Die byzantinischen Kräfte hinter der türkischen Politik

Blaue Moschee

Von Steve Sailer, übersetzt von Deep Roots. Das Original The Byzantine Forces Behind Turkish Politics erschien am 19. Juni 2013 in Taki’s Magazine.

Wenn ich mir die Nachrichten von Protesten in Istanbul ansehe, werde ich an damals erinnert, als ich die Dienste eines türkischen Privatdetektivs benötigte.

Ich war in der Türkei und mußte mir die Antwort auf eine wichtige persönliche Frage beschaffen.

Ich hatte es über all die zuständigen Kanäle versucht und am Telefon viele fruchtlose Stunden mit sehr netten türkischen Kundendienstvertretern verbracht, die so hart sie konnten an der Beantwortung meiner Frage arbeiteten. Sie waren – auf die charakteristisch türkische Weise – höflich, besorgt und wollten hilfreich sein.

Sie waren auch nicht sehr wirksam. Die Türkei ist kein Land, das um das Prinzip der Datentransparenz herum errichtet wurde. Stewart Brands altes Cyberspace-Mantra „Information wants to be free“ ist nicht die Art von Idee, die einem Türken automatisch einfallen würde. Stattdessen will Information gehortet und nur von Angesicht zu Angesicht weitergegeben werden.

Dann klopfte es an meiner Tür, und ich wurde mit einem älteren Herrn bekanntbemacht. Er sprach kein Englisch, aber er wurde als einer beschrieben, der in der „Security“ gearbeitet hatte. (Das Wort wurde in solcher Weise artikuliert, daß ich hören konnte, daß es großgeschrieben wurde.) Er hatte, wie hinzugefügt wurde, nahe Verwandte, die gegenwärtig in der Security arbeiteten.

Keine weitere Erklärung wurde angeboten. Verdutzt antwortete ich, daß ich, während ich dieses Unterstützungsangebot sehr schätzte, jede vorstellbare Behörde angerufen hatte und sie die Antwort auf meine Frage einfach nicht wußten. Daher sähe ich nicht, wie irgendwer irgendwas herausfinden könnte.

Nein, wurde mir noch einmal, etwas langsamer, erklärt: Dieser Mann war in der Security. Schreiben Sie einfach auf dieses Stück Papier, was Sie wissen müssen, und er wird die Antwort besorgen.

Ein paar Stunden später kehrte er mit genau dem zurück, was ich hören wollte, bis auf ein paar Dezimalstellen.

Ich fragte den Übersetzer: „Wieso weiß er das?“

„Sicherheitscomputer.“

Ich kehrte aus der Türkei heim, beeindruckt von der Respektabilität der Bewohner, der malerischen Schönheit, den vernünftigen Preisen (da sie aus der Europäischen Union ferngehalten worden war, weil sie nicht gar so europäisch war, wich die Türkei der Euro-Kugel aus, die die rivalisierende griechische Volkswirtschaft niederstreckte) und der Allgegenwart der Vergangenheit. Vor allem erkannte ich, daß ich keine Ahnung davon hatte, was in der Türkei hinter verschlossenen Türen vor sich ging. Das Land ist wirklich byzantinisch, kompliziert und undurchsichtig.

Es ist außerordentlich schwierig, sich eine Analogie zur amerikanischen Geschichte auszudenken, die etwas Licht auf die türkische Politik seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts werfen würde.

Nun gut, versuchen Sie es damit: Stellen Sie sich vor, daß 1908 die fortschrittlichsten Denker von Cambridge, Massachusetts und Greenwich Village die U.S. Army übernehmen. Sie verlegen schließlich die Hauptstadt nach Omaha und benennen das Land in Midwestern Republic um. Aber in den vier Fällen, wo das Land jemanden wählt, der ein wenig christlicher als ein unitarischer Universalist ist, inszeniert die Armee einen Staatsstreich.

Schließlich setzen sich die Mittelwestler gegen die Armee durch. Um ihre lange vereitelte Dominanz allen unter die Nase zu reiben, ordnet die Midwestern Christian Party dann an, daß alle Bars in New York City um 10 Uhr abends schließen, was die New Yorker zum Protestieren auf den Times Square treibt.

Klärt das alles auf?

Nein, ich schätze, das tut es nicht.

Aber darum geht es irgendwie. Je mehr ich über die Vergangenheit der Türkei lernte, desto mehr erkenne ich, wie wenig ich weiß. Die alte, absonderliche Welt zentrierte sich um Konstantinopel, das Caput Mundi [Haupt der Welt] des Mittelalters.

Byzanz wurde 330 n. Chr. von Kaiser Konstantin in Konstantinopel umbenannt. Er wählte es sowohl wegen seiner strategisch überlegenen Lage am Bosporus, der Europa von Asien trennt, als neue Hauptstadt des Römischen Imperiums aus, wie auch wegen seiner taktisch verteidigungsfähigen Lage am Goldenen Horn. Napoleon, kein geringer Beurteiler von Geopgraphie, sagte: „Wenn die Erde ein einziger Staat wäre, dann wäre Istanbul ihre Hauptstadt.“

Nachdem die osmanischen Türken es schließlich 1453 eroberten, regierte das umbenannte Istanbul ihren riesigen Herrschaftsbereich. Als das einst dynamische osmanische Reich langsam zum „kranken Mann Europas“ verfiel, wurde es zur Welthauptstadt des Verschwörungstheoretisierens.

Türken bewundern eine gute Verschwörungstheorie. Sie stehen nicht wirklich auf Ockhams Rasiermesser. Der klügste Kerl im Raum ist nicht derjenige mit der einfachsten Erklärung, sondern derjenige, dessen Idee die meisten Windungen hat.

Vor ein paar Jahren verhaftete der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan Hunderte Offiziere des Militärs unter der Anschuldigung der Teilnahme an einer riesigen Verschwörung namens Ergenekon zum Sturz der Herrschaft seiner islamischen Partei. Die Militärs beteuerten unter Protest ihre Unschuld, aber viele in der Türkei schienen das Gefühl zu haben, daß es, nachdem Erdoğan gegen die Generäle intrigierte, dumm von den Generälen gewesen wäre, sich nicht gegen ihn zu verschwören.

Oder bedenken Sie ein historisches Beispiel. Sie haben bemerkt, daß manche Leute von den Freimaurern besessen sind, was komisch erscheint. Warum die Freimaurer statt der Elche oder der Shriner? (Nun, da gibt es dieses Augapfel an der Spitze der Pyramide auf der Dollarnote…)

Aber im Osmanischen Reich waren Freimaurerlogen tatsächlich Zentren des säkularen Modernismus und von revolutionären Intrigen gegen den Sultan. Warum? All diese Jahre des Erlernens geheimer Arten des Händeschüttelns hielten von schneller Infiltration durch die Geheimpolizei ab. (In der englischsprachigen Welt finden wir Verschwörungstheorien um die Freimaurer komisch, weil die Freimaurer, wie Ben Franklin und George Washington, mehr oder weniger gewannen.)

Nachdem viel von den politischen Manövern des Imperiums innerhalb von Logen ausgeführt wurde, können die Historiker natürlich nur raten, was wirklich geschah. Aber es ist klar, daß die faszinierende osmanische Hafenstadt Salonika der führende Zugangsweg für störende westliche Ideen in das stagnierende Reich war. Salonika liegt so weit westlich, daß es seit 1912 die griechische Stadt Thessaloniki gewesen ist.

Die berühmte Revolution der Jungtürken, die ihren Ursprung 1908 in Salonika hatte, modernisierte die Dynastie. Aber sie half auch dabei, die Osmanen in die tumultreichen eineinhalb Jahrzehnte zu stürzen, aus denen der formidable salonikische General Mustafa Kemal Atatürk das Land schließlich herausholte, indem er das Osmanische Reich zum nationalistischen Staat Türkei umgestaltete.

Die unerwartete jungtürkische Übernahme der Regierung in Istanbul wurde von der New York Times am 6. September 1908 mit der Schlagzeile gemeldet: „HOW THE TURKISH REVOLUTION ARRIVED: Salonikan Freemasons and Young Turks Who Won Over the Army“ [„Wie die türkische Revolution ans Ziel gelangte: Salonikische Freimaurer und Jungtürken, die gegen die Armee gewannen“].

Die Times erklärte, daß für die Partei der Jungtürken „ihre Basis das Freimaurertum ist, das in den letzten drei Jahren in der Türkei außerordentlich zugenommen hat. Die Freimaurer von Salonika, deren bloße Existenz bis dahin ein tiefes Geheimnis war…“ (Der Bericht der Times enthält die zunehmend verblüffenden Untertitel: „AKTIVER DR. NAZIM NEY: Ein weiterer Nazim Bey wird zum Informanten und führt den Staatstreich überstürzt herbei, indem er Major Enver Bey zu verraten sucht.“ Wie ich sagte, dort geht es kompliziert zu.)

Salonika war eine multi-ethnische und multireligiöse Stadt, wobei sephardische Juden während des Großteils der Jahrhunderte, nachdem Ferdinand und Isabella die Juden 1492 aus Spanien vertrieben, eine relative und oft eine absolute Mehrheit der Bevölkerung stellten. Eine bedeutende modernisierende Elite in Salonika (bis sie im frühen 20. Jahrhundert nach Istanbul übersiedelten) waren die krypto-jüdischen Anhänger des falschen Messias Sabbatai Zevi aus dem 17. Jahrhundert.

Ja, ich weiß, daß sich das anhört, als würde ich verrücktes Zeug über falsche Messiasse und Krypto-Juden schwafeln, aber die Rolle sowohl der „Dönme“ als auch öffentlicher Juden bei der Schaffung der modernen Türkei wird von jüdischen Wissenschaftlern des 21. Jahrhunderts zunehmend akzeptiert.

Das ist nicht immer so gewesen. 1971 veröffentlichte der jüdische Historiker Elie Kedourie einen verächtlichen Text mit dem Titel „Jungtürken, Freimaurer und Juden“, indem er über den geheimen Brief des britischen Botschafters in Instanbul an den Vizekönig von Indien im Jahr 1910 über die „judeo-freimaurerische und jungtürkische Verschwörung“ geiferte.

Die jüdische und krypto-jüdische Verwicklung in den Aufstieg der Jungtürken aus Salonika ist für jüdische Historiker schwierig, weil die Jungtürken, die in weiterer Folge das Osmanische Reich während des Ersten Weltkriegs regierten, die Massenvertreibungen ihrer armenischen Untertanen aus ihrem traditionellen Heimatland nahe der Grenze des feindlichen Russischen Reiches befahlen. In den Schrecken von 1915 wurden riesige Zahlen von Armeniern getötet.

Diese tragische Kette von Ereignissen, in denen anfänglich reformistische gute Absichten entsetzlich schiefgingen, scheint ziemlich repräsentativ dafür zu sein, wie die Welt zu oft funktioniert. Aber dies wäre schwierig mit der herkömmlichen Meinung zu vereinbaren, die Juden als gänzlich machtlose Opfer der Geschichte statt als Teilnehmer im Spiel wie alle anderen darstellt.

In den letzten Jahren jedoch sind jüdische Historiker, die weniger um das Schüren antisemitischer Verschwörungstheorien besorgt sind, mitteilsamer über jüdische und krypto-jüdische Einwirkung im Nahen Osten gewesen. Zum Beispiel erklärt das 2009 in der Stanford University Press erschienene Buch The Dönme: Jewish Converts, Muslim Revolutionaries, and Secular Turks des Historikers Marc David Baer der UC Irvine:

Die Dönme halfen dabei, Salonika in eine kosmopolitische Stadt zu verwandeln und förderten die neuesten Innovationen in Handel und Finanzwesen, Stadtreform und moderner Bildung. Sie wurden schließlich zur treibenden Kraft hinter der Revolution von 1908, die zum Sturz des osmanischen Sultans und zur Gründung einer säkularen Republik führte.

Diesem Trend zu größerer Offenheit sollte applaudiert werden, Information will doch frei sein, richtig?

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Siehe auch:

Dönmeh: Die judeo-islamischen Wendehälse der Türkei (Übersetzung des englischen Wiki-Artikels über die Dönme[h])
Juden und Türken von Hervé Ryssen
Warum der Westen in Libyen intervenierte: War dies eine Überraschung? von John Graham, worin erwähnt wird, daß die Mutter von Nicolas Sarkozy eine sephardische Jüdin aus Saloniki war.

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