicht sehen, und dort habe ich bis nach dem Beschleunigungsmanöver ausgeharrt. Dann bin ich wieder hereingekommen. Ich war gerade hierher unterwegs, um mir Reservesauerstoff zu holen, als ich merkte, daß der Luftdruck wieder zurückkam.“

„Hast du eine Ahnung, warum sie die Luft abgelassen haben?“

„Ich vermute, das war wegen mir. Sie müssen bemerkt haben, daß ich bei den Gefangenen nicht dabei war, und da wollten sie mich wohl erledigen, falls ich mich irgendwo im Schiff versteckt hatte. Wahrscheinlich war es wegen uns beiden, nachdem sie dich auch vermißt haben werden.“

„Wegen mir nicht. Ich hab‘ mich nachträglich beurlaubt und die Besatzungsliste entsprechend angepaßt.“ Sie grinste, wurde aber schnell wieder ernst. „Hoffentlich hat sich nicht noch jemand von uns tatsächlich hier drin irgendwo versteckt und ist dann erstickt. Jedenfalls bin ich froh, daß du auch hier bist. Nicht nur, weil ich dadurch Gesellschaft habe, sondern auch, weil jetzt doch jemand an Bord ist, der das Schiff fliegen kann, nachdem sie Catriona und den Skipper mitgenommen haben.“

„Der Skipper ist hier.“

Was?!

„Er fliegt das Schiff. Ich hab’s gesehen, als ich nach dem Reinkommen kurz in der Notsteuerzentrale war und über die Überwachungskameras in den Hauptkontrollraum schaute. Und er ist kein Gefangener. Er tut ganz freundschaftlich mit den Kerlen.“

„Also war alles nur Theater, von wegen erste Geisel. Wahrscheinlich hat er ihnen alle Informationen gegeben, die sie brauchten, um uns hier aufzulauern.“

„Sieht so aus.“ Chang begann seinen Raumanzug abzulegen. „Ihr Schiff ist übrigens noch an Steuerbord angedockt. Ich habe es in der Notsteuerzentrale über die Außenkameras gesehen. Es ist das Scoutschiff, eine Comanche III. Die anderen Schiffe sind fort.“

„Weißt du, wieviele von denen an Bord sind?“

„In der Zentrale waren außer dem Skipper vier Mann. Zu der Zeit war das restliche Schiff noch luftleer, aber vielleicht war im Scoutschiff auch noch einer von ihnen.“

„Also wahrscheinlich mindestens sechs…“ überlegte Giulia. „Hast du eine Waffe?“

„Nein.“

„Vielleicht ist im Sicherheitsbüro noch ein Blaster zu finden. Nur so zur Chancenverbesserung im Notfall, denn auch damit lassen wir uns besser nicht auf Kämpfe mit ihnen ein. Ich hoffe darauf, daß sie mit dem Scoutschiff abhauen werden, wenn wir am Ziel sind. Die Rückkaufsverhandlungen mit der Reederei können unvorhersehbar lang dauern, und da werden sie diese ganze Zeit wahrscheinlich nicht hier absitzen wollen. Wenn sie weg sind, kannst du uns dann zurück in die Zivilisation fliegen.“

„Und wenn sie das Schiff nicht irgendwo unbeaufsichtigt zurücklassen, sondern es zu einem Stützpunkt von ihnen bringen?“

„Dann würden wir doch mit ihnen kämpfen müssen. Oder wir warten dort einen günstigen Moment ab, wenn wir allein an Bord sind und keines ihrer Schiffe in Verfolgungsreichweite ist, und starten dann die Queen. Sobald wir einmal auf Überlicht sind, können sie uns nicht mehr erwischen.“

„So ist es“, stimmte Chang zu. „Auf alle Fälle werden wir sehr vorsichtig sein müssen, wenn wir uns hier etliche Tage vor ihnen verstecken. Ich rechne mit mindestens einer Woche Flugzeit; der Sublichtwarp-Kursvektor, den ich auf der Anzeige im Notkontrollraum gesehen habe, zielt ungefähr in den Bereich zwischen Delta Pavonis und Sol. Wenn sie auch nur Verdacht schöpfen, daß außer ihnen noch jemand an Bord ist, lassen sie wahrscheinlich die Luft wieder ab, und wenn wir dann unsere Raumanzüge nicht parat haben, sind wir erledigt.“ Er holte seine Normalkleidung aus dem Spind vor ihm.

„Das wird eine spannende Woche“, kommentierte Giulia trocken. „Wir werden uns einen passenden Schlupfwinkel suchen und Lebensmittel dorthin bringen müssen. Und dort verkriechen wir uns dann mit unseren Raumanzügen plus Reservesauerstoff und versuchen, die Zeit totzuschlagen, ohne entdeckt zu werden oder Lagerkoller zu bekommen. Aber jetzt sehen wir erst mal, ob wir eine Pistole für dich kriegen.“

Einige angespannte Minuten später befanden sie sich im Sicherheitsbüro. Winchell Chang deckte mit Giulias Waffe den Eingang, während seine Schiffskameradin den kleinen Waffentresor aufschloß. Tatsächlich lag da noch ein Laser samt Holster und Reservemagazinen, wahrscheinlich Sureshs Waffe. Das Ladegerät für die Magazine befand sich am vorschriftsmäßigen Platz im Schrank daneben, und eine Überprüfung ergab, daß die Magazine voll aufgeladen waren. Chang befestigte die gesamte Waffenausrüstung an seinem Gürtel, und dann setzten die beiden sich hin, um die nächsten Schritte zu überlegen.

*     *     *

Catriona erwachte abrupt aus einem unruhigen Schlaf. Es war finster bis auf die kleinen Orientierungslichter – ein rotes und ein grünes – an beiden Raumenden, und so wußte sie nicht sofort, wo sie war. Die nur dünn gepolsterte Pritsche, auf der sie nackt unter einer Decke aus grobem Stoff lag, erinnerte sie jedoch sogleich wieder an ihre Lage. Sie befand sich in der engen, spartanisch eingerichteten Zelle, die sie mit ihren Freundinnen Corlissa und Madoline sowie drei weiteren Gefangenen teilte. Zwei davon waren Schiffshostessen, die Eurasierin Sayuri Park und die brünette Russin Nadya Woronina, die auf dieser Reise zum ersten Mal mit an Bord der Queen gewesen waren. Die dritte war eine sehr junge Passagierin namens Asereba Hinterleitner, die Tochter eines bayerischen Industriellen und einer Mulattin, die ihr bei gesellschaftlichen Anlässen an Bord mit ihrer charmanten Fröhlichkeit aufgefallen war, zu der ihr nunmehriger Schockzustand einen krassen Gegensatz bildete. Sie war in Kaundas Schiff mitgenommen worden, weil sie in das Sklavinnenverkaufsprogramm einbezogen werden sollte, um ihr Lösegeld in die Höhe zu treiben. Ihr Vater würde am Auktionstag online um sie mitbieten müssen, um sie freizubekommen. Catriona wußte, daß es im Schiff noch etliche solcher Zellen gab, in denen viele weitere Frauen und Mädchen gefangengehalten wurden.

Seit der Kaperung waren nun drei Tage vergangen. Gleich am Anfang, noch bevor jenes Schiff weggeflogen war, mit dem die Piraten ihre Lösegeldforderungen nach 66 Centauri übermittelt hatten, wo sich die nächstgelegene Welt mit Anschluß an die Centaurus-Achse befand, waren alle Gefangenen gepeitscht worden, um ihnen die Zugangsinformationen für ihre Bankkonten abzupressen. Catriona hatte sie ihnen sofort gegeben, weil sie ohnehin nicht mehr damit rechnete, ihre Ersparnisse jemals wieder gebrauchen zu können. Da ihre Auspeitschung jedoch als Teil der Szenen für den geplanten Jollie-Rogers-Pornofilm aufgenommen worden waren, hatte Kaunda sie danach noch eine Weile weiter geschlagen. Dazu hatte sie ihr mitgeteilt, daß die Aufnahmen von ihrer Gefangennahme und von der Kaperung mit ihrem Kurierschiff mitgeschickt und nicht nur an jenen Auftraggeber verkauft würden, der Catriona ersteigern wollte, sondern auch an die Medien der Erdzivilisation. Jetzt würde es also nur noch zwei oder drei Tage dauern, bis die Nachrichten von dem Überfall samt diesen Szenen in der Öffentlichkeit verbreitet würden.

Die befürchteten Vergewaltigungen waren ihnen bisher erspart geblieben, weil Kaunda ihren Männern strikt verboten hatte, sich sexuell an den Gefangenen zu vergehen. Häufig legten Käufer Wert darauf, daß die von ihnen erworbenen Sklavinnen noch keine solchen Erfahrungen hatten, weil sie das perverse Vergnügen haben wollten, die ersten zu sein, die ihnen das antaten und sie brachen. Wenn eine Frau diesbezüglich nicht mehr „jungfräulich“ war, bedeutete das für diesen Kundenkreis eine Wertminderung und konnte den Verkaufspreis drücken. Kaunda garantierte ihren Kunden den versprochenen Zustand der „Ware“, und sie war imstande, jeden ihrer Truppe zu töten, der gegen ihre strengen Anweisungen in dieser Sache verstieß und damit Grund zur Reklamation gab. Für die Triebabfuhr der Männer befanden sich mehrere erfahrene Sklavinnen im Schiff, die man zum Eigenbedarf aus früherer Beute behalten hatte und die nun auch die Ausbildung der neuen Gefangenen im Showtanz und Strippen übernahmen. Mit diesem Training war der Großteil der bisherigen Tage an Bord ausgefüllt gewesen, und es war eine harte Schule, nach der sie jeden Abend völlig fertig auf ihre Kojen gesunken waren.

Catriona setzte sich auf ihrer Pritsche auf, weil sie ihre Blase entleeren wollte, die sie geweckt hatte. Es war die mittlere der drei Stockkojen auf der rechten Zellenseite. Vorsichtig stieg sie auf den Boden hinunter und schlich zur Tür der engen Toilette hinter der Rückwand der Zelle; nur die Ringe und Karabinerhaken an den Fesselmanschetten, die sie und ihre Mitgefangenen auch beim Schlafen an den Hand- und Fußgelenken tragen mußten, klingelten leise. Nachdem sie ihr Geschäft erledigt hatte, kroch sie wieder unter ihre Decke und versuchte danach lange vergeblich, die verzweifelten Gedanken über ihre Zukunft zu verdrängen, um endlich wieder einschlafen zu können.

Sie hatte inzwischen schon gehört, wohin das Schiff unterwegs war, nämlich zu einer Welt namens Winedark, einem berüchtigten Ort, über den zahlreiche Legenden kursierten, deren Wahrheitsgehalt oder Plausibilität unterschiedlich zweifelhaft war. Von diesem unbewohnten Planeten, der um eine rote Zwergsonne kreisen sollte, hieß es, er würde immer wieder als Schlupfwinkel für Piraten oder auch als Treffpunkt mehrerer Piratenbanden genutzt. Aufnahmen waren im Online-Umlauf, die dort aufgenommene Bilder und Szenen von Schändungen und Mißhandlungen nackter Gefangener vor dem Hintergrund bizarrer schwärzlicher Gewächse unter düsterem Himmel zeigen sollten, beschienen von flach einfallendem rotem Sonnenlicht. Da das in Frage kommende Raumvolumen mindestens tausend Sterne enthielt, von denen die meisten rote Zwergsonnen waren, hatte die Raumflotte sich nie ernsthaft die Mühe gemacht, Winedark ausfindig zu machen, auch weil man es für aussichtslos hielt, genau dann ein Schiff im richtigen Sonnensystem zu haben, wenn gerade Piraten dort waren. Falls diese überhaupt feste Oberflächenanlangen hatten, würden sie zu klein und zu gut getarnt sein, als daß man Hunderte von ganzen Welten mit einiger Erfolgsaussicht nach ihnen absuchen konnte. Auch hielt man es seitens der Behörden für möglich, daß es sich in Wirklichkeit um mehrere ähnliche Welten handelte und die Vorstellung von der einen Welt Winedark bloß auf künstlich in Umlauf gebrachten Legenden beruhte. Catriona war sich nun jedoch fast sicher, daß Winedark real war, und sie fürchtete sich vor dem, was man dort vielleicht mit ihr tun würde. Erst nach langem Herumwälzen schlief sie wieder ein.

*     *     *

Die Ace of Swords flog aus dem Portal der Wurmlochstation 1 von Proxima Centauri b, die auf einer weiten Umlaufbahn um diesen innersten Planeten von Sols nächstem Nachbarstern kreiste und das Ende der ersten Etappe der Centaurus-Achse bildete. Von hier aus würde sie gut fünfzigtausend Kilometer bis zur zweiten Wurmlochstation fliegen müssen, die auf einer anderen Umlaufbahn um Proxy-B kreiste, wie der Planet oft salopp genannt wurde, und sich gegenwärtig fast auf dessen gegenüberliegender Seite befand. Deren Portal stellte die Verbindung nach Alpha Centauri her, wo die nächste Etappe zum zwölf Lichtjahre von Sol entfernten System Epsilon Indi begann. Diese würde sie jedoch nicht benutzen, sondern stattdessen nach der Ankunft bei Alpha Centauri Kurs auf das Sternbild Waage nehmen und unter Warpantrieb in den interstellaren Raum hinausfliegen.

Ronald Brugger saß allein im Kontrollraum und konnte so in Ruhe seinen Gedanken nachhängen und den Ausblick genießen, während das Schiff um den Planeten herum zur anderen Station flog. Voraus strahlte Proxima Centauri, und zwischen dieser Zwergsonne und der Welt vor ihm war der helle Doppelstern Alpha Centauri zu sehen.

Alcyone Poledouris und Nikos Lourákis folgten der Ace of Swords in Rons anderem Schiff, der Lysithea, und pflegten ihre Zweisamkeit. Während des Rückflugs von Nivdrac und in der Zeit danach auf der Erde waren die beiden ein Paar geworden. Eigentlich war das schon früh abzusehen gewesen, und offenbar hatten sie bereits an Bord der Mira unausgesprochen Gefallen aneinander gefunden. Dennoch verspürte Ron einen leichten Stich von Eifersucht beim Gedanken an die zwei und fragte sich, ob er nicht eine Gelegenheit verpaßt hatte, denn in der Zeit zwischen Alcyones Befreiung und der Ankunft auf Nivdrac hatte er den Eindruck gehabt, daß sie auch für ihn etwas empfand. Vielleicht hätte er sich damals an sie heranmachen sollen, aber er war sich wegen ihrer Phasen der Zurückgezogenheit über ihre Gefühlslage im Unklaren gewesen und hatte sie wegen der Möglichkeit, daß sie in den Wochen ihrer Gefangenschaft von den Piraten vergewaltigt worden sein könnte und nun etwas Abstand brauchte, nicht zu früh mit Avancen bedrängen wollen. Vielleicht hatte sie seine rücksichtsvolle Zurückhaltung falsch verstanden und als Zögerlichkeit empfunden. Dann war Nikos an Bord gekommen und hatte offenbar ein besseres Gespür als Ron für die richtigen Schritte zu ihr hin gehabt. Nun ja, vielleicht war es auch besser so, wie es sich dann entwickelt hatte. Immerhin paßten die beiden altersmäßig und auch wegen des gemeinsamen ethnischen Hintergrundes besser zueinander.

Die Lysithea, mit der das Paar nun reiste, war Rons erstes eigenes Raumschiff gewesen. Er war in seiner Zeit als Kopfgeldjäger an sie gekommen, als er ihren vorherigen Besitzer, einen berüchtigten Kriminellen namens Thellias, in einer Schießerei auf Kyerak getötet hatte. Dieser Mann, dessen Spur Ron bis zu jener ehemaligen Lwaong-Kolonie gefolgt war, hatte sich von dem rechtmäßigen Eigentümer des Schiffes, einem exzentrischen, versponnenen Finanzmagnatensohn namens Seymour Dorkyn, als Assistent und Copilot anheuern lassen und seinen Arbeitgeber bald darauf ermordet. Danach hatte er die Lysithea für verschiedene kriminelle Aktivitäten auf Welten verwendet, die nicht der Hoheit der Solaren Föderation unterstanden, unter anderem für Piraterie, Menschenraub und Schmuggel. Nachdem Ron ihn erschossen hatte, war ihm von Dorkyns Familie das Eigentum an dem Schiff als Kopfprämie übertragen worden. Ron hatte es für die unabhängigere Fortsetzung seiner Kopfgeldjägertätigkeit sowie für gutbezahlte Kurier- und Charterflüge verwendet, bis er genug Geld beisammengehabt hatte, um für den Kauf von Acey im Zuge des Regierungsprogramms zur Piratenbekämpfung die erforderliche Anzahlung leisten zu können. Für den inzwischen abbezahlten Restbetrag hatte er die Lysithea als Besicherung eingesetzt und dadurch keinen Kredit aufzunehmen brauchen.

Lyssie, wie er das Schiff bald nannte, war ein seltener Vogel im Bereich der Menschenwelten: eines der wenigen Raumfahrzeuge aus arrinyischer Produktion, deren Erwerb Menschen bisher gestattet worden war. Sie war im Auftrag Dorkyns als Raumyacht nach seinen Vorstellungen hergestellt worden, ein schlankes, vorne spitz zulaufendes Geschoß mit drei langen, stark gepfeilten Heckflossen, in die der Hauptteil des Warpantriebs integriert war. Bis auf ein einzelnes, einziehbares Lasergeschütz am Heck, von dem die Behörden nichts wußten, war sie unbewaffnet, aber sie beschleunigte stärker und war im Warp schneller als jedes Sternenschiff aus menschlicher Produktion außer den Orion-Jägern. Ihr besonderes Plus war jedoch die selbstregenerierende organoide Technologie der Arrinyi, nach der sie einschließlich ihrer Maschinen geschaffen war und die einen verschleißfreien Betrieb über Jahrhunderte ermöglichte, solange den Materiebanken die erforderlichen Stoffe zugeführt wurden: eine Technologie, die von den Menschen erst ansatzweise beherrscht wurde.

In den Speichern ihres KI-Bordcomputers verbargen sich die Forschungsergebnisse ihres Erstbesitzers, der von den Geheimnissen der untergegangenen Lwaong-Zivilisation fasziniert gewesen war und deren Erforschung mit besessener Leidenschaft betrieben hatte; Dinge, für die sein Mörder sich nie interessiert hatte. Ron hatte sich dagegen in den Mußestunden während der interstellaren Flüge mit dem Schiff ausführlich damit befaßt und war dabei auf ein Geheimnis gestoßen, dem er anschließend nachgegangen war und das anscheinend nicht einmal die alten Galciv-Mächte kannten. In den Jahren seither war es für ihn zur Grundlage eines Zukunftstraums geworden, den er irgendwann einmal zu verwirklichen hoffte.

Seit er Acey besaß, war Ron nur noch ab und zu mit der Lysithea geflogen, wenn der Platz und Komfort, den sie bot, für Charterflüge mit reichen Gästen gefragt gewesen war. Ansonsten hatte er sie bei riskanteren Einsätzen als unbemanntes Begleitschiff zur Absicherung für den Fall verwendet, daß Acey bei einem Kampf in einem entlegenen Sonnensystem so schwer beschädigt wurde, daß mit ihr nach einem Sieg kein interstellarer Flug mehr möglich war. Zu diesem Zweck pflegte die Lysithea im äußeren Bereich des jeweiligen Systems den Ausgang eventueller Konfrontationen mit Piraten abzuwarten, um Ron nötigenfalls von seinem Wrack abzuholen oder ihn in noch schlimmeren Fällen in dem Rettungsboot aufzusammeln, das wie eine große Doppelbombe unter Aceys Vorderrumpf hing. Im nunmehr bevorstehenden Einsatz flog die Yacht einerseits wegen dieser möglichen Verwendung mit, aber auch, weil vielleicht mehr Leute an Bord zu nehmen sein würden, als allein in der Ace of Swords untergebracht werden konnten.

Sie hatten zwei Tage zuvor von der Kaperung der Queen of Altavor erfahren, und Ron hatte daraufhin mit Saul Bremers Zugangsdaten in dem Untergrund-Infonetzwerk nachgeforscht und erfahren, daß die weiblichen Besatzungsmitglieder – darunter eine ganz bestimmte Person – und etliche weitere der dabei entführten Frauen in einer geheimen Auktion auf Pavonia als Sklavinnen verkauft werden sollten. Der Zeitpunkt und der genaue Ort sollten in zwei Wochen bekanntgegeben werden. Dies ließ ein ausreichendes Zeitfenster, um vorher zu versuchen, den Piraten die Queen of Altavor abzujagen, die sie vermutlich bis zum Abschluß der Rückkaufsverhandlungen an einem geheimen Ort parken würden.

Für diesen hatte Ron bereits drei wahrscheinliche Möglichkeiten ermittelt, indem er einen Abgleich der Navigationsaufzeichnungen der Lysithea aus der Zeit, als sie von Thellias benutzt worden war, mit jenen der Bat Durston und den Daten auf Saul Bremers Poctronic vorgenommen und Übereinstimmungen bei angeflogenen Zielen ausgefiltert hatte. Zusammen mit mehreren anderen Indizien hatte er drei Örtlichkeiten ausfindig gemacht, die abgeschiedene Piratentreffpunkte sein konnten und von ihrer Lage her in Frage kamen, und zu dem wahrscheinlichsten waren sie nun unterwegs. Ron hatte sich von der Reederei der Queen of Altavor einen elektronischen Zugangsschlüssel besorgt und Nikos gefragt, ob er mitkommen wollte, um das Schiff gegen einen Viertelanteil an der Rückholprämie zurück zur Erde zu pilotieren, falls sie es tatsächlich an dem vermuteten Ort fänden. Da die Piraten wahrscheinlich die Hälfte des Zeitwertes fordern würden und die Reederei diesen Preis auf vierzig Prozent herunterhandeln wollte, hatte sie Ron eine Prämie von zwanzig Prozent angeboten, was immer noch ein kleines Vermögen war. Nikos hatte eingewilligt, Alcyone hatte darauf bestanden, ihn zu begleiten, und da Ron die Lysithea ohnehin als Zweitschiff für die anschließende Befreiungsaktion mitnehmen wollte, hatte er dem Paar angeboten, bis zur Queen damit zu fliegen.

Nun befand Ron sich wieder allein an Bord der Ace of Swords, wie er es seit Beginn seiner Tätigkeit als Piratenjäger gewohnt war. Im Krieg hatte er das Schiff zwar meist mit seiner vollen Besatzungsstärke von fünf Mann geflogen – Kommandant, Copilot plus variable Funktionen als Waffensystem- und Ortungsoffizier oder sonstige Missionsspezialisten -, aber für seine nunmehrigen Zwecke kam er sehr gut allein zurecht. Acey und er waren bestens aufeinander eingespielt, und Acey hatte mit ihrer lernfähigen KI während des Krieges alle Aktionen ihrer Besatzung und deren jeweiligen Erfolg analysiert und in variierten Simulationen durchgespielt, und sie hatte dadurch mit der Zeit herausragende Fähigkeiten entwickelt. Eigentlich konnte sie – wie auch die anderen besten KI-Kampfschiffe – die meisten Missionen inzwischen selbständig durchführen. Menschliche Besatzungen wurden bei solchen Spitzenexemplaren nur noch als Letztverantwortliche und als Absicherung gegen Hacking der KIs sowie für unvorhergesehene Sonderfälle mitgeschickt. Ron brauchte kein weiteres Besatzungsmitglied.

Beim Gedanken an die beabsichtigte Befreiungsaktion, bei der es nicht ohne Bodeneinsatz zu Fuß gehen würde, fragte er sich jedoch, ob es wirklich klug war, sie im Alleingang zu versuchen, selbst wenn Acey und die beiden Robotjäger plus Lyssie mit ihrem Hecklaser ihn dabei aus der Luft unterstützen würden. Dies würde jedoch nur möglich sein, wenn die Sklavinnenauktion unter freiem Himmel stattfand. Falls nicht, würde es sehr schwierig werden.

Nicht zum ersten Mal fragte Ron sich, warum er das alles tat, oder genauer, warum er es auf diese Art tat, und ob er es nur tat, weil ihm keine herkömmliche Möglichkeit zum Erwerb seines Lebensunterhalts geboten wurde, oder ob noch andere Motive eine Rolle spielten. Sicher, daß er als unabhängiger Piratenjäger keinen Chef oder sonstigen Vorgesetzten über sich hatte, war ein großes Plus. Ruhm? Ihm lag nichts an Heldenverehrung durch dieses zusammengewürfelte Massenkonglomerat namens Menschheit, und allzuviel davon war mit seiner Tätigkeit ohnehin nicht zu gewinnen. Dennoch bereitete es ihm Befriedigung, Schurken zur Strecke zu bringen, auf eine Art, die er gut beherrschte. Und das kam einer tieferen Sache wohl schon näher: Die Jagd als solche. Zu kämpfen mit dem Feind, ihn zu verfolgen und zu vernichten… Ein Spiel mit hohen Einsätzen, bei dem er vielleicht genug gewinnen konnte, um seinen Zukunftstraum doch noch zu verwirklichen, bei dem er aber vielleicht auch alles verlieren würde, ehe es soweit war. In dieser seelenerforscherischen Stimmung holte er sich als eine Art meditativen Gedankenkatalysator wieder einmal The Turn of a Friendly Card auf den Bildschirm und die Lautsprecher:

There are unsmiling faces and bright plastic chains
And a wheel in perpetual motion
And they follow the races and pay out the gains
With no show of an outward emotion.

And they think it will make their lives easier
For God knows, up till now it’s been hard
But the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.

There’s a sign in the desert that lies to the west
Where you can’t tell the night from the sunrise
And not all the king’s horses and all the king’s men
Have prevented the fall of the unwise.

Oh, they think it will make their lives easier
And God knows, up till now it’s been hard
But the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.
No, the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.

There are unsmiling faces in fetters and chains
On a wheel in perpetual motion
Who belong to all races and answer all names
With no show of an outward emotion.

And they think it will make their lives easier
But the doorway before them is barred
And the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.
No, the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.

But the game never ends when your whole world depends… Das war ein wichtiger Punkt. Diese Runde des Spiels, und besonders der zweite Teil davon, war anders als alle bisherigen. Diesmal ging es nicht nur um ihn selbst, sondern es hing auch das weitere Schicksal vieler Personen – besonders einer – von Erfolg oder Scheitern seiner Aktion ab. Und anders als sonst bestand der mögliche Gewinn in dieser Runde nicht bloß in einer weiteren Summe Geldes zusätzlich zum Erfolgserlebnis einer siegreichen Verbrecherjagd, sondern diesmal konnte es der Haupttreffer werden: Nicht nur konnte er einen entscheidenden Teil der Mittel gewinnen, die er für sein Zukunftsprojekt noch brauchte, sondern auch seine Traumpartnerin dazu. Er würde vielleicht Gelegenheit bekommen, alte Fehler auszubügeln, Versäumnisse wettzumachen, sein Leben – diesen Teil davon – endlich beginnen zu lassen. Und all das – seine ganze zukünftige Welt, die im Erfolgsfall vielleicht auch für unabsehbar viele andere ihre Welt sein würde – würde davon abhängen, welches Blatt ihm das Schicksal bei der Befreiungsaktion zuteilte, und was er daraus machen würde. Durfte er es riskieren, auf einen Alleingang mit unkalkulierbaren Erfolgschancen zu setzen, wo so viel auf dem Spiel stand? Würde er als einer der Unklugen enden, deren Fall weder des Königs Männer noch des Königs Pferde verhindern konnten?

Und das Spiel würde auch nach einem erfolgreichen Ausgang der kommenden Doppelrunde noch nicht zu Ende sein. Ron war klar, daß er bei der Befreiungsaktion neben Piraten auch etliche der erschienenen Kaufinteressenten würde töten müssen, die meist einem sehr reichen, mächtigen und vordergründig respektabel erscheinenden Elitemilieu angehörten und gut vernetzt waren. Für das pavonische Regime, auf dessen Territorium die Auktion stattfinden würde, und darüber hinaus für ganz Pavonia, wäre das öffentlichkeitswirksame Auffliegen solcher Umtriebe ein Imagedesaster, und die Aufmerksamkeit der Föderationsöffentlichkeit würde auf das Versklavungsgewerbe und die Verwicklung von Teilen der Eliten darin gelenkt. Ron würde danach viele mächtige, skrupellose und rachsüchtige Feinde haben. Dann würde er mit der Umsetzung seines Projekts beginnen müssen, denn in der Menschenzivilisation würde er sich am besten nur noch für kurze Zeitabschnitte und unter großer Vorsicht aufhalten.

„Hallo Ron“, funkte Nikos ihn in diesem Moment an, „so schweigsam?“ Ron seufzte. Nikos war ja ein guter Kerl, aber er hatte ein großes Redebedürfnis. Die einsamen Wochen auf Nivdrac mußten ihn wirklich hart angekommen sein. Im Hintergrund war die Stimme von Alcyone zu hören, die Ron und seine nachdenklich-melancholischen Phasen schon etwas besser kannte und ihren Liebsten vielleicht gerade darüber aufklärte.

„Ich denke nur über verschiedene Sachen nach“, antwortete er. „Alles klar bei euch?“

„Ja, bestens. Die Lysithea ist wirklich ein traumhaftes Schiff. Du denkst wohl schon darüber nach, was du mit deinen Reichtümern machen wirst, wenn das alles erledigt ist und du wieder zu Hause bist?“

„Ach Nikos, ich bin doch zu Hause.“ Das war wahr, und es berührte einen Teil dessen, worüber er vorhin nachgedacht hatte. Nichts will ich als ein hohes Schiff, und den weisenden Stern in der Höh‘… auf den Weltraum übertragen. Plus die Jagd auf den Feind.

„Macht euch einfach eine schöne Zeit an Bord, bis wir am Ziel sind, und malt euch eure gemeinsame Zukunft aus.“ Er verschob die Gedanken an sein Problem für eine Lösung zu einem späteren Zeitpunkt. Über dem Horizont von Proxy-B kam die Wurmlochstation 2 in Sichtlinie, und Ron überprüfte die Position der Lysithea relativ zu ihm. Bei dieser Station hatte er sich bereits beim Passieren der ersten angemeldet, und dort würde jetzt das Wurmlochportal für den Durchflug der beiden ankommenden Schiffe hochgefahren werden. Bald würde die Bremsung für die zweite Hälfte der Zwischenetappe beginnen.

*     *     *

An Bord der Queen of Altavor bemerkten Giulia Rossini und Winchell Chang am Morgen des zehnten Tages seit der Kaperung am Nachlassen des leisen Rumorens der Antriebsanlage, daß das Schiff den Überlichtflug beendete und in den Sublichtwarp überging. Sie hatten sich während der Reise im Bettwäschelager verkrochen und sich dort mit Bettzeug einen Schlupfwinkel gebaut, weil es recht weit von der Kommandozentrale und von den Andockschleusen entfernt lag und es dort auch nichts gab, wegen dem ihre Feinde hinkommen würden. Außerdem hatte der Raum zwei gegenüberliegende Türen für den Materialtransport mit Rollwagen, was wegen der Fluchtmöglichkeit taktisch vorteilhaft war, und durch die weit achterliche Lage konnten sie nicht nur den Antriebsstatus besser akustisch mitverfolgen, sondern hatten es auch nicht weit zur Notsteuerzentrale. Dorthin begaben sie sich nun vorsichtig, und als Winchell einen Bildschirm aktivierte und auf die vordere Teleskopkamera schaltete, zeigte diese einen Braunen Zwerg vom T-Typ, durch dessen dunkle Wolkenbänder seine tieferen Schichten in trübem Rot hervorglühten.

Winchell schaltete auch den Navigationsbildschirm ein und fand heraus, daß es sich um Gliese 570D handelte, den substellaren Begleiter eines zweihundertzwanzig Milliarden Kilometer entfernten Dreifachsternsystems aus einer orangen K-Zwergsonne und zwei roten M-Zwergen. Das Schiff flog bereits mit abgeschaltetem Warpantrieb darauf zu und bremste mit seinen MET-Einheiten, offenbar, um in eine Umlaufbahn um den Braunen Zwerg oder einen seiner Planeten einzutreten.

Während sie noch den Kursplot verfolgten, bemerkte Giulia bei einem Blick über die Schulter und durch das Glasfeld der Eingangstür, daß draußen im Korridor zusätzlich zur Orientierungsbeleuchtung die Hauptbeleuchtung angegangen war, die sich immer nur abschnittsweise einschaltete, wo Menschen unterwegs waren. „Da kommt jemand!“, zischte sie Winchell zu. „Schnell, neben die Tür!“ Sie sprang zur linken Seite des Eingangs und betätigte den manuellen Lichtschalter, dann zog sie ihre Waffe, wich seitlich an der Wand entlang ein Stück von der Tür zurück und deutete Winchell, sich rechts neben sie zu stellen. Mit den Pistolen im Anschlag warteten sie angespannt in der nur von den Bildschirmen aufgehellten Dunkelheit.

Gleich darauf ging die Tür auf, und im automatisch wieder angehenden Licht trat Kapitän Agbaye ein, einen Blaster in der Hand. Sofort drückte Giulia ab und schoß ihm von rechts in den Kopf, während Winchell einen Schritt zur Seite trat und knapp am Türrahmen vorbei dem Mann hinter Agbaye ins Gesicht feuerte. Sobald die beiden Männer am Boden lagen, machte Giulia einen Satz zur Tür und ging dort in die Hocke.

Mit klingelnden Ohren von den beiden Plasmaexplosionen aus den Köpfen der Gegner horchte sie auf Anzeichen, ob draußen noch jemand war. Ihr Mund war ganz trocken vor Angst und vom Schock ihres ersten echten Lasergefechts, und als sie einen schnellen Blick zu Winchell warf, hatte sie den Eindruck, daß es ihm genauso ging. Sie meinte, sich schnell entfernende Schritte zu hören, und so spähte sie vorsichtig um die Türkante und sah, daß der Korridor leer war.

„Verdammt, wie konnte das passieren?“ fragte sie Winchell. „Wieso sind die auf uns aufmerksam geworden?“

„Kann sein, daß es im Kommandoraum irgendeine Anzeige gibt, daß in der Notsteuerzentrale etwas in Betrieb ist. Ich habe im Dienst nie auf sowas geachtet, aber falls es da etwas gibt, haben sie es damals bei Krelang vielleicht übersehen, als ich auch drin war, weil sie von Agbaye gerade in die Schiffssteuerung eingewiesen wurden oder etwas in der Art. Und diesmal ist es ihnen aufgefallen, und der Skipper ist nachsehen gegangen.“

„Mist, verdammter! Los, schnell ins Versteck zu den Raumanzügen, falls sie die Luft ablassen!“

„Ja, verschwinden wir hier. Aber nehmen wir die Waffen der beiden mit, vielleicht haben sie nicht für jeden eine.“

„Gute Idee.“ Giulia langte nach Agbayes Pistole, dann erhob sie sich mit zitternden Knien aus der Hocke, und Winchell hob im Hinausgehen den anderen Blaster auf. Noch ehe sie ihren Schlupfwinkel erreichten, spürten sie, wie die Schwere zunahm, als ob das Schiff nun stärker bremsen würde. Schließlich wurde der Andruck so stark, daß sie ihre Raumanzüge nur mit Mühe anlegen konnten. Deren Handschuhe ließen sie jedoch vorerst ausgezogen, um ihre Waffen besser handhaben zu können, falls sie sich verteidigen mußten. So warteten sie nervös die weiteren Entwicklungen ab.

Nach einer halben Stunde, in der immer noch niemand gekommen und auch der Luftdruck nicht abgesunken war, verringerte die Schwere sich wieder auf den Normalwert. Plötzlich nahm Winchell seinen Helm ab und horchte. Giulia sah ihn verwundert an. „Hörst du es?“ fragte er dann.

„Was denn?“

„Die Maschinen! Sie sind still! Ich weiß nicht, wie lange es schon so ist, aber mir ist es jetzt eben aufgefallen. Anscheinend haben sie die ganze Antriebsanlage abgeschaltet, auch die Massekonverter.“

„Du meinst, sie hauen jetzt ab?“

„Ja! Hey, Giulia, du wirst sehen, wir sind bald gerettet!“

„Pscht! Noch sind wir nicht in Sicherheit. Es ist zwar wahrscheinlich, daß sie jetzt, wo sie nur noch zu dritt oder viert sind und nicht sicher sein können, wieviele wir sind, kein Risiko eingehen und nicht mehr nach uns suchen wollen. Wahrscheinlich fliegen sie wirklich gleich weg, aber verlassen wir uns besser noch nicht darauf. Warten wir noch ein wenig ab, ehe wir nachsehen.“

„Du hast recht. Vielleicht haben sie sich auch schon gleich nach der Schießerei in ihr Schiff zurückgezogen und die Queen von dort aus über den DatCom-Anschluß an der Andockschleuse gesteuert. Hey, hast du das auch gespürt?“

Ein fast unmerkliches Beben war durch den Schiffsrumpf gegangen, als ob das Scoutschiff sich von der Andockschleuse abgestoßen hätte. Rasch rappelten die beiden sich aus ihrer Sitzposition auf und schlichen mit schußbereiten Pistolen zum Notkontrollraum, wo die beiden Erschossenen immer noch so lagen, wie sie gefallen waren. Winchell schaltete den noch aktiven Kamerabildschirm auf die Außenkamera, die den Bereich der Steuerbord-Andockschleuse zeigte. Die Schleuse war verlassen. Der rasch hinzugeschaltete Ortungsbildschirm zeigte ein Objekt an Steuerbord voraus in etwa vierhundert Metern Entfernung an, und als Winchell die Kamera dorthin richtete, zeichnete sich vor dem Hintergrund des Braunen Zwergs die typische Silhouette einer Comanche III ab, die sich gerade auf ihren Abflugkurs ausrichtete. Das Ortungssystem registrierte eine rasch zunehmende Wärmeabstrahlung des Schiffes, und schon begann es in die Richtung zu beschleunigen, in die sein Bug zeigte.

„Sie fliegen offenbar nach Pavonia“, sagte Winchell, der den Kursvektor der Piraten auf dem Ortungsbildschirm beobachtete. „Bei dieser Beschleunigung werden sie in etwa einer halben Stunde in den Sublichtwarp gehen. Auf ihrem Kurs gibt es keine störenden Massen, also werden sie ungefähr weitere zehn Minuten danach auf Überlicht sein. Dann kriegen sie nicht mehr mit, wenn wir ebenfalls abhauen.“

„Ich kann‘s noch kaum fassen, daß wir es jetzt überstanden haben“, antwortete Giulia und betrachtete ebenfalls den Ortungsbildschirm. „Was ist denn das für ein Objekt?“ fragte sie dann und deutete auf ein Icon, das auf dem Schirm in knapp tausend Kilometern Entfernung an Backbord voraus angezeigt wurde.

„Ein Zwergplanet, etwas größer als Luna.“ Winchell betrachtete die Anzeigen und gab ein paar Abfragen ein. „Sie haben uns auf eine elliptische Umlaufbahn gebracht, die uns bis auf etwa zweihundert Kilometer an die Oberfläche heranführen wird. Für diesen Bahnpunkt ist im Flugprogramm noch eine kleine Bremsung vorgesehen, die aus dem elliptischen Orbit einen kreisförmigen in dieser Höhe macht. Es war ja naheliegend, daß sie die Queen irgendwo parken würden, wo sie von einem Abholteam der Reederei leichter zu finden ist als frei im Raum treibend.“

„Willst du das Schiff von hier aus starten, oder gehen wir in die Hauptzentrale?“

„Ich könnte es auch von hier fliegen, aber die Hauptzentrale ist mir lieber, weil sie mein gewohntes Arbeitsumfeld ist, und sie ist komplett ausgestattet. Außerdem liegen dort keine Leichen herum. Los, gehen wir.“

„Aber wir müssen sehr vorsichtig sein“, warnte Giulia, „vielleicht haben sie dort oder auf dem Weg dahin irgendwelche bösen Überraschungen für uns hinterlassen. Laß mich vorausgehen und nach Fallen suchen; das ist ja mein Fach.“

„Okay“. Er schaltete alle Systeme im Notkontrollraum ab, und dann machten sie sich auf den Weg.

Etwa sieben angespannte Minuten später standen sie in der Hauptzentrale. Winchell setzte sich an seinen Platz und aktivierte die Kontrollanlage, während Giulia ihm über die Schulter zusah und zwischendurch auf den riesigen Hauptsichtschirmen den schon sehr nahen Zwergplaneten betrachtete. Die Ortung zeigte, daß die Piraten sich auf unverändertem Kurs bereits beträchtlich entfernt hatten und immer noch beschleunigten. Winchell überprüfte den Status des Flugprogramms, schaltete die Kontrollsysteme der Massekonverter und der Antriebsanlage auf Bereitschaft und machte ein paar Berechnungen.

„Das automatische Bahnmanöver ist beendet“, sagte er. „Ich glaube, wir können es jetzt riskieren, die Maschinen zu starten. Selbst wenn sie das bemerken, würden sie noch eine knappe Viertelstunde brauchen, um von ihrem jetzigen Tempo für eine Umkehr abzubremsen, dann noch gut zwanzig Minuten, bis sie wieder hier wären. Wenn wir diese ganze Zeit in die Gegenrichtung beschleunigen, sind wir auf Warpstartdistanz, ehe sie uns von hier aus eingeholt haben. Bis sie selber auf Sublichtwarp gehen können, sind wir schon auf Überlicht und nicht mehr zu orten. Dann können wir Kurs auf Sol setzen.“ Er begann Funktionen aufzurufen.

„Na dann los!“ sagte Giulia vergnügt. „Kansas City, here we come!

„Kansas City?“

„Nur so ein altes Lied. Fang an.“

Oh verdammt! Das gibt’s doch…“ Winchell starrte entgeistert auf den Kontrollschirm und begann dann hektisch Eingaben zu machen.

„Was ist los?“ fragte Giulia besorgt.

„Ich kann die Massekonverter nicht starten!“

Was? Wieso nicht?“

„Zu wenig Strom in den Speichern! Diese Schweine haben sie so weit entladen, daß ich mit dem restlichen Saft nicht einmal den kleinsten Hilfskonverter starten kann, und dessen Leistung brauche ich, um den nächstgrößeren anzulassen. Die müssen die Speicher mit den Bremsmanövern leergeflogen haben, und vielleicht haben sie auch noch ihr Schiff mit unserem Strom gestartet.“

„Oh Sch…!“ Giulia war sofort klar, was das bedeutete. „Die wußten nicht, wie stark wir im Vergleich zu ihnen sind, und sie waren auch nicht sicher, ob sie uns mit ihrem Vakuumtrick erledigen können, wenn es einmal mißlungen ist, also haben sie uns einfach auf diese Weise hier festgesetzt.“ Sie überlegte angestrengt. „Die Gleiter!“ rief sie dann aus. „Können wir nicht deren Energiespeicher ans Bordnetz anschließen? Würde das zusammen mit der Restladung in den Schiffsspeichern für das Starten reichen?“

Winchells Miene hellte sich auf. „Das überprüfe ich sofort per Telemetrie.“ Die Atmosphärenflugmaschinen im Landedeck unter dem Rumpfrücken konnten ihre Rettung sein. „Mist!“ rief Chang gleich danach enttäuscht aus. „Die Kisten sind nach der Rückkehr von den Ausflügen auf Krelang einfach abgestellt und noch nicht wieder aufgeladen worden. Verdammte Schlamperei von diesem al-Kharadaoui! Jetzt sitzen wir deswegen endgültig fest.“

„Wie lange braucht das Scoutschiff bis Pavonia?“

Winchell klickte auf dem Navigationsschirm eine Entfernungsabfrage an, rechnete kurz und sagte dann: „Sieben Tage.“

„Das heißt, falls die Reederei sich nicht vorher mit den Piraten einigt, haben wir nur zwei Wochen Zeit, um einen anderen Ausweg zu finden, ehe sie mit Verstärkung zurückkommen und uns kassieren.“

„Und dazu kommt, daß wir für das Lebenserhaltungssystem auch nur noch diese Restladungen in den Speichern haben und damit mindestens zwei Wochen auskommen müssen, vielleicht sogar länger.“ Er überlegte kurz. „Wir werden alles abschalten müssen, was wir entbehren können, und außerdem die Innentemperatur absenken. Auch für den Fall, daß uns doch noch eine Lösung für das Starten einfällt, damit wir bis dahin nicht zu viel verbraucht haben. Am besten verringern wir auch die Bordschwerkraft.“

„Das werden zwei spannende Wochen.“

7) An weindunkler See

Die trübrote Dämmerung dauerte nun schon mehr als einen Standardtag und wurde nur langsam heller. Catriona Gerling schaute über das Gewirr knorriger, schwärzlich belaubter Bäume hinweg nach Westen, während sie nackt und mit hinter dem Rücken gefesselten Händen langsam über den schmalen Weg zum Strand hinunterschritt. Vor dem roten Dunst des Himmels, durch den nur wenige Sterne sichtbar waren, hob sich die dunkle Rauch- und Aschewolke eines Inselvulkans ab, der in einiger Entfernung aus dem Meer ragte. In etwa zwei Stunden würde in dieser Richtung Winedarks rote Sonne aufzugehen beginnen, einen ganzen Standardtag für ihr volles Erscheinen brauchen und erst neunzehn Tage darauf wieder in derselben Richtung versinken. So war es im Prinzip auf allen Welten, die in gebundener Rotation auf elliptischer Bahn um leuchtschwache Sonnen liefen. Wie damals vor sechs Jahren auf Maanenia, nur daß es eine weiße Zwergsonne gewesen war. Maanenia… und Ron… dachte sie, ob er wohl noch an mich denkt?

„Träum‘ nicht, du Made!“ riß Ndoni Kaundas barsche Stimme sie von hinten aus ihren Gedanken. „Geh weiter! Hey, Elonard, mach‘ ihr ein bißchen Beine.“

Das ließ Sampson sich nicht zweimal sagen. Mit langen Schritten eilte er der Gefangenen nach. „Führ‘ sie bis zum Wasser hinunter“, fügte Kaunda noch hinzu, „und laß‘ sie dort niederknien! Spiel‘ dann ein bißchen mit ihr, aber du weißt schon, wo die Grenzen liegen.“ Von der erleuchteten Eingangskuppel der Basis rief Morris Wiener herüber: „Ich geh‘ jetzt runter zu den anderen Männern, Ndoni. Wir sehen uns dann später.“

„Okay, bis nachher.“

Wiener stieg die Wendeltreppe in den Lavatunnel hinunter, in dem Kaundas Piraten ihren Stützpunkt eingerichtet hatten, und Kaunda schaute Sampson und Catriona hinterher und ergötzte sich an beiden.

Sampson hatte Catriona eingeholt und ihr mit der Linken in die Haare gefaßt, während er ihr mit der Rechten einen Klaps auf den Po gab. So führte er sie weiter, ließ seine rechte Hand über ihren Körper wandern und genoß ihren Anblick. Sie war mit einem weißen Tuch geknebelt, trug kniehohe weiße Stiefel über schenkelhohen weißen Selbsthalterstrümpfen, oberamlange Handschuhe aus weißem Elastikstoff und ein großes weißes Halstuch, dessen Enden links neben ihren bloßen Brüsten herabhingen. All diese Accessoires betonten ihre sonstige Nacktheit zusätzlich. An den Handgelenken trug sie schwarze Fesselarmbänder, die mittels Karabinerhaken und Ring miteinander verbunden waren. Zusammen mit ihrem modisch weißblond gefärbten Haar, an dessen Ansatz aber schon ihr natürliches Hellblond nachwuchs, war das ein Bild für Götter. Sampson begehrte sie heftig. Sicher, Ndoni zog ihn ebenfalls stark an, und sie war eine feurige Liebhaberin, aber diese junge weiße Schönheit war schon etwas Besonderes. Ndonis Bisexualität störte ihn nicht, im Gegenteil, er genoß es sogar, gemeinsam mit ihr und einer weißen oder asiatischen Sklavin Sex zu haben, und falls es Hershel Gelbfisz gelang, Catriona zu ersteigern, würde er auch mit ihr und Ndoni wilde Sex-Szenen für dessen Jollie-Rogers-Pornofilm machen können. Einstweilen mußte er sich mit Andeutungen begnügen. Allerdings wurmte es ihn, daß Ndoni auch mit Morris Wiener das Bett teilte. Er konnte nicht nachvollziehen, was sie an diesem schlaffen Schnösel von einem Kike fand. Nun ja, vielleicht ließ sich da irgendwann einmal etwas arrangieren.

Er hatte sich inzwischen an den Gedanken gewöhnt, nun auch offiziell ein Gesetzloser zu sein, seit Brugger und dieser griechische Pilot ihn verpfiffen hatten. Bei seinem letzten Aufenthalt auf Hannibal hatte er gerade noch rechtzeitig eine Warnung von seinem Kontaktmann in der Raumflotte erhalten, sonst hätte man ihn schon kassiert. Nun mußte er Wurmlochverbindungen meiden, und sein Schiff konnte er nicht mehr auf Flottenbasen warten lassen. Jetzt zahlte es sich aus, daß er schon früher ein Landegestell nahe der Winedark-Basis hatte bauen lassen, wo er die Snake Eyes, die keine Landestützen hatte, aufbocken konnte, statt sie im Orbit lassen und mit dem Gleiter herunterkommen zu müssen. Mit der Zeit würde er Wartungsgeräte besorgen, und Ersatzteile konnte er aus Orion-Wracks aus dem Krieg bekommen. Am liebsten würde er jedoch Bruggers Acey dafür ausschlachten. Sampsons offizielle Bankkonten im Hoheitsbereich der Solaren Föderation waren leider ebenfalls futsch, aber da er den Großteil seines Geldes auf Konten in Astroel und anderen pavonischen Staaten angelegt hatte, traf ihn das nicht allzu hart. Schlimmer war es für die Männer seiner Besatzung, da diese Dödel nicht so vorausschauend gewesen waren und nur wenig Geld auf sicheren Konten geparkt hatten.

Mittlerweile hatten sie den Strand erreicht, und Sampson ging mit Catriona über den breiten Streifen dunklen Sandes bis nahe ans Wasser, begleitet von den drei robotischen Kameradrohnen, die schon zuvor neben und über Catriona hergeschwebt waren und alles aufnehmen sollten, was jetzt und später mit ihr passieren würde. Er befummelte die Frau noch eine Weile und genoß es, wie sie sich unter seinen Griffen wand. Dabei drehte er sie so nach rechts herum, daß Ndoni, die währenddessen mit ihren beiden Xhankh-Leibwächtern auch über die Stufen heruntergekommen war, sie gut sehen konnte. Dann entfernte er ihren Knebel und trat ihr von hinten gegen die rechte Kniekehle, sodaß sie einknickte und auf die Knie fiel. Anschließend ging er um sie herum, stellte sich vor sie und holte seinen Penis heraus.

„Das wird jetzt noch nicht ganz so ernst, Cat“, sagte er zu ihr. „Ndoni läßt mich noch nicht Ernst machen, und diese Aufnahmen dienen nur als Vorlagenmaterial für eine ‚Vollversion‘ per CGI, falls dein spezieller Verehrer dich doch nicht kriegt. Und falls er dich kriegt, können wir das ja in natura nachholen. Mach‘ jetzt schön den Mund auf, damit das CGI-Programm weiß, wie das aussieht.“

Catriona weigerte sich und wandte ihr Gesicht ab.

Sampson nahm seine Peitsche vom Gürtel. „Du willst doch nicht, daß ich dir damit wehtue? Oder deinen Freundinnen?“ Daraufhin öffnete sie zögernd den Mund, und eine der Kameradrohnen, die sich auf die Seeseite begeben hatten, schwebte ganz nahe heran.

Elonard!“ rief Kaunda scharf.

„Was denn?“

„Laß das! Es reicht!“

„Aber Ndoni…“

„Kein ‚aber‘! Ich kenne doch deine Impulsivität, und du kennst meine Geschäftsprinzipien. Garantierte Lieferung wie bestellt. Und hier habe ich das absolute Sagen. Komm‘ jetzt wieder her.“

„Ndoni, ich schwör‘ dir…“

„Nichts da! Ich warne dich: wenn du ihn reinsteckst, sage ich ihr, sie soll ihn dir abbeißen, und dann kommen Sronkh und Horkh und stechen dich mit ihren Fangbeinklauen ab.“ Die beiden Xhankh, die Translatorchips in den Hörgruben ihrer chitingepanzerten Vorderrümpfe trugen, streckten bei diesen Worten ihre Mantisbeine ein wenig vor.

„Na gut, wenn du meinst…“ Er begann sein Glied wieder einzupacken.

„Ich meine. Geh‘ rein und schnapp‘ dir Calitha oder Callidrome, wenn du dicke Eier hast. Und gib‘ mir die Peitsche und die Schnur, die da aus deiner Hosentasche hängt.“

Murrend gehorchte Sampson und trottete dann den Stufenweg hinauf. Kaunda blieb weiter oben am Strand stehen und betrachtete Catriona, wie sie vor dem Hintergrund der Morgendämmerung und des düsterrot überglänzten Meeres auf dem Sand kniete.

Catriona, die diese Anwandlungen schon kannte, wandte sich ab und blickte auf das Meer hinaus. Nahe dem Horizont konnte sie die Vulkaninsel sehen, von der die schwarze Rauchsäule aufstieg. Vulkaninseln waren fast das einzige Land auf dieser Welt, auf der es viel mehr Wasser als auf der Erde gab. Der Strand, auf dem sie gerade kniete, gehörte zu einer der wenigen größeren Inseln, die von den Kämmen aufgefalteter Gebirge gebildet wurden, wenngleich die unmittelbare Umgebung ebenfalls vulkanischen Ursprungs war.

Rechts oberhalb der Vulkaninsel strahlte Winedarks sonnenwärtiger Nachbarplanet Yemayá. Sehr groß und hell war er, etwa ein Viertel so groß wie Luna von der Erde aus, und gab den rötlichen Schein seiner Sonne wieder. Catriona konnte seine Sichelphase erkennen, was bedeutete, daß er sich seiner unteren Konjunktion zu Winedark näherte und bald zwischen dieser Welt und der Sonne hindurchziehen würde. Daß er so groß erschien, bedeutete selbst bei den geringen Entfernungen in einem Zwergsonnensystem, daß es sich um eine Supererde oder einen Mini-Neptun handeln mußte. Sie hatte auch gehört, daß Yemayá während der unteren Konjunktion einen merklichen zusätzlichen Gezeiteneinfluß auf Winedark ausübte, weshalb Kaunda dem Planeten diesen Namen einer westafrikanischen Meeresgöttin gegeben hatte. Von einem der Piraten hatte sie außerdem die beiläufige Erwähnung aufgeschnappt, daß Winedarks Umlaufperiode neununddreißig Tage betrug. Mit dieser Information allein ließ sich vielleicht nicht unbedingt etwas anfangen, da die Föderation bei den vielen unbedeutenden M-Sternen oft noch keine Vermessung ihrer Planetensysteme durchgeführt hatte und die Übernahme der alten kosmographischen Daten der Lwaong mangels Interesse nur schleppend betrieben wurde. Daß der Pirat diese Angabe so leichtfertig fallengelassen hatte, deutete darauf hin, daß Winedark tatsächlich noch in keiner offiziellen astrographischen Datenbank der Föderation verzeichnet war.

Als ausgebildete Raumfahrerin begann Catriona jedoch weiterführende Überlegungen anzustellen, wenn auch nur, um sich von ihrer Lage abzulenken, denn sie hatte kaum Hoffnung, daß allfällige Erkenntnisse irgendwann von Nutzen sein würden: Wenn Yemayá so massereich war, dann lag bei dem geringen Bahnabstand nahe, daß eine Bahnresonanz zwischen ihr und Winedark bestand, wahrscheinlich 3:2. Zwei kurze Kopfrechnungen ergaben, daß Yemayá eine Umlaufperiode von etwa sechsundzwanzig Tagen haben mußte. Falls Winedarks Sonne nicht allzu weit von Sol entfernt war, bestand durchaus die Möglichkeit, daß ein Planet mit vielfacher Erdmasse und sechsundzwanzig Tagen Umlaufzeit bereits von der irdischen Astronomie aufgespürt worden war, vielleicht sogar schon im einundzwanzigsten Jahrhundert. Ein Abgleich mit der Flugzeit von Krelang hierher konnte eine zusätzliche Eingrenzung ermöglichen, trotzdem diese Flugzeit nicht genau bekannt war, weil Catriona und ihre Mitgefangenen vor der Ankunft in Tiefschlaf versetzt und eine unbekannte Zeit später aufgeweckt worden waren.

Utopische Hoffnungen, dachte sie. Wie wahrscheinlich ist es denn, daß ich jemals wieder freikomme? Niedergeschlagen schaute sie auf das Meer hinaus, über die vom Horizont auf sie zu verlaufende helle Spur rötlicher Lichtreflexe, die Yemayá auf die Wellen warf. Das rote Dämmerlicht und der dunkle Himmel gaben dem Wasser eine eigenartige Färbung, die sie an die Phrase „weindunkle See“ denken ließ, die wohl auch irgendjemanden bei der Namensgebung des Planeten inspiriert hatte. Long as the day in the summertime, deep as the wine-dark sea; I’ll keep your heart with mine, till you come to me. Ihre Augen wurden feucht bei dieser Erinnerung, und gerade in diesem Moment hörte sie Schritte neben sich. Schnell blinzelte sie ihre Tränen weg und schniefte kurz. Dieses Biest sollte das nicht sehen.

„Für dich paßt manchmal wirklich ein Ausdruck aus deiner Muttersprache, Cat“, sprach Kaunda sie an, „nämlich Träumelinchen.“ Sie trat vor sie hin, und Catriona schaute von ihren nackten, braunen Füßen an ihrer schlanken Gestalt entlang hoch bis in ihr Gesicht. „Ein schönes Träumelinchen“, fuhr Kaunda fort, „und Schönheit muß leiden. Weiße Schönheit vor allem.“ Sie ging um ihre Gefangene herum, stellte sich dicht hinter sie, drückte ihren Kopf gegen ihren eigenen Bauch und wühlte mit den Fingern im Haar.

Die beiden Xhankh schritten näher heran, und Catriona betrachtete sie in gruselnder Faszination, die sie beim Anblick dieser Wesen immer empfand: etwa zwei Meter hoch, olivgrün-braun-grau marmoriertes Exoskelett aus Chitin und Kalk, waagrecht liegender Rumpf in abgeflachter, länglicher Eiform mit einer Art Kielwulst an der Unterseite, schmales Kopfende nach vorn weisend, zwei lange, kräftige Laufbeine unter dem Körperschwerpunkt. Vorne hatten sie zwei Fangbeine ähnlich einer Gottesanbeterin, und zwischen diesen und der Mundöffnung mit den komplizierten Freßwerkzeugen waren in bogenförmiger Anordnung vier schlanke, bewegliche Greifgliedmaßen mit mehrgliedrigen Scheren an den Enden angelenkt. Zwei riesige Facettenaugen waren ihre Sehorgane, und deren vordere Ausläufer waren so um das Kopfende nach unten herumgezogen, daß der Xhankh den Boden unmittelbar vor sich und seine Greifglieder im Sichtfeld hatte. Beginnend unter dem hinteren Teil der Augenfelder verliefen an beiden Körperseiten rinnenartige, breiter werdende Mulden nach hinten, die in den Höröffnungen endeten. Vom Hinterende des Rumpfs hing ein gedrungener, nach unten gekrümmter Hinterleib, der segmentiert war und zum Schwerpunktausgleich nach hinten gestreckt werden konnte, wenn die Vordergliedmaßen nach vorn griffen oder eine Last trugen. Soweit Catriona erkennen konnte, trugen die beiden Individuen keine technischen Waffen oder sonstige Geräte außer den Translatoren, die vielleicht auch Kommunikatoren waren.

„Wirst du meine gehorsame Sklavin sein, Jollie, wenn wir zwei jetzt einen kleinen Strandspaziergang unternehmen?“ fragte Kaunda nun in gemessenem, trügerisch sanftem Ton. Catriona schwieg trotzig.

Wirst du?“ bohrte Kaunda scharf nach und riß Catrionas Kopf an den Haaren zurück.

„J-ja… Mistress Ndoni.“

„Gut. Dann machen wir jetzt einen Spaziergang. Horkh und Sronkh, euch beide brauche ich vorerst nicht mehr. Laßt uns jetzt allein, wie besprochen.“ Die Aliens wandten sich schweigend um und stapften zurück zum Stufenweg.

Kaunda zerrte ihre Gefangene nun grob auf die Füße und stieß sie vor sich her, zunächst eine Weile am Strand entlang nach Nordwesten, und ab einer Stelle, wo der Küstenverlauf eine Rechtsbiegung nach Norden in eine schmale Bucht machte, dirigierte sie sie über die breite, ansteigende Sandfläche hinauf zum Waldsaum, wo ein einzelner, knorrig gewundener Baum schräg auf den Strand hinaushing und sich erst etwa zweieinhalb Meter über dem Boden nach oben bog und dann verzweigte. Von dieser Krümmung hing eine Seilschlinge herab. Catriona erkannte die Stelle wieder; hier war sie schon am ersten Tag ihrer bewußten Anwesenheit auf Winedark hergeführt worden. Immer noch wurden die beiden Frauen von den Kameradrohnen begleitet. Beim überhängenden Baum angelangt, hielt Kaunda Catriona an. „So, Jollie, jetzt wird’s Ernst mit dem versprochenen Leiden“, sagte sie zu ihr. „Hier wächst gutes Nesselkraut, und mit dem werde ich dich von oben bis unten streicheln, ehe ich dich peitsche. Das erhöht deine Schmerzempfindung enorm, wie du bald merken wirst.“ Sie strich mit der Peitsche über Catrionas Körper. „Ich werde dich mit über den Kopf erhobenen Händen an diese Schlinge da binden, und dazu muß ich dir die Handfesseln hinten losmachen, damit ich sie vorne wieder zusammenhängen kann. Du wirst keine Schwierigkeiten machen, obwohl du weißt, was mit dir passieren wird. Ist das klar, Sklavin?“

„Ja, Mistress Ndoni.“ Catriona überdachte angestrengt die Möglichkeit, die sich ihr plötzlich zu bieten schien. Ihr war schon zuvor aufgefallen, daß Kaunda keine Waffe trug. Soeben war ihr auch zu Bewußtsein gekommen, daß sie keinen Kommunikator bei sich hatte. Und in einer Gürteltasche an ihrer rechten Hüfte steckte ihr Codegeber, der nicht nur der Schlüssel für die Basis war, sondern mit dem unter anderem auch die Gold Bug aufgesperrt und gestartet werden konnte. Das Raumschiff stand auf der Felsplatte hinter dem Hügel, auf dessen strandseitigem Hang sich der Stützpunkteingang befand, und der Verbindungsweg von der Basis dorthin verlief gewunden durch den Wald. War Kaunda sich so sicher? Konnte es wirklich so leicht sein? Was heißt leicht, dachte sie, ich muß ihr immerhin erst das Ding entreißen und dann nackt durch diesen Wald zum Schiff rennen und es starten, ehe mich jemand abfängt.

Kaunda trat gemächlich hinter sie, als wollte sie sich an ihrer Angst weiden. Aber mit ihren bloßen Füßen kann sie mir durch das Gestrüpp und über die kantigen Lavasteine nicht so schnell folgen, und sie kann ihre Männer nicht verständigen. Catrionas Stiefel waren dagegen recht brauchbar, keine solchen Fußquäler mit hohen Stilettabsätzen, wie sie sie sonst tragen mußte. Ihr fiel ein, daß die Besatzung der Gold Bug gerade irgendeine Sex-Party im Lavatunnel feierte. Beim Schiff würde niemand sein. Ich werd’s mir ewig vorwerfen, wenn ich‘s jetzt nicht versuche

Nun löste Kaunda den Karabinerhaken des linken Fesselarmbands von dem Ring an seinem rechten Gegenstück. „Auf die Knie, und Hände nach vorn“, sagte sie und wollte wieder vor ihr Opfer treten. Catriona tat, als wollte sie dem Befehl Folge leisten, knickte aber mit dem rechten Knie stärker ein, trat mit dem linken Fuß gegen Kaundas Knie und warf sich nach rechts zum Waldsaum hin, wo ein Stück Treibholz lag, das dort bei Flut von der Brandung angeschwemmt worden war. Sie packte es, stützte sich daran hoch und rammte es Kaunda in den Bauch, als diese sich gerade auf sie werfen wollte. Mit beiden Händen griff sie hinter den Nacken ihrer sich stöhnend nach vorn krümmenden Gegnerin, zog sie weiter herunter, rammte ihr das Knie zweimal in den Bauch und warf sie zu Boden. Dann schlug sie ihr mit dem Treibholzstück auf den Hinterkopf. Nachdem sie der Bewußtlosen den Codegeber aus der Gürteltasche gerissen hatte, rannte sie am Waldrand entlang weiter nach Norden in die Bucht hinein, denn sie erinnerte sich, daß dort ein Bachlauf durch den Wald herunterkam, der zur Zeit fast ganz ausgetrocknet war. In dessen Bett würde sie besser vorankommen als durch das Waldgestrüpp, und er würde hoffentlich weit genug zwischen die Hügel hinaufführen, ehe sie nach rechts zum Landeplatz abbiegen mußte.

Catriona erreichte die Bachmündung, verfolgt von den Kameradrohnen. Sie hatte sich inzwischen warmgelaufen, sprang über die Steine und wich verbliebenen Wassertümpeln aus. Die schwächere Schwerkraft von Winedark, die nur wenig über neunzig Prozent der Erdschwere betrug, und die geringfügig höhere Sauerstoffkonzentration machten ihr das Hinaufrennen leichter. Zudem war sie in den Alpen aufgewachsen, wodurch sie eine gute Bergkondition hatte und an eine dünnere Luft angepaßt war. Durch den etwas abgesenkten Luftdruck in den Raumschiffen, in denen sie Dienst versehen hatte, war ihr diese Höhenakklimatisation erhalten geblieben. Am Strand war ihr noch ein bißchen kalt gewesen, aber nun empfand sie die Temperatur als angenehm.

Ein Stück weiter oben machte der Bach einen weiten Schwenk nach rechts, und da es so aussah, als würde er nach einer in der Ferne sichtbaren Linkskurve wieder auf seine bisherige Generalrichtung zurückkehren, kürzte Catriona durch das vor ihr liegende Waldstück ab. Hier drückte ihr die Unheimlichkeit dieses Waldes besonders aufs Gemüt, denn ohne den bläulichen Lichtschein der Eingangskuppel, der den Pflanzen in ihrer Nähe einen lila Anflug gab, waren die Gewächse nur schwärzlich, und das rote Dämmerlicht trug zur unheilvollen Atmosphäre bei. Die Luft wirkte leicht dunstig, wohl durch irgendeine Art Pollen oder Sporen. Am Boden konnte Catriona nicht viel erkennen, und so mußte sie sich bei aller Eile vorsichtig bewegen. Plötzlich schnellte etwas Langes, Dunkles vor ihr weg ins Dickicht, und sie erschrak so sehr, daß sie zur Seite taumelte und beinahe den Codegeber fallengelassen hätte. Geduckt rannte sie weiter auf den lichter werdenden Waldrand zu, fand das Bachbett wieder, hastete über eine schräge Felsplatte in dieses hinunter, rutschte aus, schlug sich das Knie am Stein an und fiel bäuchlings auf eine Kiesbank. Der Codegeber entfiel ihr und flog zwischen zwei Felsbrocken.

Jetzt nur keine Verletzung! Hastig rappelte sie sich auf, hob das Gerät auf und hetzte weiter bachaufwärts. Nach ein paar Windungen erhob sich vor ihr eine gut zwei Meter hohe Felsschwelle, über die das Restwasser als schmales Rinnsal herunterplätscherte. Catriona kletterte darüber hinweg, indem sie ein paar davorliegende Felsblöcke als Aufstiegshilfe nutzte, und als sie sich oben wieder aufrichtete, sah sie zu ihrem Schrecken einen großen, massigen Mann, der von der linken Bachbettseite her auf sie zulief und ihr den Weg abschnitt. Sie erkannte ihn sofort: es war Sampsons Copilot, dieser europide Stirnglatzenhabicht Roehlke, den sie passenderweise Hawk nannten. Verzweifelt sah sie sich nach einer Möglichkeit um, ihm zu entkommen.

Habe ich doch richtig vermutet, daß du hier herauflaufen würdest“, begrüßte er sie höhnisch grinsend. „Und ich sehe, daß du deine Armbänder noch trägst. Das macht es mir leichter, dich zu fesseln.“

„Was willst du?“ fragte Catriona keuchend. Ein Blick nach rechts zeigte ihr, daß sie hier nicht in den Wald flüchten konnte, weil die Uferböschung an dieser Stelle aus steilem, von moosähnlichem Bewuchs bedecktem Fels bestand.

„Dich mitnehmen.“ Er kam mit ausgebreiteten Armen weiter auf sie zu, schon auf ihrer Seite des Wasserlaufes und nur noch ein paar Meter entfernt.

„Wohin?“ Links sah das Ufer ähnlich aus, aber sie hatte auf dieser Seite mehr Platz im Bachbett, um an dem Kerl vorbeizukommen.

„Zur Snake Eyes.“

Was? Weiß Kaunda davon?“

„Die muß nicht alles wissen. Und ihr Schätzchen Elonard auch nicht.“

Das war eine interessante Information. Also weiß bisher noch niemand von den anderen, daß ich hier bin, dachte Catriona. Wenn sie an Roehlke vorbeikommen konnte, hatte sie immer noch gute Chancen. Der Kerl war vermutlich fast doppelt so alt wie sie und nicht gut in Form. Sie nahm den Codegeber in die linke Hand, täuschte einen Durchbruchsversuch nach rechts an, hob mit der Rechten einen Stein auf, warf ihn nach Roehlke und sprang nach links, um an ihm vorbeizurennen.

Beinahe hätte es funktioniert. Der Stein streifte ihren Gegner nur am rechten Ohr, mit dem Stein aufgehobener und mitgeworfener Sand geriet ihm in die Augen und beeinträchtigte ihn, aber nicht genug. Er hechtete sich ihr in den Weg, stieß mit ihr zusammen, packte sie an den Armen und fiel gemeinsam mit ihr um. Catriona fiel auf den Rücken, der Codegeber flog aus ihrer Hand und in den Bachlauf, wo er mitgeschwemmt wurde. Sie hörte ihn über die Felsschwelle hinunterklappern.

NEIN!“ schrie sie verzweifelt.

„Mach‘ dir nichts draus“, sagte Roehlke, während er auf ihr liegend seinen Griff an ihren Armen verbesserte und sich mit seinem Unterleib zwischen ihren Beinen zurechtrückte. „Der hätte dir sowieso nichts genützt. Da war kein gültiger Code drauf. Ndoni hat vorgesorgt, daß ihre Scharade mit deiner Flucht nicht schiefgeht.“

Was?

„Das war alles arrangiert. Es sollte ein Teil von diesem Jollie-Rogers-Porno werden, den dein Verehrer Gelbfisz mit dir produzieren möchte. Du solltest einen Fluchtversuch machen, damit diese Robocams aufzeichnen können, wie du nackt durch den Wald gehetzt und schließlich wieder eingefangen wirst. Deshalb haben sie alles so eingerichtet, daß es für dich so aussieht, als hättest du eine Chance zur Flucht. Ndonis Leute sind überall im Wald postiert, wo du versuchen könntest, zur Gold Bug zu laufen. Auch weiter oben an diesem Bachlauf. Und für den Fall, daß du es trotzdem schaffst, haben sie dir einen Codegeber ohne gültigen Code zugeschanzt. Wahrscheinlich hat er auch eine Peilsenderfunktion. Ndoni hat noch einen zweiten. Du hättest nie eine Chance gehabt.“

Catriona erschlaffte unter ihm, fühlte sich völlig leer. Alles umsonst. Sie hätte es sich denken können. Also wirklich Hershel, dieser Drecksack. Er konnte sie einfach nicht in Ruhe lassen. Nun war ihr auch klar, warum sie diese weißen Stiefel, Strümpfe und Handschuhe hatte anziehen müssen: damit sie in dem schwarzen Dämmerwald auf den Aufnahmen gut zu sehen war.

„Was hast du jetzt mit mir vor?“ fragte sie. Unter dem Gewicht des Mannes drückten sich die Kieselsteine hart in ihren nackten Rücken und Po.

„Ich nehme dich mit zur Snake Eyes. Dort haben meine beiden Kumpels und ich schon heimlich deine fünf Zellengenossinnen und noch drei andere Gefangene hingeschafft. Wir haben nur noch auf dich gewartet; Lou ein Stück weiter westlich im Wald und Khang auf der anderen Seite, falls du nicht hier lang gelaufen wärst. Sobald wir dich an Bord haben, starten wir. Dann werden wir eine Weile Spaß mit euch haben und entscheiden, welche von euch jeder für sich behält; die anderen verkaufen wir. Da gibt es einen Snuffporn-Produzenten, der gut für euch zahlen würde. Wir sind finanziell klamm, und Elonard weigert sich, uns auszuhelfen.“

Catriona spürte, daß sein Glied in der Hose angeschwollen war und gegen ihren Unterleib drückte. „Habt ihr keine Angst, daß Ndoni ab jetzt hinter euch her sein wird und euch irgendwann erledigt?“ fragte sie. „Die ist mit ihrer großen Bande und ihren Verbindungen nicht zu unterschätzen.“

„Die wird schön brav stillhalten und diese kleine Sache auf sich beruhen lassen. Immerhin wissen wir, wo Winedark liegt, und noch ein paar andere Sachen, die rauskommen werden, falls uns etwas passiert. So, genug gequatscht, wir haben nicht unbegrenzt Zeit, bis Ndoni und ihre Leute merken, daß es nicht nach ihrem Plan läuft. Dreh‘ dich jetzt auf den Bauch, damit ich dich fesseln kann, und mach‘ keinen Ärger.“

Er stemmte sich hoch und versuchte Catriona herumzudrehen, aber sie wehrte sich heftig, und nach einer kurzen, aber wilden Balgerei lagen sie fast wieder so da wie zuvor, nur daß Roehlke nun Catriona mit ihrem Halstuch würgte und sich dabei am Boden neben ihrem Hals abstützte statt an ihren Armen. Sie wand sich verzweifelt unter ihm, aber vergeblich. Plötzlich hörte sie ein leises Plumpsen rechts von sich auf dem Kies.

Sie konnte ihren Kopf gerade so weit bewegen, daß sie hinschielen und erkennen konnte, daß es Roehlkes Taschenblaster war, den er offenbar als Zweitwaffe irgendwo hinten unter seiner Jacke getragen hatte und der nun herausgefallen war. Sie tastete mit ihrer rechten Hand danach, bekam ihn richtig zu fassen, winkelte den Arm zu ihrem Gegner hin und drückte ab.

Statt des erwarteten Knalls gab es nur ein dumpfes Verpuffungsgeräusch, begleitet vom kurzen Zischen der Kühlluft aus der Waffe, und statt einer hellen Plasmaflamme aus dem Einschußloch sah sie nur einen schwachen Feuerschein und ein wenig Rauch. Im ersten Moment dachte sie an ein Waffenversagen, aber schon im nächsten Augenblick schnellte Roehlke mit einem lauten Schmerzensschrei hoch – an seiner linken Körperseite war eine glosende Stelle sichtbar, um die herum sein Hemd brannte – und warf sich immer noch schreiend bäuchlings in das Bachrinnsal. Nach Luft ringend setzte Catriona sich auf und riß sich das Halstuch herunter. Gerade rechtzeitig begriff sie ungefähr, was passiert war: bei der extrem kurzen Schußdistanz hatten sich die Laser der Pistole nicht auf den millimeterkleinen Brennpunkt fokussieren können, der für die Blasterwirkung nötig war, und stattdessen einen länglichen Brennfleck mit einer nicht sehr tief reichenden, wenngleich schlimmen Brandwunde darunter erzeugt. Der nach vorn schießende Stoß heißer Kühlluft hatte das verkohlende Gewebe an der Oberfläche verbrennen lassen und den Brand des umgebenden Hemdstoffs angefacht. Noch ehe Roehlke sich fangen und seine Hauptwaffe ziehen konnte, richtete Catriona die kleine Pistole auf ihn und drückte zweimal ab. Diesmal hatten die Schüsse ihre normale Wirkung: je ein Treffer unter dem Halsansatz und hinter dem Kinn durch den zurückgeworfenen Kopf setzten dem Leben des Piraten ein Ende.

Betäubt von dem Erlebnis stand Catriona auf, die Waffe in der herunterhängenden Hand, und starrte auf den Toten, der auf dem Rücken im Wasser lag. Plötzlich kam ihr ein Gedanke: die Snake Eyes! Roehlke mußte einen Codegeber dafür haben, und in dem Schiff waren ihre Freundinnen, und sie konnte damit fliehen! Sofort eilte sie zu der Leiche hin, kniete daneben nieder und spürte bei dem gräßlichen Anblick Übelkeit in sich aufsteigen, auch als verzögerte Reaktion auf den überstandenen Kampf und die Erfahrung, erstmals jemanden getötet zu haben. Heftig würgend erbrach sie ihr Frühstück in das Rinnsal. Nachdem sie ihren Mund mit Wasser gesäubert hatte, durchsuchte sie die Jackentaschen und fand den Codegeber. Diesmal steckte sie das flache Gerät auf der Schenkelaußenseite in ihren linken Strumpf. Den Taschenblaster behielt sie in der rechten Hand.

Sie versuchte sich zu erinnern, wo der Pfad zu Sampsons Landeplatz verlief. Zwei Standardtage zuvor hatte man sie dorthin geführt, um Jollie-Aufnahmen mit ihr und der Snake Eyes zu machen, und sie hatte das Schiff dafür sogar in der Atmosphäre und im Orbit geflogen. Damals hatte die Morgendämmerung aber noch kaum begonnen, und sie hatte in der Dunkelheit nicht viel von der Umgebung des Weges erkennen können. Es war auch noch kein befestigter Weg wie die anderen um Kaundas Basis, sondern nur ein provisorischer Trampelpfad, wo man das niedrige Gestrüpp gerodet und Bäume gefällt hatte. Sie wußte aber, daß er irgendwo links oberhalb von ihr nach Westen, also nach links, verlaufen mußte, wo sie die Hügelkuppe erkennen konnte, hinter der Sampson seinen Landeplatz gebaut hatte. Der Pfad mußte über den Sattel zwischen diesem Hügel und dem größeren Bergmassiv rechts verlaufen, von dem der Bach herunterkam.

Catriona fand eine Aufstiegsmöglichkeit über die linke Uferböschung in den Wald und kletterte dort gerade hinauf, als sie aus dem Wald hinter dem rechten Ufer einen Mann rufen hörte: „Hawk, alles in Ordnung bei dir? Hey, Hawk, sag‘ doch was? Bist du okay?“ Das mußte Khang sein, der dunkle Mischling aus Sampsons Besatzung. Hastig duckte sie sich hinter einen von schwarzen Krautpolstern überwachsenen Felsbrocken, der im Schatten tief überhängender Äste lag, und sah den Mann auch schon über die gegenüberliegende Uferböschung herunterschlittern und zur Leiche hinlaufen. Dort zog er seine Pistole und sah sich in geduckter Haltung um. Mit ein paar Schritten war er an Catrionas Uferseite und spähte in den Wald. Dann holte er mit der Linken seine Poctronic hervor, offenbar um seinen anderen Komplizen Lou Liu anzurufen. Catriona mußte handeln, wenn ihr die Flucht und die Rettung ihrer Freundinnen gelingen sollte. Sorgfältig richtete sie ihr rotes Leuchtkorn auf die Herzgegend des Mannes und brachte die grünen Leuchtpunkte der Kimme auf eine Linie damit, dann drückte sie nach kurzem Zögern ab. In diesem Moment wandte Khang sich jedoch nach rechts, um nochmals bachaufwärts zu schauen, und so schlug der Laserblitz durch seinen nach außen abgewinkelten Oberarm, sprengte den Knochen und brannte sich nicht mehr tief genug in die Brust. Aufschreiend ließ er die Poctronic fallen und krümmte sich zusammen, und ehe er noch seinen Schock überwinden und sich für eine Aktion entscheiden konnte, schoß Catriona noch dreimal auf ihn, dann war ihr kleines Magazin leer. Als er umgefallen war und sich nicht mehr rührte, sprang sie auf, eilte zu ihm hinunter und nahm seinen Blaster, eine schwere Ausführung mit holographischem Optikvisier und der Aufschrift Miroku LPD-35 Gyro an der Seite. Offenbar war das eine kreiselstabilisierte Weitschußwaffe von einer Art, wie ein waffenbegeisterter Pilotenkollege sie ihr einmal bei einem gemeinsamen Schießstandbesuch beschrieben hatte.

Nun war höchste Eile geboten, denn es konnte nicht mehr lang dauern, und Liu würde ebenfalls angelaufen kommen. Catriona hastete wieder die Böschung hinauf und rannte so schnell sie konnte durch den Wald auf den vermuteten Verlauf des Pfades zu.

Bald darauf meinte sie von rechts oberhalb das Brechen von Zweigen und das Rascheln des Unterwuchses unter laufenden Füßen zu hören. „Stehenbleiben!“ schrie jemand, „Stop!“ Sie rannte weiter und änderte die Richtung ein wenig nach links. Ein Laserstrahl blitzte quer vor ihr auf und sprengte Holzsplitter und leuchtenden Dampf aus einem Baumstamm links vor ihr. Der Knall, den sie hörte, stammte nicht nur von dieser Explosion, sondern in geringerem Maß auch von dem schlagartig verbrannten Sporenstaub, der in der Schußbahn des unsichtbaren ultravioletten Strahls verglüht war und zusammen mit der Luftionisierung durch das intensive UV-Licht den Strahl sichtbar gemacht hatte. Bei ihren eigenen Schüssen zuvor hatte sie keinen solchen Effekt bemerkt, aber da hatte sie in Strahlrichtung geblickt, und es war in staubfreierer Luft und hellerer Umgebung gewesen. Wieder zuckte ein Blitz vor ihr auf, diesmal näher und tiefer, und er traf etwas weiter von ihr Entferntes, weit außerhalb ihres Gesichtsfeldes. Verzweifelt steigerte Catriona ihr Lauftempo noch ein wenig; sie hatte nun furchtbare Angst vor Laserwaffen, seit sie gesehen hatte, was diese anrichten konnten. Sie duckte sich unter Ästen hindurch, sprang über Steinbrocken und Wurzelstrünke und wich Baumstämmen immer links herum aus. Ihr Verfolger schien aufzuholen, aber er hatte wohl das Problem, daß er im Laufen nur ungenau schießen konnte und bei Schießhalten Zeit verlieren würde.

Voraus sah Catriona einen uralten Baum mit mindestens zwei Meter dicker Stammbasis auf einem Gewirr krummer Stelzwurzeln, der sich in Mannshöhe in viele dicke, ausladende Äste verzweigte. Dorthin strebte sie nun mit äußerster Kraft, und kurz bevor sie diese Deckung erreichte, ging ein weiterer Schuß so knapp hinter ihrem Kopf vorbei, daß er beinahe ihre Haare versengt hätte. Sie warf sich hinter den Stamm, zielte um dessen jenseitige Rundung herum auf Liu und schoß daneben, weil sie vor Erschöpfung noch am ganzen Körper zitterte. Sofort warf Liu sich hinter einem umgestürzten Baum in Deckung, während Catriona bereits zu Boden gegangen war und unter einer krummen Wurzel hindurch noch einmal feuerte, aber nur das morsche Holz traf. Sie hatte kaum diese Stellung verlassen und sich wieder hinter ihren Baumstamm verzogen, als auch schon Rauch und Dreck dort hochgeschleudert wurden, wo sie eben noch gelegen hatte. Obwohl sie noch völlig außer Atem war, robbte sie zu einer anderen dicken Stelzwurzel auf der rechten Seite, unter der sie zu ihrem Gegner hinüberspähte, gedeckt durch krautigen Unterwuchs, der sie vor dessen Blick verbarg. Während sie so auf dem Bauch lag und all das lebende und tote Pflanzenmaterial unter sich spürte, wurde sie sich ihrer Nacktheit wieder besonders bewußt, und sie fühlte sich schrecklich verwundbar.

Liu blieb ebenfalls hinter seiner Deckung liegen und schoß nur ab und zu an wechselnden Stellen darüber hinweg, um gleich darauf wieder zu verschwinden. „Hey, Catriona“, rief er nach einer Weile, „warum machen wir nicht einen Deal? Du wirfst mir den Codegeber herüber und verziehst dich nach hinten, und ich schnapp‘ mir das Ding und haue mit der Snake ab?“

Catriona schwieg. Nun hatte sie die Bestätigung, daß sie den einzigen Codegeber für die Snake Eyes außer dem von Sampson besaß. Liu stand noch mehr unter Druck als sie, denn wenn Sampson und Kaunda hinter das Komplott von ihm und seinen Kumpanen kamen, ehe er fort war, würde man ihn töten. Wieder feuerte er. Kurz darauf bemerkte Catriona, daß von weiter oben hinter ihm einer der Xhankh herunterkam. Leise und relativ schnell stakste er mit seinen langen Beinen über Hindernisse und Vegetationspolster hinweg und kam von Liu unbemerkt geradewegs auf diesen zu. Seine Mantis-Fangbeine hatte er erhoben und ein wenig auseinandergeklappt, und gerade als er nur noch ein paar Meter von dem Mann entfernt war, knackte etwas unter seinem Fuß.

Liu wälzte sich erschrocken herum und sah das Wesen die letzten paar Schritte auf sich zuspringen. Mit einem Panikschrei hob er seine Waffe und schoß dem Xhankh von schräg unten in den Hinterleib, dann schnellten dessen Fangbeine vor und bohrten sich mit ihren spitzen Vordergliedern in seine Brust. Kreischend vor Schmerz und Entsetzen wand er sich, als die Fangbeine mit ihren scharfen, gezähnten Hinterkanten in ihm arbeiteten, und als sie ihn zum Kopfende des Xhankh hinzogen, streckte er seinen rechten Arm, und es gab noch einmal einen dumpfen Knall und einen Lichtschein. Catriona konnte nicht genau sehen, was passiert war, aber der Xhankh taumelte und ließ sein Opfer fallen, dem eine Hand zu fehlen schien, und aus seinen nicht ganz geschlossenen Mundwerkzeugen hing etwas Blutiges. Ein wenig Rauch drang aus seiner Mundöffnung, und ein durchdringendes Schnarren kam aus seinen Atemöffnungen.

Catriona beobachtete ihn mit einer Mischung aus Grauen und banger Hoffnung. Würde das Biest jetzt umkippen? Sie hatte keine Ahnung von den Lautäußerungen der Xhankh und wußte nicht, was das Schnarren bedeutete, ob es sein Schmerzgeschrei oder etwas anderes war. Sie fragte sich auch, weshalb er hergekommen war. Wegen ihr? Oder wegen der Schüsse?

Der Alien schien sich nun einigermaßen gefangen zu haben, was nicht ausschloß, daß er dennoch tödliche innere Verletzungen hatte und nur vorübergehend von Wundschock und Kampfhormonen aufgeputscht war, wofür seine Spezies aus den Bodenkämpfen des vergangenen Krieges bekannt war. Er machte einige Schritte auf Catriona zu und wurde dann schneller. In heißer Angst sprang sie hoch und wich hinter den dicken Stamm zurück, an den sie ihre Waffe dann anstrich, um dem Xhankh in eines seiner Facettenaugen zu schießen. Das ließ ihn zurücktaumeln und lauter schnarren. Unschlüssig hielt er inne, als ob er davon überrascht worden wäre, daß Catriona bewaffnet war. Sie ging in die Hocke, legte das grüne Leuchtabsehen ihrer Holovisierung auf den Ansatz seines linken Laufbeines und feuerte. Der Strahl schlug in das Gelenk und sprengte das Bein ab. Der Xhankh fiel auf die Seite und schlug wild mit seinen restlichen Gliedmaßen um sich, aber Catriona beachtete ihn nicht mehr und stand auf. Rasch tastete sie nach dem Codegeber – ja, er stak noch in ihrem Strumpf, ein Stück oberhalb des Knies -, dann rannte sie wieder los.

Durch die Äste der hier höher wachsenden Bäume nach oben blickend, fand sie die rötliche Sichel von Yemayá, die ihr die ungefähre Westrichtung anzeigte. Sie hielt nach leicht rechts davon und lief wieder schräg den Hang hinauf. Dabei fragte sie sich, warum der Xhankh von ihrer Anwesenheit gewußt hatte, bis ihr einfiel, daß die um sie herumschwebenden Kameradrohnen ihm das verraten hatten. Er mußte in Kaundas Plan eingeweiht gewesen sein und irgendwo auf dem Weg zum Landeplatz auf sie gelauert haben, bis er als schneller Läufer wegen der Laserschüsse hergeschickt worden war.

Mit Schrecken fiel ihr die Möglichkeit ein, daß die Robocams vielleicht nicht nur aufzeichneten und sie autonom verfolgten, sondern daß auch jemand im Stützpunkt über Monitore zusah. Dagegen sprach, daß der Xhankh von ihrem Blaster nichts gewußt hatte, vor dem man ihn sicher per Translator-Comlink gewarnt hätte. Aber was nicht war, konnte jederzeit noch werden. Sollte sie die Robocams abzuschießen versuchen? Dazu mußte sie anhalten, und sie wagte auch nicht, mit Schüssen auf sich aufmerksam zu machen, solange sie nicht sicher war, daß man ihr ohnehin auf der Spur war. Sie rannte weiter.

Bald darauf hörte Catriona hinter sich wieder Laufgeräusche. Sie schaute zurück und sah zwischen den Bäumen den zweiten Xhankh auf sie zukommen, über Hindernisse springend und dichteren Baumgruppen ausweichend. Sie blieb stehen und schoß auf ihn, traf ihn auch in den Rumpf, aber außer einem kurzen Zucken zeigte er keine Reaktion und rannte weiter. Zwei weitere Treffer hatten ähnlich wenig sichtbare Wirkung. Einer Panik nahe wandte Catriona sich wieder zur Flucht, stolperte dabei über eine Wurzel und ließ ihre Waffe fallen. Schluchzend vor Angst hob sie sie wieder auf und hastete weiter, auf eine dichte Ansammlung von Bäumen zu, zwischen deren Gewirr von krummen Stämmen und Ästen sie sich flüchtete.

Ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit, offenbar in jener irrationalen, nichtmenschlichen Berserkerwut, in die seine Spezies verfallen konnte, wenn eng mit ihnen verbundene Kampfkameraden getötet wurden, stürmte der Xhankh heran, warf sich gegen den Schutzkäfig aus Bäumen, der Catriona umgab, und stach mit seinen Fangbeinen in ihre Richtung, ohne sie jedoch zu erreichen. Er wich zurück und versuchte es an einer anderen Stelle nochmals, wieder erfolglos. So sehr er einerseits Menschen durch seinen Körperbau im Laufen überlegen war, war er dadurch auch zu sperrig und unflexibel, um in den Wirrwarr eines solchen Gehölzes zu kriechen. Wieder und wieder versuchte er es in seiner furchtbaren Raserei, ließ seine Fangbeine vorschnellen, rüttelte an Ästen und versuchte sie auseinanderzureißen, und da die Baumgruppe nur einen Durchmesser von ein paar Metern hatte, mußte Catriona ständig in Bewegung bleiben und an die jeweils gegenüberliegende Seite zurückweichen, um vor ihm sicher zu sein. Zwischendurch feuerte sie immer wieder auf ihn, entmutigt durch die scheinbar geringe Wirkung der Schüsse und durch die kaum sichtbaren Plasmaflammen, die sie erzeugten. Was sie nicht wußte, war, daß die Laserblitze im Chitinpanzer zwar größeren Widerstand fanden als in weichem Gewebe, in das unelastische Material aber auch nur millimeterdünne Kanäle brannten, durch die nur wenig von dem dahinter erzeugten Dampf und Plasma entweichen konnte. Die Folge war eine stärker nach innen gerichtete Sprengwirkung mit entsprechender Gewebezerstörung, die schließlich doch nicht mehr durch den Kampfrausch kompensiert werden konnte. Der Xhankh begann zu schwanken, konnte die Bewegungen seiner Glieder nicht mehr koordinieren und brach zusammen. Schwer atmend beobachtete Catriona ihn, während sein Schnarren leiser wurde, und konnte wieder klarer denken.

Ihr Blick fiel auf die Robocams, die immer noch lautlos um die Baumgruppe schwebten, und ihr kam die Erkenntnis, daß sie inzwischen sicher durch die Kameraaugen von jemandem in der Basis beobachtet wurde, denn der zweite Xhankh hätte sie sonst kaum so direkt finden können. Sofort schoß sie die ihr nächste Drohne ab und feuerte auf die zweite, die zu spät auswich und rauchend auf den Waldboden fiel. Die dritte stieg rechtzeitig über die Baumwipfel auf.

Mit einem letzten Blick auf den still daliegenden Xhankh sprang Catriona aus ihrer Deckung, erspähte Yemayá und lief wieder in ihrer ursprünglichen Richtung weiter. Dabei spürte sie den beruhigenden Druck des Codegebers immer noch an ihrem linken Oberschenkel. Jetzt kam es darauf an, das Raumschiff zu erreichen, ehe Kaunda und Sampson ihr zuvorkamen. Mit verzweifelter Anstrengung steigerte sie ihr Lauftempo. Voraus meinte sie eine Schneise lichterer Abstände zwischen den Stämmen zu erkennen, und tatsächlich stieß sie dort auf den Pfad, der in spitzem Winkel von rechts hinten kam und nach links vorn zum Landeplatz führte. Nun hatte sie fast keine Steigung mehr zu bewältigen, und auf dem eingeebneten, festeren Boden kam sie deutlich schneller voran. Sie befand sich inzwischen in einem Runner’s High und rannte nur noch, ohne über irgendetwas nachzudenken. In der Schneise zwischen den Wipfeln sah sie vor sich Yemayá wie einen Leitstern leuchten.

Ihr fiel eine Stelle aus einem der Lieder ein, die Ron immer gern gehört hatte, eines, das sehr gut zu ihrer Situation paßte:

There’s a sign in the desert that lies to the west
Where you can’t tell the night from the sunrise
And not all the king’s horses and all the king’s men
Have prevented the fall of the unwise.

Sie hoffte inbrünstig, daß nun niemand mehr den Fall von Verbrechern wie Kaunda, Wiener und Sampson verhindern konnte. So viel hing nun von ihr ab: ihre eigene Freiheit, ihr Lebensglück und ihr nacktes Leben, und dasselbe auch für ihre Freundinnen und ihre anderen Leidensgenossinnen in der Snake Eyes, die Aufdeckung dieses Piratennests, und vielleicht noch mehr. Ich darf nicht scheitern. Sie setzte alles auf diese eine entscheidende Karte, sie selbst war diese Karte für ihre Freundinnen, und sie konnte aus diesem Spiel nicht aussteigen, ehe es zu Ende war.

Oh, they think it will make their lives easier
And God knows, up till now it’s been hard
But the game never ends when your whole world depends
On the turn of a friendly card.

Die Sattelhöhe war nun erreicht, und der Weg senkte sich auf der anderen Seite in einer weiten Rechtsbiegung zu einem kleinen Talkessel hinunter, der ein uralter vulkanischer Nebenkrater sein mochte. Dort hatte Sampson seinen Landeplatz gebaut, und dort lag auch sein Schiff auf dem Landegestell aufgebockt. Catriona sah über die niedrigen Bäume des in den Krater abfallenden Hanges hinweg den graugrünen Umriß von hinten. Sie hielt kurz an, um zu überlegen, ob sie weiter dem Weg auf seinem S-förmigen Schwung folgen oder über den Hang abkürzen sollte. Die Füße taten ihr weh, aber nun war es nicht mehr weit. Da hörte sie von rechts hinten ein leises Sirren und Rauschen, das rasch näherkam. Sie wandte sich nach dem Geräusch um und sah einen weinroten Flugwagen tief über die Baumwipfel weiter oben am Hang dahinziehen. Es war ein sogenannter Dual Phaeton, ein offener Viersitzer mit zwei hintereinander gestaffelten, schrägen Windschutzscheiben und transparenter Bugkuppel, die den vorne Sitzenden gute Bodensicht ermöglichte. Die Maschine kurvte nach links, wurde langsamer und kam fast genau auf Catriona zu.

Morris Wiener spähte mit seinem Fernglas über den Rand der Sitzkuhle nach links vorn, wo er eine helle Gestalt zu sehen gemeint hatte. Tishak, der den Gleiter flog, tat dasselbe, nur daß er kein Fernglas benutzen konnte. Rechts vorne saß Ndoni; sie trug ein buntes, turbanähnlich gewickeltes afrikanisches Kopftuch, um den Verband über der Platzwunde an ihrem Hinterkopf zu verdecken. Auch sie schaute nach links. Der Gleiter sank tiefer, wurde immer langsamer. Plötzlich bekam Wiener die Gestalt wieder in sein Blickfeld. „Tishak, da ist sie! Hinter dem großen Felsen bei der Wegbiegung!“

Catriona duckte sich an die Schräge des Felsens, an den sie sich lehnte, und fühlte sich schwach und elend vor Enttäuschung. All diese Anstrengungen, die Angst, die Gefahren und Leiden ihrer Flucht – sollte das nun alles vergeblich gewesen sein, weil die anderen ihr so knapp zuvorgekommen waren? Das durfte nicht sein! Der Gleiter kam immer näher, verringerte Höhe und Geschwindigkeit und schwebte vor dem oberen Beginn des Abhangs auf einem Kurs, der in geringer Entfernung an ihr vorbeiführen würde. Sie hob ihren Blaster, stützte ihre Arme am Stein auf und zielte durch die Holo-Optik. Deren grüner Leuchtring umfaßte den Kopf des Piloten, der zu ihr herunterschaute… der Gleiter war jetzt nur wenig über ihrer Höhe, zog in etwa dreißig Metern Entfernung sehr langsam vor ihr vorbei… da drückte Catriona ab.

Ndoni Kaunda beugte sich auf ihrem Sitz nach vorn, um an ihrem Piloten vorbei nach links unten schauen zu können, wo die Ausreißerin sein sollte. Im nächsten Moment krachte es neben ihr fürchterlich, und aus Tishaks rechter Schläfe schoß eine Fontäne aus Dampf, Blut und Hirnmasse. Der Mann schrie im Reflex kurz auf, dann sackte er über der Mittelkonsole zusammen und fiel mit dem Kopf auf das Steuerhorn.

Kaunda spürte mehr, als sie durch ihre von heißem Blut und Hirn verklebten Augen sehen konnte, wie der Gleiter nach rechts vorn kippte, absackte und Tempo aufnahm. „Ndoni – tu‘ was!“ schrie Morris von hinten. Vergeblich blinzelte sie, dann wischte sie sich die klebrige Masse aus den Augen. An die zwischen den Vordersitzen befindlichen Hebel für Auftrieb und Schub kam sie vorerst nicht heran, denn da lehnte der tote Tishak darauf und drückte sie nieder beziehungsweise nach vorn. Sie griff an seinen Kragen und riß seinen Kopf zurück, wobei sie nur kurz über das zerplatzte und herausgesprengte linke Auge erschrak, dann packte sie das blutige Steuerhorn, holte es an seinem Schwenkarm bis zum Einrasten auf ihre Seite herüber, zog den Gleiter damit hoch, um die fehlende MET-Hubleistung wenigstens teilweise auszugleichen, und korrigierte die Querlage. Dabei tastete sie schon mit den Füßen nach den Seitensteuerpedalen, die als einziges Steuerelement beidseitig vorhanden waren und mit dem Einrasten des Steuerhorns auf ihrer Seite aktiviert wurden. Sie streiften einige Wipfel und schafften es knapp über den Warpfeldgenerator der Snake Eyes hinweg, dann schlingerten sie auf den Wald am niedrigeren, jenseitigen Kraterrand zu. Kaunda hoffte, die Maschine noch darüber hinwegziehen zu können, um über dem abfallenden Gelände dahinter wieder Spielraum für den Versuch zu haben, doch noch an den Auftriebshebel heranzukommen, aber der Gleiter geriet vorher in den überzogenen Flugzustand, sackte durch und kippte nach vorn. Kurz dachte Kaunda noch an die Anticrashautomatik und ob diese noch rechtzeitig die manuelle Steuerung ignorieren und durch maximalen Auftrieb und Bremsschub das Schlimmste verhindern würde, dann krachten sie zwischen die Bäume.

Catriona atmete auf, nachdem der Gleiter im Wald verschwunden war. Auf direktem Weg lief sie über den steilen Hang in den Krater hinunter, so schnell sie es hinsichtlich Verletzungsgefahr zu riskieren wagte. Am Platzrand angekommen, beobachtete sie den gegenüberliegenden Waldrand. Der Platzbelag bestand aus irgendeinem Synthetikmaterial, mit dem der Krater ausgegossen worden war. Vor sich sah sie das Heck der Snake Eyes mit den Ausstoßdüsen der Konverter, den Heckwaffen und dem riesigen, über zwanzig Meter hoch aufragenden Pilz des Warpantriebs-Hauptgenerators darüber. Sie bewegte sich noch im Schutz der Vegetation so, daß die tief herunterhängende rechte Kinetic-Kanonengondel und Teile der Stützkonstruktion ihr Sichtdeckung gegen die Richtung gaben, wo der Gleiter liegen mußte. Dann holte sie den Codegeber aus dem Strumpf, atmete noch einmal tief durch und rannte zur Kanonengondel. Dort duckte sie sich hinter der am tiefsten herunterreichenden Beule der Gondel, die fast den Boden berührte, klappte den Codegeber auf und wählte Rampe öffnen. Tatsächlich senkte sich die Einstiegsrampe, bis sie den Boden berührte, und die Beleuchtung im Einstiegsschacht ging an. Noch einmal spähte Catriona zur anderen Platzseite hinüber, versuchte den Knoten in ihrem Bauch zu ignorieren, hörte das Blut in ihren Ohren rauschen. Jetzt!

Sie duckte sich unter dem Hinterende der Gondel durch, richtete sich auf und sprintete auf die Rampe zu, den Codegeber in der linken Hand und die Pistole in der rechten. Kurz vor der Rampe traf sie etwas Kleines, das sie gerade noch im letzten Augenblick flüchtig wahrnahm, wie ein fliegender Faustschlag in den Bauch. Die Hauptwirkung des Dings bestand aber in dem heftigen Elektroschock, der sie von der Körpermitte aus durchzuckte und sie wie eine schlaffe Puppe im Lauf zusammenbrechen ließ.

Von den folgenden ein, zwei Minuten bekam sie kaum etwas mit. Halb bewußtlos lag sie auf dem Bauch, keuchend, orientierungslos, gepeinigt von Schmerzen, Übelkeit und Kreislaufschwäche. Schnelle Schritte kamen näher, begleitet von Stimmen. Zwei Männer und eine Frau. Am Rande ihres Bewußtseins registrierte sie, wie ihre Handfesseln wieder hinter ihrem Rücken aneinandergehakt wurden. Als man ihr gleichartige Fesseln an die Fußgelenke schnallte, wurde sie wieder etwas klarer. Das Flimmern vor ihren Augen ließ nach, und als sie den Kopf hob, sah sie vor sich das Ding liegen, das sie erwischt hatte: eine Art Miniaturversion eines Lifting-Body-Gleiters mit stumpfem Vorderteil von dreieinhalb bis vier Zentimetern Durchmesser und einer Kameralinse in der Nasenmitte, nach hinten in eine flache, stark gepfeilte Deltaform mit hochgebogenen Seitenflossen übergehend. Das ganze Geschoß war etwa zwanzig Zentimeter lang. Vor den Flügelvorderkanten hingen schlaff zwei metallische Kontaktpeitschen. Ein Mann, der eine gewehrartige Schleudervorrichtung trug, bückte sich und hob es auf. Hinter sich hörte sie Ndoni Kaunda mit Wiener über die Anforderung eines zweiten Flugwagens reden.

Catriona fühlte sich sterbenselend. Alles, was sie seit diesem Morgen durchgemacht hatte, war umsonst gewesen. Das einzige, was sie erreicht hatte, war die Verhinderung der Dinge gewesen, die Hawk und seine Kumpane mit ihr und den Frauen in der Snake Eyes vorgehabt hatten. Allerdings war das nur ein Aufschub bis zu ihrer Versteigerung durch Kaunda, denn ihre Käufer würden die meisten dieser Dinge ebenfalls mit ihnen tun, nur Art und Zeitpunkt ihres Endes waren offen. Ihr kam ein Stück aus einem weiteren der Lieder aus The Turn of a Friendly Card in den Sinn, die sie durch Ron kennengelernt hatte:

You gave the best you had to give
You only had one life to live
You fought so hard you were a slave
After all you gave
There was nothing left to save.

You’ve got nothing left to lose
No, you’ve got nothing left to lose
Who’d wanna be standing in your shoes?

Tiefe, trostlose Bitterkeit überwältigte sie. Tränen quollen aus ihren Augen, flossen an ihrer Nase entlang und tropften zu Boden. Schluchzend ließ sie ihren Kopf auf den Boden sinken.

„Eine gute Jagd hast du uns geliefert, Jollie“, sprach Kaunda sie von links an und stieß sie mit dem Fuß in der Nierengegend an.“ Immer noch dieses Scheiß-Spiel, dachte Catriona voller Hass. „Ich hätte dir gar nicht soviel zugetraut“, fuhr Kaunda fort. „Allerdings bin ich dennoch not amused, wenn du verstehst, was ich meine. Dein Angriff am Strand war überraschend hart; ich hatte gedacht, du würdest mir bloß den Codegeber aus der Tasche reißen, mich vielleicht umstoßen und davonrennen. Es war auch eine teure Jagd: mein bester Raumschiffpilot tot, Horkh und Sronkh ebenfalls, mein Gleiter zerstört…“ Das ist immerhin auch etwasihre beiden Scheusale tot, und mit Sampsons Besatzung insgesamt vier Piraten. Catriona wälzte sich auf die Seite, um besser atmen zu können, und dabei sah sie, daß die überlebende Kameradrohne in ihrer Nähe schwebte und sie immer noch aufnahm.

Kaunda setzte ihr einen Fuß auf die Hüfte, stützte sich mit dem Ellbogen auf ihrem Knie ab und stemmte die andere Hand in ihre eigene Hüfte. „Auf der anderen Seite hast du den Plan von Elonards Ratten vereitelt und den Diebstahl meiner Ware verhindert,“ sprach sie weiter. „Das wiegt rein vom Geldwert her den Verlust des Gleiters mehrfach auf. Und die unerwartet dramatischen Jagdszenen ab deiner Begegnung mit Hawk werde ich gewissermaßen als Bonus Track zu einem Extrapreis verkaufen. Elonard müßte dir eigentlich auch dankbar dafür sein, daß du ihm sein Schiff gerettet hast, allerdings glaube ich dennoch nicht, daß er dich dafür mit Dank überschütten wird. Aber all dieses Bilanzieren ist ohnehin müßig, denn Onkel Hershels Drehbuch sieht auf alle Fälle vor, daß du bei Sonnenaufgang für deinen Fluchtversuch bis zur Bewußtlosigkeit gepeitscht wirst. Mit Nesselkrautbehandlung.“

Catriona schaute erschrocken zu ihr auf und ließ den Kopf dann wieder sinken.

„Zu schade für dich, Jollie. Beinahe hätte es geklappt.“ Kaunda konnte es nicht lassen, ihre seelischen Wunden auch noch zu salzen. Sie stieß Catriona mit dem Fuß wieder in Bauchlage, kniete sich neben sie und begann ihre Arme oberhalb der Ellbogen zusammenzubinden, während sie weitersprach. „Nachdem du mich niedergeschlagen hattest, habe ich eine Weile gebraucht, um mich zum Stützpunkt zurückzuschleppen. Dann habe ich mich verarzten lassen. Nachzusehen, wo du dich herumtreibst, hatte keine Dringlichkeit, denn ich dachte, du könntest ja ohnehin nirgends hin. Erst als meine Streckenposten nachfragten, wo du bleibst, habe ich mir die Bildübertragung der Drohnen angesehen; da hattest du gerade den armen Horkh erledigt. Ich habe dir dann Sronkh nachgeschickt, der bereits in der Nähe war. Leider bemerkte ich zu spät, daß er da schon diesen Blutrausch hatte. Er hörte nicht mehr auf meine Anweisung, dich nur zu beschatten und nicht in dein Laserfeuer zu laufen. Wenn er an dich rangekommen wäre, hätte er dich zerfleischt, und wenn es seine letzte Tat im Leben gewesen wäre. Zu der Zeit wußte ich immer noch nicht, wieso du überhaupt so weit drüben unterwegs warst. Ich habe mir dann die Aufzeichnungen im Rücklauf bis zu Hawks Auftritt angesehen, während Morris dich weiter beobachtete, und erst dann wußten wir Bescheid. Wir sind dann schnell mit dem Gleiter gestartet, und den Rest kennst du. Die Anticrashautomatik hat unseren Sturz zwischen die Bäume ausreichend gemildert, daß wir unverletzt blieben, auch wenn wir kurz benommen waren. Wir sind gerade schnell genug aus dem Wrack gekommen, um mit Shamsuls Spielzeug am Waldrand in Stellung zu gehen, ehe du deinen Schlußlauf versucht hast. Wenn du es nur eine halbe Minute früher zum Schiff geschafft hättest, wärst du jetzt damit schon in der Luft.“

Von oben wurde das Fluggeräusch eines Gleiters hörbar, der gleich darauf vor dem linken Flügel der Snake Eyes landete. Es war ein weiterer Viersitzer, diesmal ein schwarzer mit geschlossener Kabine. Sampson stieg aus, nahm von Wiener Roehlkes Codegeber entgegen und ging dann zu Catriona hin. Mit einer Hand an ihren Handfesseln und der anderen in ihrem Haar zerrte er sie auf die Füße, und so führte er sie in Richtung des Gleiters, wobei er sie zwang, mit ihren gefesselten Beinen vorwärts zu hüpfen. Auf halbem Weg drehte er sie zu seinem Schiff hin, richtete sie auf und zeigte auf die beiden roten Würfel am Vorderrumpf, der von der schon merklich helleren Morgenröte beleuchtet wurde. „Siehst du das, Jollie? Snake Eyes! Das bedeutet, man verliert seinen ganzen Wetteinsatz. So wie du heute. Los, weiter geht’s!“ Er ließ sie wie zuvor zum Heck des Gleiters hüpfen, wo Wiener schon die Heckklappe geöffnet hatte. Gemeinsam legten sie sie bäuchlings in den Gepäckraum, dann zog Kaunda eine Schnur durch die Ringe ihrer Hand- und Fußfesseln und zurrte ihr die Hände und Füße damit über ihrem Po aneinander. Nachdem die Heckklappe zugeworfen worden war, hörte sie, wie die Türen geöffnet und wieder geschlossen wurden, und spürte das Schwanken des Gleiters unter dem Gewicht der einsteigenden Leute. Dann hob die Maschine ab.

*     *     *

Neun Stunden später stand Catriona in gespreizter X-Haltung auf der Hügelkuppe über dem Stützpunkteingang, der aufgehenden Sonne zugewandt, von der gerade das obere Drittel über dem Horizont zu sehen war. Sie war völlig nackt, bis auf das Halsband, das ihren körperlichen Zustand überwachte und anzeigen würde, ob sie Bewußtlosigkeit nur simulierte. Obwohl ihr Körper von einem lauen Seewind umschmeichelt wurde, bibberte sie. Zwischen ihre Zähne war ein Weichholzstab geklemmt, der mit einer Schnur um ihren Nacken fixiert wurde. Von ihren Fesselarmbändern spannten sich Stricke zu einem Reck über ihr, und ihre Fußfesseln waren an Ringe gekettet, die in der Pflasterung des weiten, kreisrunden Platzes verankert waren. Ihre bloßen Füße standen auf hohen Klötzen, sodaß sie über die Köpfe der um sie Versammelten hinwegschauen konnte. Um den Rand des Gipfelplatzes waren in gleichmäßigen Abständen Pfähle angeordnet, vor denen Catrionas Mitgefangene knieten, alle ebenfalls nackt und geknebelt, die Hände über den Köpfen an die Pfähle gebunden. Kaunda inszenierte das Ganze als große Show, alles nach Vorgaben von Onkel Hershel. Im Inneren dieses Kreises standen erwartungsvoll die Piraten und eine Anzahl von Gästen, die drei Stunden zuvor mit einem Raumschiff gelandet waren und einer Vereinigung namens New Bohemian Club angehörten, und mit Ausnahme von Kaunda, Wiener und Sampson trugen sie verschiedene Arten von Gesichts- oder Kopfmasken. Jeder hatte eine vielschwänzige Peitsche in der Hand.

Catriona schaute zwischen den beiden vor ihr befindlichen Pfählen mit Corlissa und Madoline hindurch auf das Meer hinaus, über das eine breite, rote Lichtbahn zur Sonnenscheibe hinlief. Die Morgenröte war von intensiverem Rot, aber lichtschwächer als auf der Erde, und weiter oben ging der Himmel jenseits der rot leuchtenden Wolken in ein dunkles, schwärzliches Blau über. Die Sonne, die gut doppelt so groß erschien wie Sol von der Erde aus, leuchtete mild genug, um direkt hineinzuschauen, und hoch über ihr stand Yemayá. Catriona schätzte den Winkel zwischen diesem Planeten, der Sonne und dem Horizont auf etwa siebzig bis fünfundsiebzig Grad. Wir befinden uns also ungefähr zwischen dem fünfzehnten und dem zwanzigsten Breitengrad, dachte sie. Nord, weil die Sonne hier im Westen auf- und untergeht und Yemayá links über der Sonne steht. Sie versuchte sich verzweifelt von ihrer Angst vor dem Kommenden abzulenken. Zunächst nahm sie sich deshalb vor, während der Auspeitschung an etwas Schönes zu denken, verwarf das aber wieder, weil sie befürchtete, daß sie dieses Schöne später immer damit verbinden würde.

Letzte Vorbereitungen wurden abgeschlossen, und dann begann die grausame Aufführung. Catriona konnte sich später nicht mehr erinnern, beim wievielten Schlag sie ohnmächtig geworden war.

Fortsetzung:  Teil 3

Anhang des Verfassers:

Nachfolgend habe ich Infolinks und Videos zum obigen Kapitel gesammelt, als erstes die Infolinks in der Reihenfolge, wie die Begriffe in diesem Teil vorkommen:

66 G. Centauri, Ein Planet von Proxima Centauri, Sea Fever von John Masefield, in dessen deutscher Übersetzung die Stelle „Nichts will ich als ein hohes Schiff / und den weisenden Stern in der Höh‘“ vorkommt; Brauner Zwerg, Gliese 570D, Konjunktion (Astronomie), Holographic Weapon Sight, Snake Eyes (Begriff aus dem Würfelspiel)

Und hier die Videos, als erstes Alan Parsons Project, The Turn of a Friendly Card:

Kottans Kapelle mit Kansas City (Playback einer Aufnahme von Brenda Lee aus dem Jahr 1961):

Loreena McKennitt, Penelope’s Song (Long as the day in the summertime, deep as the wine-dark sea…):

Alan Parsons Project, Nothing Left To Lose:

*     *     *

Neue Kommentarpolitik auf „Morgenwacht“: Wie bereits hier unter Punkt 1 angekündigt, am Schluß dieses Kommentars wiederholt als Absicht geäußert und in diesem Kommentar endgültig festgelegt, werden neue Kommentatoren nicht mehr zugelassen und sind die Kommentarspalten nur noch für die bereits bekannte Kommentatorenrunde offen.

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